Liepes Beitrag zur Altgermanistik

In seiner Forschung widmete sich Liepe neben der Theatergeschichte schwerpunktmäßig der Literatur des 18. Jahrhunderts sowie  Schiller, Hebbel und der Rosseau-Rezeption. Besonderen Raum, durchaus auch als sein „Lebenswerk“ zu bezeichnen, nimmt hier die Deutung der Dichtung Hebbels und ihre geistesgeschichtliche Einordnung ein. In Aufsätzen zur Jugend Hebbels stellt Liepe diese „als Zeit ernster Selbstbildung an der romantischen Naturphilosophie Schellings und G. H. Schuberts und der geistigen Auseinandersetzung mit dem Naturalismus L. Feuerbachs“ [1] dar. Bei seiner Dissertation ,Das Religionsproblem im neueren Drama von Lessing bis zur Romantik‘ ist besonders die Anwendung der geistesgeschichtlichen Methode seines Lehrers Dilthey, bei dem Liepe in Berlin Philosophie studiert hatte, hervorzuheben.

In seiner Habilitationsschrift befaßte sich Liepe, im Gegensatz zu seinen sonstigen Forschungsinteressen, allerdings mit einem altgermanistischen Thema. Er untersuchte die Werke  Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, deren Übertragungen aus den französischen chansons de geste Anfang des 15. Jahrhunderts, die er als Beginn des Prosaromans in deutscher Sprache verstand. Noch in den 1990er Jahren, anläßlich einer Tagung zu Elisabeth, würdigte der Veranstalter Liepes außergewöhnliche Forschungsleistung: „Alle neuere Forschungsgeschichte zu den Übersetzungen Elisabeths aus dem Französischen hat ihren Ausgang genommen und muß  ihn auch heute noch nehmen von dem erratischen Block, den die Untersuchungen des bedeutenden Philologen Wolfgang Liepe, die 1920  als Ergebnis einer Hallenser Habilitationsschrift erschienen, errichtet haben. Wer sich in der germanistischen Forschungslandschaft der Zeit um den ersten Weltkrieg auch nur ein wenig auskennt weiß, wie kraftvoll die Arbeit Liepes den damals üblichen Standard philologischer Qualifikationsarbeiten nicht nur erreichte, sondern wohl auch überstieg.“ [2]

Dies zeigt insbesondere Liepes Auseinandersetzung mit der seinerzeitigen Forschung, die er sowohl in dem Kontext der Politik wie der altgermanistischen Methodologie diskutiert. Vehement kritisiert er,   dass „gerade in jüngster Zeit der geschichtliche Tatsachenverhalt verdunkelt worden [sei], indem man unser Gebiet zum Tummelplatz kultur-politisch-tendenziöser oder ästhetischer Konstruktion machte“. [3] Insbesondere geht Liepe auf die Thesen von Richard Benz und Oskar Walzel ein. Dabei spricht er sich dagegen aus, Walzels „Methode der wechselseitigen Erhellung der Epochen“, welche auf der Verwendung kunstgeschichtlicher Grundbegriffe basiert, zur literaturgeschichtlichen Einordnung einzusetzen, [4] und kritisiert auch die  „Überschätzung der deutschen Volksbücher und der neuromantischen Verherrlichung ihrer nationalen Eigenart“ [5] durch Benz, den er befangen von „national kulturpolitischer Tendenz“ wähnt. [6] Liepes für die damalige Germanistik ungewöhnlicher überlieferungsgeschichtliche Ansatz, der insbesondere auch den europäischen Kontext mit einbezog, fand allerdings den Beifall der Gutachter. So schreibt Philipp Strauch, „dass der Verfasser der ‚Deutsch-Französin, der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken‘, eine ‚eindringende Untersuchung‘ gewidmet habe. Er gebe ein umfassendes Bild ihrer ‚literarhistorischen Bedeutung‘, halte nach allen Seiten ‚Ausschau‘ und erschließe ‚neue Ausblicke‘“. [7] Mitzubedenken ist dabei, daß die Habilitationsarbeit wie das Gutachten in dem Jahr eingereicht bzw. geschrieben worden sind, in dem Deutschland in Versailles den Friedensvertrag unterzeichnet hatte, dessen Bedingungen selbst von dem sozialdemokratischen Ministerpräsident Philipp Scheidemann als derartig unannehmbar empfunden wurden („Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“), daß er aus Protest sein Amt niederlegte. Angesichts der in der Folgezeit auch innenpolitisch immer stärker instrumentalisierten Wahrnehmung des Versailler Vertrags als „Schmachfrieden“ wird Liepes grenz- und kulturüberschreitender Ansatz ihm keine Freunde mehr eingetragen haben. 

 

Janica Kuhr

 


[1] Friedrich Wilhelm Wodtke, Wolfgang Liepe (1888–1962). Zum 75. Geburtstag am 27. August 1963. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 4 (1963), S. 233–242, hier S. 241.

[2] Wolfgang Haubrichs, Kurze Forschungsgeschichte zum literarischen Werk Elisabeths. In: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen. Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs und Hans-Walter Herrmann unter Mitarbeit von Gerhard Sauder (Veröffentlichung der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung ; 34). St. Ingbert 2002, S. 17–40, hier S. 17.

[3] Wolfgang Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und  Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Halle a. d. Saale 1919, Vorwort.

[4] Ebd., S. 82.

[5] Wodtke (Anm. 1), S. 234

[6] Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (Anm. 3), Vorwort.

[7] Gerhard Sauder, Wolfgang Liepe. Erinnerung. In: Zwischen Deutschland und Frankreich (Anm. 2), S. 41–47, hier S. 44.