Heidelberg, im September 1935
Zwei Jahre lang habe ich mich im Schutz des Frontkämpferprivilegs gewähnt, das mich vor dem Verlust meines Amts stets bewahrte. Zwei Jahre des Bangens und Hoffens! Aber nun ist das Unvermeidliche doch und mit unumkehrbarer Härte eingetreten. Der Radikalschlag der Nürnberger Gesetze lässt mich diesmal in keiner noch so kleinen Lücke Unterschlupf finden. Sofern kein Wunder geschieht, wird meine Zeit an der Universität Heidelberg mit dem 31. Dezember beendet sein.
Doch längst schon ist nichts mehr so, wie es war: Die ständige Sorge um mich bringt Herta bei Nacht um den Schlaf, während der Albtraum tagsüber Gesetz um Gesetz andauert. Sie sieht blass und zerstreut aus und die Unbekümmertheit von einst ist ihr aus dem Gesicht gewichen. Mich plagen die Gedanken an die bevorstehende Leere, die sich zusehends mit einem Gefühl der Ungewissheit paart. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll!
Vor einigen Monaten erhielt ich aus London unaufgefordert einen Fragebogen der jüdischen Hilfsorganisation Academic Assistance Council, die deutschen Emigrationswilligen bei der Arbeitssuche im Ausland behilflich ist. Aber welch Argwohn überkam mich, als sie wissen wollten, wann ich das Deutsche Reich zu verlassen gedächte: „Gehen Sie nach Sowjetrussland, Südamerika, Fern-Ost, Tropen?“ Ich kam mir vor wie eine Jaffa-Orange, wie ein jüdisches Exportgut, das in einer Kiste verstaut in die Ferne verschifft werden sollte. Habe ich womöglich vorschnell geurteilt?
Die Aggressionen gegenüber den Juden nehmen jedenfalls spürbar zu und es graut mir bereits, wenn ich an das denke, das da noch kommen mag… was ist, wenn wir am Ende unser Hab und Gut in überstürzter Eile zurücklassen müssen? Ich erwäge es, den Universitätsrektor Wilhelm Groh zu bitten, meine Lehrtätigkeit bereits einstellen zu dürfen, sobald der neue Ordinarius eintrifft.
(Hausmann 2008: 244; Sellin 2006: 438; der fiktive Tagebucheintrag variiert u.a. Briefpassagen aus der Korrespondenz mit Vossler)