Session 2: Jüdische Geistesgeschichte

10.00-12.15 Uhr | Casino 1.802

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10.00
Isaak Markus Jost und seine Bedeutung als Gelehrter und Lehrer

Jens Paulsen (Jüdische Religionsphilosophie)
Isaak Markus Jost und seine Bedeutung als Gelehrter und Lehrer
In: Prof. Dr. Christian Wiese, Jüdische Geistesgeschichte in Frankfurt im 19. und 20. Jahrhundert und im Kontext der Frankfurter Universitätsgeschichte, Katholische Theologie, SoSe 2014.

Isaak Markus Jost (1793-1860) hat sich auf unterschiedlichen Gebieten hervorgetan und sich so in die Jüdische Geistesgeschichte Frankfurts eingeschrieben. Bekannt ist er heute vor allem wegen seiner Tätigkeit als Historiker. In den Jahren 1820-28 verfasste Jost eine neunbändige Geschichte der Israeliten, 1832 folgte eine weitere Gesamtdarstellung, die Allgemeine Geschichte des jüdischen Volkes in zwei Bänden. Es handelt sich hierbei um die ersten derartigen Darstellungen überhaupt.

Trotz seines bedeutenden Beitrags zu historiographischen Forschung sah Jost selbst sich zeitlebens aber vor allem als „Lehrer und Erzieher“. Von 1835 bis 1860 unterrichtete er am Philanthropin in Frankfurt. Jost, der Teil der jüdischen Reformbewegung war, vertrat ein aufgeklärtes, humanistisches Bildungsideal: eine umfassende und vielseitige Bildung sollte seines Erachtens nicht nur bestimmten Gesellschaftssschichten, sondern der gesamten Bevölkerung zuteil werden. Hieran knüpfte er eine Hoffnung, die politischer Natur war. Für Jost war die Erziehung sowohl der jüdischen als auch der nicht-jüdischen Bevölkerung im Sinne von Humanismus und Aufklärung die notwendige Voraussetzung für die Integration der Juden, die jahrhundertelang ihr Schicksal als diskriminierte Minderheit akzeptiert hatten, in eine Gemeinschaft freier und gleichberechtigter Staatsbürger. Nicht zuletzt aus dieser Vision, die gut 70 Jahre nach Josts Tod schlimmstmöglich scheiterte, speiste sich sein pädagogisches Engagement.

10.20
Bertha Pappenheim

Annika Christoph, Nadia Sophie Westerwald (Jüdische Religionsphilosophie)
Bertha Pappenheim
In: Prof. Dr. Christian Wiese, Jüdische Geistesgeschichte in Frankfurt im 19. und 20. Jahrhundert und im Kontext der Frankfurter Universitätsgeschichte, Katholische Theologie, SoSe 2014.

„Unter Helfen verstehe ich natürlich keine Hilfe in Sinne von Wohltätigkeit, sondern verstehe darunter Schutz, Rat, Förderung und das Zugeständnis aller rechtlichen und politischen Mitteln, deren jeder Mensch, Mann oder Frau, zur Aufrechterhaltung seiner physischen und sittlichen Existenz bedarf.“ - so Bertha Pappenheim 1901 (zit. nach Fogel, Heidi/Noemi Staszewski: Zum Leben und Wirken Bertha Pappenheim, Neu-Isenburg 2006, S. 1.)

Im Rahmen des Vorrtrags wird die 1859 geborene Bertha Pappenheim, Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes, vorgestellt. Sie setzte sich unter anderem für die Emanzipation der jüdischen Frau, den Schutz der Armen und das Einhalten der jüdischen Tradition ein. Auseinandersetzungen mit Frankfurter Größen, wie die Martin Bubers ging sie dabei nicht aus dem Weg. Ein Lebenswerk unter dem Motto „Schutz den Schutzbedürftigen und Erziehung den Erziehungsbedürftigen“. (zit. nach Heubach, Helga: Initiativgruppe Bertha Pappenheim, Neu-Isenburg 1995, S. 1.)

10.40
Dr. Jakob Horovitz: Eine Frankfurter Stimme im „Babel-Bibel-Streit“

Michael Himmelreich (Jüdische Religionsphilosophie)
Dr. Jakob Horovitz: Eine Frankfurter Stimme im „Babel-Bibel-Streit“
In: Prof. Dr. Christian Wiese, Jüdische Geistesgeschichte in Frankfurt im 19. und 20. Jahrhundert und im Kontext der Frankfurter Universitätsgeschichte, Katholische Theologie, SoSe 2014.

Anfang des 20. Jahrhunderts lösten die von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Vorträge über „Babel und Bibel“ des Assyrologen Friedrich Delitzsch über seine Erkenntnisse aus der Forschung zur altorientalischen Religionsgeschichte und deren Konsequenzen für die Theologie eine heftige Debatte – den sog. „Babel-Bibel-Streit“ – aus. Durch diese Vorträge, in denen Delitzsch in Gegenwart des deutschen Kaisers die Originalität und den sittlichen Wert der Hebräischen Bibel bestritt, sah die jüdische Gemeinschaft ihr religiöses und kulturelles Selbstverständnis sowie ihre Anerkennung als eigenständige und gleichberechtigte Religion in Frage gestellt. Das Projekt widmet sich dieser Debatte im Spiegel einer Schrift des orthodoxen Frankfurter Rabbiners Dr. Jakob Horovitz (1873-1939) mit dem Titel „Babel und Bibel – Randglossen zu den beiden Vorträgen Friedrich Delitzschs“, die im theologie- und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt wird.

11.10
Die „Verdeutschung der Schrift“ durch Martin Buber und Franz Rosenzweig

Annette Weihrauch-Preiß (Jüdische Religionsphilosophie)
Die „Verdeutschung der Schrift“ durch Martin Buber und Franz Rosenzweig: Warum? Wozu? Für wen?
In: Prof. Dr. Christian Wiese, Jüdische Geistesgeschichte in Frankfurt im 19. und 20. Jahrhundert und im Kontext der Frankfurter Universitätsgeschichte, Katholische Theologie, SoSe 2014.

Anfang 1925 fragte der junge, bis dahin unbekannte Verleger Lambert Schneider bei Martin Buber an, ob er sich vorstellen könne, eine Übersetzung des Alten Testaments vorzubereiten, mit der er sein Verlagsprogramm eröffnen wolle. Buber gewann seinen zunächst sehr skeptischen Freund Franz Rosenzweig zur Mitarbeit und sagte zu. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser:“ - so werden schließlich die beiden ersten Verse des Buches Genesis lauten, vertraut und eigenartig fremd.

Buber und Rosenzweig wollten nicht „ins Deutsche übersetzen“, es ging ihnen um eine „Verdeutschung der Schrift“ auf der Basis des hebräischen Originals. Auf Grundlage der Forschungsliteratur und mittels der Analyse eines kurzen Textbeispiels wird mehreren Fragen nachgegangen: Was ist der Unterschied zwischen einer einfachen Übersetzung und der „Verdeutschung“? Welche Kriterien entwickelten die beiden Intellektuellen? Was machte das Anliegen so dringend, dass Franz Rosenzweig unter den furchtbaren Bedingungen seiner Erkrankung - er war am Ende seines Lebens vollständig gelähmt und diktierte mit Hilfe des Augenaufschlags - bis zu seinem Tod 1929 fast täglich daran arbeitete? Was war der Impetus Martin Bubers, über die Zeit der Shoa hinweg bis zum Abschluss des Werkes 1963 an diesem Projekt festzuhalten?

11.30
Analyse bisher unbekannter Vorlesungs- manuskripte Martin Bubers (1935)

Ansgar Martins, Julie Grothgar (Jüdische Religionsphilosophie)
Judentum und Christentum: Eine Analyse bisher unbekannter Vorlesungsmanuskripte Martin Bubers (1935)
In: Prof. Dr. Christian Wiese, Jüdische Geistesgeschichte in Frankfurt im 19. und 20. Jahrhundert und im Kontext der Frankfurter Universitätsgeschichte, Katholische Theologie, SoSe 2014.

Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer Analyse von Vorlesungsmanuskripten Martin Bubers vor und kontextualisieren deren Inhalte historisch und werkimmanent . Die genannten Vorlesungen drehen sich um das Verhältnis von Judentum und Christentum. Sie wurden zu Beginn der dreißiger Jahre (bis 1935) im Frankfurter „Freien Jüdischen Lehrhaus“ gehalten.

Die sachliche Relevanz ergibt sich aus derjenigen Bubers für die Frankfurter Universität, seiner zuvor (1933) niedergelegten Professur und der Stellung des „Lehrhauses“ als nicht-universitärer Einrichtung mit universitärem Anspruch in Frankfurt. Damit wird inhaltlich (mit dem Verhältnis von Juden und Christen) wie historisch (mit der heiklen Lage jüdischer Bildungsstätten in einem bereits aggressiv antisemitischen gesellschaftlichen Kontext) ein Thema mit denkbar großer geistiger und geographischer Nähe zur Frankfurter Universitätsgeschichte angeschnitten.

11.50
Das Frankfurter jüdische Bürgertum und sein Einfluss auf die Gründung der Universität

Pascal Balló (Geschichte)
Das Frankfurter jüdische Bürgertum und sein Einfluss auf die Gründung der Universität
In: Dr. Torben Giese, Jüdische Stifter und die Stiftungsuniversität Frankfurt, Historisches Seminar, WiSe 2010 bis SoSe 2014.

Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main war seinerzeit die erste und einzige freie, liberale und tolerante Hochschule im damaligen Kaiserreich. Dieser Konstituierungsprozess ist vor allem auf das Frankfurter jüdische Bürgertum zurückzuführen, das seine Stiftungen oder Schenkungen oftmals an die Bedingung knüpfte, dass bei der Besetzung der Lehrstühle der Grundsatz der konfessionellen Gleichberechtigung gewahrt bleiben müsse. Zudem wurde mehrfach ausdrücklich – wohl um sich für etwaige jüdische Professuren einzusetzen – auf einen Vertretungssitz im Großen Rat und/oder Kuratorium insistiert und es wurde ebenso die Wahrung der Mitbestimmungsrechte des Kuratoriums bei den Lehrstuhlbesetzungen als Bedingung gestellt.

Der Vortrag beleuchtet im Besonderen den Zusammenhang zwischen freier, liberaler und toleranter Konstituierung der Universität Frankfurt am Main und dem Frankfurter jüdischen Bürgertum.