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Helmut Anthony Hatzfeld: Ein Romanist im Dienst der Völkerverständigung

von Jana Stupperich

Bereits Helmut Anthony Hatzfelds frühe akademische Laufbahn stand unter dem Einfluss der Ereignisse seiner Zeit. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 zwang ihn, seine Dissertation Über die Objektivierung subjektiver Begriffe im Mittelfranzösischen; ein Beitrag zur Bedeutungslehre (1915) auf schnellstem Wege fertigzustellen und zu veröffentlichen –  zulasten des Umfangs und der Tiefgründigkeit, wenn man Yakov Malkiel (1981) Glauben schenken mag. So widersprüchlich das Verhältnis zwischen akademischem Interesse an den Sprachen, Literaturen und Kulturen der romanischen Länder und der militärischen Teilnahme am Ersten Weltkrieg auch sein mag: Es war untrennbar mit Hatzfelds Leben verbunden. Wie sich dieser besagte Aspekt auf seine Tätigkeit als Literaturwissenschaftler auswirkte, können Auszüge seiner Publikationen und Lehrveranstaltungen zeigen, mit denen Hatzfeld eine Brücke zur internationalen Politik schlug.

Der Essay über Paul Claudel und Romain Rolland

Unmittelbar nach der Konferenz von Locarno begann im Wintersemester 1925 an der Universität Frankfurt die von Hatzfeld geleitete Veranstaltung „Geistige Strömungen im heutigen Frankreich“. Bereits vier Jahre zuvor hatte er mit der Veröffentlichung von Paul Claudel und Romain Rolland. Neufranzösische Geistigkeit seinen deutschsprachigen Lesern den Zugang zu den sowohl literarisch als auch politisch aktiven Intellektuellen ermöglicht, deren Ideal von einem geistig geeinten Europa für Hatzfeld von erheblicher Relevanz war. In seinem Vorwort würdigte er sie als „zwei Vollmenschen, für die Leben, Denken und Dichten notwendig zusammenfällt“ und mahnte: „Sie haben aber nicht nur Frankreich, sondern auch Europa mancherlei zu sagen, und wer in Deutschland Anstoß daran nehmen sollte, sie zu hören, der möge sich in Gottes Namen sagen, daß man auch vom Feind etwas lernen kann.“ (Hatzfeld 1921: S. 7)

Es ist ein Leichtes, anzunehmen, dass Hatzfelds große Wertschätzung der beiden Franzosen in maßgeblichem Zusammenhang mit seinen persönlichen Erfahrungen stand, die er als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg machte. Dem ewigen Feindbegriff spürbar überdrüssig, schuf er mit seiner Abhandlung eine Grundlage für das Verständnis von Claudels und Rollands Anliegen und ließ, indem er ihre Biografie und bislang publizierten Werke durch Zitate und Analysen ergänzte, sowohl seine Studenten als auch ein breiteres, weniger fachkundiges Publikum an ihren Grundvorstellungen teilhaben.

Hatzfeld als Kulturvermittler

„Voraussetzung kultureller Zusammenarbeit ist ein gegenseitiges Sich-Kennen und Sich-Verstehen der verschiedenen großen Kulturvölker der Erde.“ (Hatzfeld 1928: V) Aus dieser Erkenntnis heraus übernahm Hatzfeld in den 1920er Jahren häufig die Rolle eines Vermittlers zwischen fremdsprachiger Literatur und seiner deutschen Leserschaft. Seine Bemühungen, Völkerverständigung auf wissenschaftlicher Basis ebenfalls fernab von elitärem Intellektualismus stattfinden zu lassen, rief jedoch auch zahlreiche Kritik hervor. Der schärfste Kritiker Hatzfelds war Leo Spitzer, der mit seinem Verriss von Hatzfelds 1923 erschienener Bandreihe Führer der literarischen Meisterwerke der Romanen. II. Spanische Literatur in der Zeitschrift für romanische Philologie auch gleichzeitig Hatzfelds gesamtes Wirken attackierte:

„So wünschenswert es ist, in unserer Zeit des Valutaelends dem deutschen Leser (oder, wie Hatzfeld so kaufmännisch sagt, ‚Interessenten‘) eine erschwingliche Anthologie in die Hand zu geben, so sehe ich doch nicht ein, warum diese mit der Inflation eines Scheinwissens und einer geschäftigen Scheinarbeit erkauft sein soll.“ (Spitzer 1924: 373-374)

Spitzer urteilte bezüglich Hatzfelds in der Buchreihe vorgenommener Vokabelerläuterungen:

„Es ist unnütze Zeit- und Arbeitsverschwendung, Wörter wie […] amarillo, feo zu erklären! Wer nicht spanisch (sic!) kann, soll keine spanischen Originalwerke lesen!“ (Spitzer 1924: 375)

Dass Hatzfeld von Spitzers Worten sehr getroffen war, zeigt sich vielleicht auch in der Tatsache, dass er erst 1954 mit Literature through Art wieder eine Monografie publizierte. Dennoch ist es bemerkenswert, dass die zwischen 1917 und 1927 äußerst zahlreich publizierte Literatur, für die Hatzfeld fachlich derart heftig kritisiert wurde, gleichzeitig am visionärsten hinsichtlich eines komparatistisch-transnational ausgerichteten Verständnisses der europäischen Literatur war. Davon zeugen allein die Titel weiterer Werke wie Von Freund und Feind: zehn flüchtige Kapitel zur europäischen Literatur (1917) und Wechselbeziehungen zwischen der deutschen Literatur und den übrigen europäischen Literaturen (1927).

Hatzfeld und das Handbuch der Frankreichkunde von 1928

Einen weiteren Schritt in diese Richtung stellte sein Beitrag im Handbuch der Frankreichkunde von 1928 dar. Neben Hatzfeld beteiligten sich Walter Vogel, Lutz Mackensen und vier weitere Autoren an dem Band, welcher in der mehrteiligen Reihe Handbücher der Auslandskunde erschien. Die breitgefächerten Themen umschlossen die Geografie, Volkskunde, Sprache, Musik, Geschichte, Politik und Religion Frankreichs. Die Herausgeber hatten es sich wie Hatzfeld zur Aufgabe gemacht, „wissenschaftlich den Weg für das Werden dieser neuen geistigen Welt zu bereiten“ (Hatzfeld 1928: V).

„Durch den dem Weltkrieg verbundenen Kulturkrieg sahen wir uns als Deutsche auf unsere deutsche Kultur als Ausdruck unseres Volkstums zurückgewiesen […] Wir wissen wieder, daß die Wahrheit nicht von einem Volke, sondern nur vom Ganzen der in Völker gegliederten Menschheit gefunden werden kann.“ (ebd.: V)

In der Konsequenz dieser Annahme beschränkte sich Hatzfeld nun nicht mehr nur auf Europa, sondern suchte sogar nach einer „Einheit der Weltkultur, die die Kulturen der verschiedenen Völker auf höherer Ebene aneinander bindet“ (ebd.). In seinem Beitrag agierte er abermals als Vermittler, diesmal die französische Lyrik betreffend, wobei er darauf bestand, damit keine generelle Aussagen über das Nachbarland und die Wesensart von den Bürgern Frankreichs zu treffen.

Die französische Lyrik präsentierte Hatzfeld in diesem Beitrag in ihrer gesamten Entwicklung vom 12. Jahrhundert bis hin zu ihren zeitgenössischen Vertretern. Er erfasste und erklärte konstante und wiederkehrende Themen wie Liebe, Sinnlichkeit, Naturdichtung, Tod, Erotik, (Pseudo-)Religiosität und stellte sie ins Verhältnis zu Lebensgenuss und -freude, wobei das Selbstverständnis der einzelnen Dichter wie auch deren Weltanschauung sichtbar gemacht wurde. Zudem betrachtete er auch populär gewordene Dichter, geistige Strömungen, bevorzugte Metren und Versformen im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der spanischen und italienischen Lyrik. Hatzfelds größte Leistung als Vermittler bestand aber darin, seine deutschen Rezipienten nicht nur für die Eigentümlichkeiten der französischen Lyrik zu sensibilisieren, sondern auch gleichzeitig auf mögliche kulturell bedingte Missverständnisse hinzuweisen, die bei der Lektüre dieser (und vice versa!) entstehen könnten, und sie unmittelbar kulturhistorisch aufzulösen. So definierte er beispielsweise die deutsche Lyrik als eine „Phantasielyrik“, die stets versuche, das Kosmische und Göttliche zu umschließen, während die französische eine egoistisch-gesellschaftliche „Erinnerungslyrik“ sei – Eigenschaften, die die jeweilige Lyrik dem fremden Leser leicht mangelhaft erscheinen ließen. Mithilfe solcher komparatistisch-kulturwissenschaftlicher Annäherungen gelang es Hatzfeld, sein wissenschaftliches Tun in den Dienst der Völkerverständigung zwischen den vormaligen Kriegsgegnern zu stellen und diese abseits von politischen Entscheidungen zu fördern.

Der Gang ins Exil und die Bemühungen um eine "World University"

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam das Vorhaben jedoch vorzeitig zum Stillstand. Helmut Hatzfeld, der als ehemaliger Frontkämpfer zuerst im Dienst belassen und schließlich doch suspendiert wurde, flüchtete nach den Novemberpogromen von 1938 zunächst ins benachbarte Belgien. Die Kriegsentwicklungen veranlassten ihn zwei Jahre später schließlich, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, da ein Aufenthalt in Europa keine Sicherheit mehr bot.

Erst Ende der 1950er Jahre integrierte Hatzfeld den Gedanken der globalen Zusammengehörigkeit wieder in seine Arbeit, die er als ordentlicher Professor für Romanische Sprachen und Literaturen an der Katholischen Universität Washington fortsetzte. Die Washington Post (Times-Herald) berichtete in der Ausgabe vom 27. November 1959 über das Vorhaben, eine „World University“ in Ascona/Schweiz zu errichten.

1952 hatten verschiedene Professoren um Frederick Planck, einen Neffen Max Plancks, auf private Initiative hin die „International Society for the Establishment of a World University“ gegründet, um Postgraduierten ein Studium mit Inhalten von weltweitem Belang zu ermöglichen. Hatzfeld, der kurz zuvor von der Universität Grenoble mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden war, hatte bereits an einer zweiwöchigen Konferenz der International Society teilgenommen und berichtete in der Washington Post von den gefassten Beschlüssen:

„Plans call for a small year-round staff, operating at a permanent location in Ascona, Switzerland. Top experts in specialized fields would be invited to take part in seminars concentrating on the problems for a given year. English and French will be the official university languages for students, selected by groups in each sponsoring country. Lectures in other tongues will reach students by simultaneous translation devices similar to those used in the United Nations. Certificates will be awarded to students in lieu of advances degrees, said Hatzfeld, because for this type of study ‘such a degree does not exist’” (Washington Post, Times-Herald: S. B7).

Für das erste akademische Sommerseminar im Jahr 1960 wurde als Veranstaltungsort die Universität Straßburg ausgewählt – und die Zahl der Teilnehmer wurde auf etwa dreißig Professoren und mehrere hundert Studierende geschätzt. Die geplanten Themen zeugten von beachtlicher Modernität: Der Hunger in der Welt (unterstützt von Spezialisten aus den Bereichen Medizin, Wirtschaft, Agrikultur, Soziologie, Biochemie und Demokratieforschung), Menschenrechte, das Universum aus der Perspektive der modernen Naturwissenschaft und Philosophie sowie die Erforschung des Weltraums.

Aktualität

In der heutigen Rezeption Helmut Anthony Hatzfelds stehen seine Forschungsbeiträge zur Stilforschung und der Bedeutungslehre im Vordergrund und nicht seine Bemühungen um die vorrangig deutsch-französischen Beziehungen. Da Hatzfelds Engagement für Politik und Kultur stets und ausschließlich im Rahmen seiner Tätigkeit als Wissenschaftler stattfand, fällt es schwer, ihn als politischen Vertreter der Völkerverständigung zu bezeichnen. Zweifelsohne beteiligte er sich aber als kultureller Vermittler an diesem Ziel, da er mithilfe der Literaturen und Kulturen insbesondere Deutschlands und Frankreichs das interkulturelle Verständnis füreinander förderte. Er erkannte den Zeitgeist, ließ sich von prominenten Intellektuellen auch der 'anderen' Seite faszinieren und verwendete seine fachliche Kompetenz, um seinen Teil zum gemeinsamen Werden Europas und der Welt beizutragen. Zwar blieben die Recherchen der Autorin, ob und wie die Realisierung der „World University“ gelang und wie sich in der Folgezeit die International Society entwickelte, leider erfolglos. Dennoch besitzt es eine hohe Aussagekraft, dass die von Hatzfeld berührten Themen zu einem geeinten Europa und entwicklungspolitischen Kernfragen in ihrer Vielfältigkeit auch noch 2014, im Jahr einer Europawahl, kaum etwas an Aktualität eingebüßt haben.

Empfohlene Zitierweise

Jana Stupperich: Helmut Anthony Hatzfeld: Ein Romanist im Dienst der Völkerverständigung. In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/hatzfeld/stupperich.


Literatur

Hatzfeld, Helmut A. (1928): Die französische Lyrik. In: Handbuch der Frankreichkunde. Erster Teil, Frankfurt am Main, S. 147-202

Hatzfeld, Helmut A. (1926): Führer durch die literarischen Meisterwerke der Romanen, Bd. 2: Meisterwerke der spanischen Literatur, München

Hatzfeld, Helmut A. (1921): Paul Claudel und Romain Rolland. Neufranzösische Geistigkeit, München (Philosophische Reihe, Band 30)

Hatzfeld, Helmut A. (1917): Von Freund und Feind: Zehn flüchtige Kapitel zur europäischen Literatur, München

Hatzfeld, Helmut, A. (1927): Wechselbeziehungen zwischen der deutschen Literatur und den übrigen europäischen Literaturen, Bielefeld

Malkiel, Yakov (1981): Helmut Hatzfeld. In: Romance Philology 34, Special Issue, S. 88-98

11-Nation Academic Seminar Planned As Forerunner to World University. In: The Washington Post / Times-Herald, 27. November 1959, S. B7

Spitzer, Leo (1924): Helmut Hatzfeld, Führer durch Literarischen Meisterwerke der Romanen, II. Spanische Literatur. In: Zeitschrift für romanische Philologie 44, S. 373-376

Universität Frankfurt am Main (1925): Verzeichnis der Vorlesungen