Erinnerungsort - das methodische Konzept

von Johannes Ahrens, Lena Martin, Katharina Müller, Svenja Schäfer, Hildegard Wolf-Krechel und Jörn Zimmermann

Der Begriff „Erinnerungsort“ ist Fluch und Segen zugleich. Ein Fluch, weil er der Alltagssprache entstammt, aber von der Geschichtswissenschaft als Fachbegriff gebraucht wird, was zu Missverständnissen führen kann. Ein Segen ist er wegen einer Einfachheit, die der Wissenschaft gelegentlich abhanden kommt.

Alltagssprachlich ist mit „Erinnerung“ meist das individuelle Erinnern gemeint. Hier geht es aber um gemeinschaftliche, also kollektiv geteilte und sozial geformte Erinnerung. Ebenso ist der „Ort“ kein Punkt auf einer Landkarte, sondern ein gedachter Kristallisationspunkt, der Vorstellungen von Vergangenheit von Mitgliedern eines Kollektivs bündelt. Kollektive Erinnerung ist die Voraussetzung dafür, dass sich eine gemeinsame Identität bildet.

Ein Kollektiv kann sich gemeinsam an mit einem bestimmten Erinnerungsort verbundene Vergangenheit erinnern. Dabei stiftet der Ort kollektive Identität, indem er den Individuen mit seiner historischen Bedeutung einen gemeinsamen Bezugspunkt bietet. Erinnerungsorte lassen gemeinsame Identität entstehen, zugleich sind sie durch ihre symbolische Aufladung eine Äußerungsform der Gemeinsamkeit. Durch dieses wechselseitige Verhältnis machen Erinnerungsorte kollektive Erinnerung sichtbar. In ihnen kristallisiert sie sich heraus und bleibt konserviert, selbst wenn das Kollektiv nicht mehr existiert.

Ein Erinnerungsort kann viele Formen haben: Text, Ritual, Gedenktag, Institution, Name, Idee – entscheidend ist, dass er Ausdruck einer kollektiven Erinnerung ist und symbolische Bedeutung für eine Gemeinschaft hat.

Dass Erinnerungskulturen und Erinnerungsorte in das Blickfeld der HistorikerInnen gerückt sind, ist Teil neuer, als Kulturgeschichte bezeichneter Konzepte. [Anm. 1] Der besondere Schwerpunkt liegt dabei auf kollektiv geteilten, identitätsstiftenden Vorstellungen. Symbole, Riten, Feste und eben Erinnerungsorte werden als Ausdrucksformen solcher Vorstellungen ernstgenommen.

Als Begriff und Konzept geht „Erinnerungsort“ zurück auf den französischen Historiker Pierre Nora. Unter dem Titel „Les Lieux de Mémoire“ erschien seit 1984 seine dreibändige Zusammenstellung von Erinnerungsorten der französischen Nation. [Anm. 2] Nora unterscheidet dort zwischen Geschichte und Gedächtnis. [Anm. 3] Mit dem Begriff Geschichte bezeichnet er eine konstruierte, akademische Narration von Vergangenheit. Dieser akademischen Geschichtsschreibung stellt er das kollektive Gedächtnis gegenüber, das für Tradition als Form lebendiger Erinnerung und aktiver Identitätsvergewisserung einer Gemeinschaft steht.

Dieses Konzept ist auch auf Deutschland übertragen worden. Vor allem wurde es seit dem Ende der 1980er Jahre von Jan und Aleida Assmann erweitert und damit der Weg geebnet für eine interdisziplinäre Erforschung von kulturellen Gedächtnisformen. In ihren Arbeiten zu Gedächtnis und Kultur führen Jan und Aleida Assmann eine Differenzierung ein, die das kollektive Gedächtnis teilt in ein kommunikatives Kurzzeitgedächtnis und ein kulturelles Langzeitgedächtnis. [Anm. 4]

Das kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft beruht auf dem Erzählen und auf mündlicher Überlieferung. Es ist deshalb auf den Zeitraum von drei bis vier Generationen, etwa 100 Jahre, begrenzt. Von längerer Dauer ist demgegenüber das kulturelle Gedächtnis. Es ist an feste Objektivationen gebunden, etwa Texte, Denkmäler, Gebäude oder Einrichtungen. Diese bestehen langfristig und ermöglichen so eine von aktuellen Umständen unabhängige und generationsübergreifende Erinnerung.

Neben den Ausdrucksformen des kollektiven Erinnerns hat Aleida Assmann auch dessen Ziele erörtert. Insbesondere mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands weist sie darauf hin, dass Gemeinschaftsstiftung und Identitätsvergewisserung allein nicht ausreichend seien. Hinzu komme die „ethische Pflicht“ (Assmann) des kollektiven Erinnerns und Gedenkens an das von Deutschland begangene Verbrechen des Judenmordes.

Im Seminar haben wir den ursprünglich nationalen Referenzrahmen Noras verlassen. Wir haben bei der Suche nach Erinnerungsorten der Goethe-Universität nach der kollektiven Identität einer kleineren Gemeinschaft gefragt. Dabei hat sich bei manchen Erinnerungsorten auch gezeigt, dass kollektive Erinnerung an der Universität weiter gespalten sein kann in kleinere Kollektive, die teilweise sogar miteinander in Konflikt stehen. Die eine kollektive Identität der Goethe-Universität haben wir nicht gefunden, aber eine Reihe sehr unterschiedlicher Orte universitärer Identifikation.

Blick auf das IG Farben-Haus
Foto: Markus Häfner

Informationen zur Veranstaltung

Dozentin: PD Dr. Barbara Wolbring
Veranstaltungsart: Seminar
Semester: SoSe 2013
Fachbereich / Institut: Philosophie und Geschichtswissenschaften (FB 08), Historisches Seminar


1 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart u.a 2005; Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, in: Docupedia-Zeitgeschichte, {http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli.C3.9Fen?oldid=84892 (22. 10.2012)}.

2 Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire. Paris 1984 -1992.

3 So im Einleitungsessay zu den „Lieux de Mémore“: Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte, in: Ders (Hg.), Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 11–42.

4 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders. (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19; ders., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; dies., Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, in: Aleida Assmann, Aleida/ Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 140-150; Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007.

Aleida Assmann:

  • Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, in: Assmann, Aleida/Frevert, Ute, Geschichtsvergessenheit-Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 140-150.
  • Die Schlagworte der Debatte, in: Assmann, Aleida/Frevert, Ute, Geschichtsvergessenheit-Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 53-96.
  • Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

Jan Assmann:

  • Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Auflage, München 1997.
  • Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit, in: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, hrsg. von Kirstin Platt und Mihran Dabag, Opladen 1995, S. 51-75.
  • Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19.

Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 2005.

Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, in: Docupedia-Zeitgeschichte (22. 10.2012), docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli.C3.9Fen (25.05.2014).

Pierre Nora: 

  • Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.
  • Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire. Paris 1984-1992.

Johannes Ahrens, Lena Martin, Katharina Müller, Svenja Schäfer, Hildegard Wolf-Krechel und Jörn Zimmermann, Erinnerungsort - das methodische Konzept, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 26.05.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/erinnerungsort/methodisches-konzept/.