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Hirschs literatursoziologischer Ansatz: „Die Leiden des jungen Werthers“ – ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat

von Henrieke Wichert

„Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe ist ein viel gelesener, häufig interpretierter und literaturwissenschaftlich gut aufgearbeiteter Roman. Seine Veröffentlichung im Jahre 1774 hatte eine nachhaltige und erschütternde Wirkung. Der Roman erlangte durch seine neuartige Darstellung einer liebenden Figur schnell europäische Geltung, die Goethe in einem solchem Maße nicht erahnt hatte. Im Laufe der Zeit wurde der Text sprachlich und stilistisch analysiert, gattungsgeschichtlich eingeordnet sowie etwa autobiographisch und psychologisch interpretiert.

 

Im Jahre 1958 wurde in der Zeitschrift „Études Germaniques“ der Aufsatz „Die Leiden des jungen Werthers – ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat“ publiziert, der einen Vortrag Arnold Hirschs von 1949 zur Grundlage hatte. Dieser Vortrag war von Hirsch zu einer 200-jährigen Geburtstagsfeier Goethes gehalten worden. Statt den Roman als Liebestragödie einzuordnen, verfolgte Hirsch einen neuen Ansatz der „Werther“-Interpretation: den literatursoziologischen. Er betonte die Bedeutung Werthers als Exempel eines Bürgers in einem absolutistischen Staat.

 

Schon in einem früheren Aufsatz mit dem Titel „Soziologie und Literaturgeschichte“ hatte Hirsch 1928 für eine soziologische Betrachtung von Literatur plädiert: ein Ansatz, der erst in den 1960er Jahren entsprechend gewürdigt wurde. Gerhard Sauder würdigt Hirschs Leistungen in seinem Artikel im „Internationalen Germanistenlexikon“:

 

„Seine literatursoziologisch begründete Methode stieß nach seinem Tode auf großes Interesse, der „Werther“-Aufsatz zählt zu den Paradigmen dieses Interpretationsansatzes“ (Sauder: Hirsch S. 755).

 

Arnold Hirsch forderte schon früh eine Verbindung von Soziologie und Literatur. In seinem Aufsatz stellte er 1928 neue Betrachtungsweisen der Literatur in den Fokus. Die Soziologie habe als Kulturwissenschaft die Aufgabe, sich mit gewerteten Gegenständen zu beschäftigen und die Bedeutung dieser Werte für die Gesellschaft und die in ihr lebenden Personen festzustellen. Sie solle allgemeine, idealtypisch geformte Sinnbegriffe der gesellschaftlichen Kulturwirklichkeit erstellen und dabei eine empirisch und kausal ableitbare Bedeutung des Kunstwerks für die Gesellschaft ergründen. Dies beeinflusste auch die Literatursoziologie der 1960er Jahre und wirkt bis heute. Immer häufiger wurden anhand soziologischer Methoden literarische Texte ergründet und unter verschiedensten Fragestellungen betrachtet. Die Literatursoziologie untersucht, inwiefern gesellschaftliche Werte, Rollen und Verhaltensmuster in literarischen Texten widergespiegelt werden und so für den Leser erkennbar sind. Hinzu kommt die Erforschung der kulturellen Bedingungen von Produktion, Distribution und Rezeption der Literatur. Es werden Einflüsse der Klasse bzw. der Standesordnung, also der Gesellschaft und ihrer Ideologien, sowie die politischen Interessen von Autoren untersucht und mit den literarischen Texten in Beziehung gesetzt. Zuletzt wird auch die Reaktion der Gesellschaft – also der Leser – auf die Literatur miteinbezogen sowie die Bedingungen, unter denen der Autor schreiben konnte oder musste wie zum Beispiel Auftragsschrift oder freiberufliche Tätigkeit.

 

Aber zunächst kurz zum Inhalt von Goethes Romans: Werther, ein junger Mann aus gutem Hause, flieht nach einer unglücklichen Liebesgeschichte auf das Land, um sich selbst zu finden und auf neue Gedanken zu kommen. Dort lernt er Lotte kennen, ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, dem er sogleich verfällt. Lotte ist jedoch schon mit Albert verlobt, der ebenfalls eine freundschaftliche Beziehung zu Werther aufbaut. Aufgrund seiner tiefen Gefühle für Lotte, aber auch seine freundschaftlichen für Albert hadert Werther im Laufe des Romans unablässig mit seinem Schicksal. Er möchte Lotte gerne für sich beanspruchen, jedoch nicht das Glück des Paares um seinetwillen zerstören. Den einzigen Ausweg aus dieser misslichen Lage sieht Werther im Freitod.

 

Hirsch analysiert auf der Grundlage des literatursoziologischen Ansatzes „Die Leiden des jungen Werthers“ und entdeckt weitere Gründe für Werthers Scheitern, die jenseits der Liebeshandlung liegen. Die Liebe ist nach Hirsch nämlich nur ein Aspekt, der die Seelennot Werthers hervorruft. Werthers Leben ist von starkem Pessimismus und fehlenden Zukunftsaussichten geprägt. Er hat das Gefühl, dass seine eigenen Fähigkeiten, persönlichen Interessen und Besonderheiten nicht ausreichend genutzt und gefördert werden. Durch seinen bürgerlichen Stand stehen ihm nicht die gewünschten Zukunftsperspektiven zur Verfügung. Diese Unzufriedenheit mit seiner Lage zieht sich durch die gesamte Handlung des Romans. Die fehlende Aussicht auf Verbesserung wirft ihn mehr und mehr in eine tiefe Verzweiflung und Depression. Als Werther eine Stellung beim Fürsten von C. annimmt, wird er zunehmend unzufrieden. Zum einen lassen ihn die Gedanken an Lotte nicht los, zum anderen ist er mit seiner Stellung und der Behandlung durch den Fürsten nicht zufrieden. Der Gesandte, sein Vorgesetzter, verlangt von ihm eine anonyme Tätigkeit, die keine persönlichen Einflüsse zulässt. Dies drängt Werther immer mehr dazu, eine von eigener Initiative getragene Arbeit zu fordern und keine untergeordnete rein administrative Stellung einzunehmen. Er empfindet es als Torheit, einer Tätigkeit nachzugehen, bei der seine Fähigkeiten ungenutzt und seine eigenen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Er betrachtet diese Tätigkeit als sinnlos, da er keinen Mehrwert daraus ziehen und sich selbst nicht zur Geltung bringen kann. Der gesellschaftliche Nutzen ist für ihn ohne Bedeutung, da er nur nach subjektiven Kriterien beurteilt. Als bürgerliches Individuum fordert er, sich vollständig in seiner Tätigkeit entfalten zu dürfen. Er zeigt, laut Hirsch, mit dieser Forderung das neue bürgerliche Selbstbewusstsein des Sturm und Drang, das sich nicht mehr mit dem zugeteilten Wirkungsfeld begnügt, sondern seinen individuellen Geltungsanspruch formuliert. Ein zweiter Aspekt ist die Bewunderung des Grafen von C. für Werther wegen seines umfassenden Wissens über die Kunst. Dies erscheint Werther als ungenügend, da nicht seine Persönlichkeit, sondern allein seine Verstandesgabe hervorgehoben wird. Er möchte jedoch aufgrund seiner Einmaligkeit und seiner besonderen individuellen Persönlichkeit bewundert und geachtet werden, nicht allein wegen seiner Bildung. Das zunächst als freundschaftlich empfundene Verhältnis zum Fürsten wird zudem zerstört, als Werther bei einer Abendgesellschaft auf Wunsch der adeligen Gäste den Raum verlassen muss. Er wird in seine bürgerlichen Schranken gewiesen und erkennt, dass eine Gemeinschaft gleichgesinnter Seelen jenseits der Standesgrenzen nicht möglich ist. Als Bürger erkennt er die Unmöglichkeit, sich mit seiner voll entwickelten Persönlichkeit in die absolutistische Ordnung einzugliedern und zieht sich immer weiter von dieser zurück.

 

Werthers Kritik zieht jedoch keine Handlung nach sich. Er zeigt seine ablehnenden Empfindungen gegenüber den veralteten Ordnungen und leidet unter ihnen, unternimmt jedoch keinen Versuch, diese zu ändern. Auch nach der Kränkung durch den Adel zieht sich Werther immer mehr in sich zurück, anstatt die Erstarkung des Bürgertums zu unterstützen. Er spiegelt damit den Beginn der Zeit wider, in der der Bürger schon an einer Neuorientierung und besseren individuellen Persönlichkeitsentwicklung interessiert war, in der ihm jedoch noch der Glaube an die eigenen Möglichkeiten zur Veränderung der Situation fehlte. Auch der Absolutismus wird noch nicht in Frage gestellt. Werthers abermalige Flucht in die Natur enthüllt sich bald als Irrglaube und Trugbild. Seine Probleme und Enttäuschungen lassen sich nicht zerstreuen, sondern umfassen ihn immer stärker. Die Natur scheint als Ausweg nicht mehr auszureichen, da ihn die Ereignisse am Hof des Fürsten nicht loslassen. Des Weiteren sind Lotte und Albert nun ein Ehepaar. Aufgrund dieser unzureichenden und leidvoll wirkenden Zukunftsaussichten entscheidet sich Werther für den Freitod. Dieser erscheint ihm als einzige Möglichkeit, mündig und selbstbestimmt seinem Leid zu entkommen.

 

Werther ist im Sinne Hirschs nicht nur ein junger Mann, den der Liebeskummer erschüttert, sondern ebenso ein Bürger, der unter dem Absolutismus leidet. Er verkörpert Probleme seiner Klasse und seiner Generation, die durch die Gesellschaft hervorgerufen werden. Er leidet unter der Enge einer gesellschaftlichen Ordnung, die für ihn unveränderlich erscheint. Er ist kein aussichtsreicher und zuversichtlicher Held, sondern ein Bürger, der die Problematiken und Zerwürfnisse der Gesellschaft realistisch empfindet und keinen Ausweg erkennt. Die Einschränkung seiner Fähigkeiten und seiner Liebesbeziehung bringen ihn in eine Seelennot, die unaufhaltsam zum Unabwendbaren führt. Auf die Gesellschaft übertragen, erkennt man das Erstarken des Bürgertums, das die eigenen Bedürfnisse geltend machen will, jedoch noch nicht das Selbstbewusstsein zu politischem Handeln in sich trägt.

Empfohlene Zitierweise

Wichert, Henrieke: Hirschs literatursoziologischer Ansatz: „Die Leiden des jungen Werthers“ – ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat. In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/hirsch/wichert.


Literatur

Gelzer, Florian: Konversation, Galanterie und Abenteuer - Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 29-34

Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. Norderstedt 2009

Helmke, Werner: Jüdische Spuren in Weinheim, http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/h/hirsch-arnold.html#personendaten (zuletzt besucht am 28.03.2014)

Hirsch, Arnold: Die Leiden des jungen Werthers. Ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat. In: Études Germaniques 13 (1958), S. 229-250