Der »Kramer Stuhl«

von Lena Martin

Generationen von Frankfurter Studenten war der »Kramer Stuhl« kein Begriff. Der Stuhl war einfach ein Möbelstück, auf dem man im Studium eben saß. Erst mit dem Auszug aus den Gebäuden auf dem Bockenheimer Campus und dem Umzug auf den Campus Westend erlangten die Möbel Kultstatus. Dies gilt insbesondere für den Stuhl, der zum »Kramer Stuhl« und zum gesuchten Sammlerobjekt wurde. Und das, obwohl Kramer ihn nicht einmal selbst entworfen hatte. Umso mehr ist der Begriff damit ein Zeichen für die Aneignung durch eine Gemeinschaft.

Der Architekt Ferdinand Kramer (1898-1985) wurde 1953 vom damaligen Rektor Max Horkheimer mit der Planung für den Neubau der Universität in Bockenheim beauftragt. Als Direktor des Universitätsbauamtes entwarf und baute Kramer zwischen 1956 und 1967 insgesamt 23 Gebäude für die Frankfurter Universität. [Anm. 1] Funktionalität und Flexibilität waren Prämisse und Ziel zugleich, um einen nachhaltigen und anpassungsfähigen Raum für die schnell wachsende Universität zu schaffen. Das erste Gebäude, das diesen Prinzipien folgte, war das 1960 eingeweihte Philosophicum. Durch die Stahlskelettkonstruktion sollte die Raumaufteilung den Anforderungen entsprechend angepasst werden können. [Anm. 2]

Kramers Konzept umfasste nicht nur die architektonische Hülle, sondern auch die Innenausstattung, die von reduzierten Möbeln bis zum Kleiderhaken reichte. [Anm. 3] Teilweise griff er dabei auf Objekte von Möbelfirmen zurück, die er durch eine farbliche und materielle Anpassung an seine Entwürfe modifizierte. [Anm. 4] So entstanden Bauten und Möbel von hohem Wiedererkennungswert. Der Seminarstuhl aus einem grau lackierten Stahlrohgestell mit schwarzen Sitz- und Rückenflächen aus furniertem Sperrholz war der am häufigsten vorzufindende Gegenstand auf dem gesamten Campus. Für das Gesamtkonzept wurde er mit dem Neuentwurf eines »Zweisäulentisches« zu einer Einheit zusammengefügt. [Anm. 5]

Mit dem Umzug auf den Campus Westend verabschiedete sich die Goethe Universität von Kramers Bauten und Möbeln und ließ sie Neuem weichen. Jedoch wurden die Möbel und Einrichtungsgegenstände Kramers danach zu gesuchten Stücken, die in den neuen Büros inzwischen wie Trophäen behandelt werden. Der einfache Seminarstuhl ist zum »Kramer Stuhl« geworden.

Es zeigt sich gerade im häufig verwendeten Begriff »Kramer Stuhl«, dass den Objekten eine doppelte Aneignung zuteil wurde. Zunächst eine materielle, kompositorische Aneignung durch Ferdinand Kramer, der eine namentliche Aneignung retrospektiv durch die Nutzer folgte. Der »Kramer Stuhl« wurde zum Symbol für den Campus Bockenheim.

Den »Kramer Stuhl« als Erinnerungsort der Goethe Universität zu lesen, lässt einerseits die Erinnerungsformen in den kommunikativen und kulturellen Gedächtnissen von unterschiedlichen Gemeinschaften hervortreten, andererseits zeigen sich dabei die fließenden Übergänge zwischen den verschiedenen Gedächtnissen. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis, das sie ebenso bestimmt. Der »Kramer Stuhl« besitzt nicht nur die Fähigkeit, die Erinnerungen einer Gemeinschaft und ihr kommunikatives Gedächtnis aufzurufen, sondern er steht darüberhinaus zeitgleich in unterschiedlicher Funktion in zwei kulturellen Erinnerungsrahmen – als Archivalie und als Ausstellungsobjekt. Diese Vieldeutigkeit ist der Tatsache geschuldet, dass Objekte selbst, gerade wenn ihnen eine gemeinschaftliche Gedächtnisrelevanz zugesprochen wird, zu Medien des Gedächtnisses werden können. [Anm. 6]

Im kleineren Rahmen der Universität fand der »Kramer Stuhl« Eingang in das kommunikative Gedächtnis durch seine haptische Verwendung und sprachliche Aneignung. Seit und mit dem Umzug verstärkt sich sein Kultstatus unter Studenten und Mitarbeitern zunehmend. Aleida Assmann spricht das Phänomen eines Kultstatus jenen Dingen zu, die im Begriff sind zu verschwinden und im selben Moment persönliche Erinnerungen hervorzurufen vermögen. [Anm. 7] Das Teilen eines Kultes impliziert nicht nur die Existenz einer spezifischen (Erinnerungs-) Gemeinschaft, sondern es schafft sogar einen Rahmen, in dem Kommunikation stattfindet.

Demgegenüber kommt dem »Studio Kramer«, in dem das Universitätsarchiv Möbel und Gegenstände konserviert [Anm. 8], die von Ferdinand Kramer entworfen bzw. eingesetzt wurden, die Funktion als unbelebtes Speichergedächtnis zu. Dort werden Dinge konserviert, die im Alltag nicht mehr benötigt werden, die aber dennoch bedeutsam sind für die Geschichte und Identität der Organisation. Nach Aleida Assmanns Unterscheidung ist auch dieses Archiv als Speichergedächtnis ein Element des kulturellen Gedächtnisses, da mit der Archivierung des Objektes »Kramer Stuhl« die Institution Goethe Universität Fragmente der Vergangenheit einlagert und damit speichert. Eine museale Präsentation holt den „Kramer-Stuhl“ in Bezug auf die historiografische Universitätsdarstellung wieder hervor.

Auch für die Stadt Frankfurt am Main, damit in einem über die Universität hinausreichenden Rahmen, wächst die Bedeutung Ferdinand Kramers für das kulturelle Gedächtnis der Stadtgemeinschaft. Sichtbar wird dies etwa an der Ausstellung, die das Museum für Angewandte Kunst ihm im Sommer 2014 widmete. Unter dem Titel »Das Prinzip Kramer« wurden Kramers Arbeiten von 1919 bis 1983 präsentiert. [Anm. 9] Auf einem Podest stehend – die Funktionalität des Universitätsmobiliar durch Stapelung vorgeführt – ist der Seminarstuhl auratisches Ausstellungsobjekt, Dokument einer Schaffensphase des Architekten, die in Bezug auf seine Tätigkeit am »Neuen Frankfurt« gezeigt wurde, sowie verdinglichte Vergangenheit. Dass der Entwurf auf die Firma Eron zurückgeht, diese im kommunikativen Gedächtnis der Goethe Universität nahezu unbekannte Tatsache, ist in diesem Kontext eine relevante Information, während der Titel »Kramer Stuhl« im Begleitheft der Ausstellung lediglich als »von manchen« gebrauchte Bezeichnung angeführt wird.

In beiden kulturellen Erinnerungsrahmen, im Museum für Angewandte Kunst der Stadt Frankfurt und im »Studio Kramer« der Goethe-Universität, sind oder werden bewusst konstruierte Narrative von Geschichte und Vergangenheit bewahrt, die für die jeweiligen Gemeinschaften einen sinn- und identitätsstiftenden Charakter übernehmen können und den »Kramer Stuhl« als Symbol aktivieren. Die zeitgleiche Existenz in kommunikativen und kulturellen Gedächtnissen schließt sich ebenso wenig gegenseitig aus wie die unterschiedlichen Zuschreibungen in den universitären und städtischen kulturellen Gedächtnissen.

Am »Kramer Stuhl« lässt sich exemplarisch beobachten, wie stark sich die unterschiedlichen Rahmen nicht nur stetig zueinander, sondern auch ineinander verschieben. Die besondere Bedeutung des »Kramer Stuhls« für die Universität und für die Universitätsgeschichte kann sich auch in Zukunft weiter verändern, wenn er beispielsweise durch den Abriss des Campus Bockenheim als Fragment einer Vergangenheit begriffen und als Symbol sowie verdinglichte Vergangenheit der Universität aktiviert wird.

Kramerstuhl
Foto: Markus Häfner

Informationen zur Veranstaltung

Dozentin: PD Dr. Barbara Wolbring
Veranstaltungsart: Seminar
Semester: SoSe 2013
Fachbereich / Institut: Philosophie und Geschichtswissenschaften (FB 08), Historisches Seminar


1 Hansen, Astrid: Die Frankfurter Universitätsbauten Ferdinand Kramers. Überlegungen zum Hochschulbau der 50er Jahre, Weimar 2001.

2 Vgl. Hilpert, Thilo [Hg.]: Hochhaus der Philosophen. Ferdinand Kramers Philosophisches Seminar. Frankfurt 1961, Wiesbaden 2006, S. 15.

3 Vgl. Schlosser, Kerstin u. Verena Kaupert: Ferdinand Kramers Möbel, in: Hilpert (2006), S. 54.

4 Vgl. Hilpert (2006), S. 12.

5 Vgl. Uske, Bernhard: Die Möbilierungsstrategie Ferdinand Kramers, in: Hilpert (2006), S. 63.

6 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005, S. 135.

7 Assmann nach Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005, S. 130-137.

8 Maaser, Michael: Studio Kramer, Website des Universitätsarchivs der Goethe-Universität, https://www.uni-frankfurt.de/39005874/StudioK (12.07.2015).

9 Die Ausstellung ist Teil der Reihe „Frankfurt Design Spirit“. Vgl. Pressemitteilung zur Ausstellungsübersicht 2013, Museum für angewandte Kunst, Frankfurt am Main, 19.04.2013.

Lena Martin, Der »Kramer Stuhl«, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 21.07.2015, URL: https://use.uni-frankfurt.de/erinnerungsort/martin/.