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Max Kommerell

...Vom 'Puck' zur 'Kröte': Der Bruch mit Stefan George

Portrait Stefan Georges von 1910, fotografiert von Jacob Hilsdorf (Quelle: wikimedia commons)

Als Max Kommerell Anfang der 1920er Jahre in den George-Kreis aufgenommen wurde, handelte es sich bei dieser elitären Vereinigung um einen hierarchischen Verbund aus ‚Jüngern‘, die ihrem ‚Meister‘ Stefan George unterstanden. Während Kommerell noch im Mai 1920 an seine Schwester Jul Strebel über die Option, dem Kreis beizutreten, schrieb: „Nun bin ich keineswegs soweit, und ich müßte auf mir sehr liebe und werte Dinge verzichten“[1], setzte er sich ab dem folgenden Jahr einer neunjährigen Unterwerfung aus. Sein Lebenslauf zeigt, dass er im Allgemeinen eine Vorliebe für Lesekreise hegte und nach Lehrerfiguren und Vorbildern suchte. Im George-Kreis lernte Kommerell seinen langjährigen Freund Johann Anton, Friedrich Gundolf und die Brüder Claus, Alexander und Berthold von Stauffenberg kennen, gleichzeitig distanzierte er sich von alten Freunden und wandte sich wieder von der Reformschulbewegung ab; Vorgänge innerhalb des Kreises mussten geheim gehalten werden. Ebenso wurde die Lektüreauswahl durch George beschränkt. Kommerell bewunderte die Sprache Georges und übernahm in seinen eigenen Gedichten und in seinen Briefen die typische Georgeanische Kleinschreibung. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden durch George und andere Anhänger beeinflusst: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) gilt als Programmschrift aus dem George-Kreis.[2] Auf der anderen Seite findet auch der Meister Gefallen an seinem Schüler – Kommerell trat die Nachfolge Gundolfs an und wurde zum Liebling und engsten Vertrauten Georges, der ihn nun liebevoll ‚Puck‘ oder ‚Maxim‘ nannte. Das Folgende Gedicht Georges, das die Chiffre ‚M‘ trägt, zeigt die Bindung zwischen den beiden Männern:

Versunkener träumer ward nun ein begleiter
Der aus dem zwielicht strebt zum vollen licht .
Er schreitet neben mir gelöst und heiter
Und nezt mit tau das kindliche gesicht [3]

 

Dass die Lösung von George, die schon 1927 begann, parallel zu den Vorbereitungen von Kommerells Habilitation in Frankfurt am Main lief, war nicht bloß Zufall: In seinem Tagebucheintrag „Ein Wendepunkt in meinen freundschaftlichen Beziehungen“ vom 3. Oktober 1930 (Audiodatei rechte Spalte), also nach der Trennung, schrieb der damals 28-Jährige, die Lebensform im George-Kreis schädige seine geistige Gesundheit: Die Aufgabe des Selbstgefühls sei ihm nun, als erwachsener Mann, nicht mehr möglich. Wie im Tagebucheintrag deutlich wird, stürzte er sich in die Arbeit an seiner Habilschrift, um sich von der ihn belastenden Situation abzulenken. Zudem beklagte er den Wandel des Kreises zu einem „heilsgeschichtlichen Projekt“[4], das er in einem Brief an Hans Anton als „geistig maskiertes Philistertum“[5] kritisiert. Die Ablehnung der Heldenverehrung Georges führte zu einer langsamen Distanzierung, der endgültige Bruch jedoch erfolgte erst, nachdem George ihm die Mitgliedschaft an der „Stiftung zur Fortführung des Werkes von Stefan George“ zutrug. Aus den im Tagebucheintrag genannten Gründen lehnte Kommerell den Beitritt zum Stiftungsrat ab. Er musste wissen, dass damit die Trennung unwiderruflich wurde, denn George duldete von seinen Jüngern keinen Widerspruch, wie Kommerell selbst sagt:

"Hat nicht George die individuell geistig erotische Bedingung der Existenz umgedeutet in eine objektive Erziehungsidee, hat er nicht in grausamer Weise aus dem Bezug zu diesen Bedingungen Rang und Qualität junger Menschen festgestellt, und den Widersprechenden in Nichtseiedheit verwiesen: ist der Kreis, der sich so ungeheuer objektiv gibt, nicht einfach der Atemraum Georges, und in sich selbst wesenlos?"[6]

Durch die Abkehr durfte der ‚Verräter‘ Kommerell nun keinen Kontakt mehr zu anderen Anhängern haben, und wurde von George als ‚Kröte‘ oder ‚Judas‘ bezeichnet. Zu seinem Freund Hans Anton stand er jedoch bis zu dessen Suizid im Jahr 1931 in Kontakt. Während Kommerell Entschlossenheit zeigte, sein „Ich dahin wachsen zu lassen, wohin sein Wachstum drängt“[7] und den Bruch mit George vollzog, sah sich Anton in dieser Zeit zwischen seinem Meister und seinem besten Freund Kommerell hin- und hergerissen.

In Frankfurt am Main konnte er, indem er seine Verbindung zu Andreas Heusler nutzte, im Jahr 1930 habilitiert werden. Dass seine Antrittsvorlesung Hugo von Hofmannsthal zum Gegenstand hatte – ein weiterer Dichter des Kreises, der sich George entzog – bezeugt auch auf inhaltlicher Ebene einen Schnitt. An der Universität Frankfurt begann Kommerell zudem, sich der Literatur zuzuwenden, die ihm zuvor im Kreis verboten gewesen war.

Über ein Jahrzehnt später reflektierte Kommerell die Trennung von George in einem Brief an seine Freundin Else Eichler:

"Warum konnte ich damals nicht jung, nicht einfach sein? Warum nicht die unverzauberte und doch so versprechende Wahrheit nicht ergreifen, die der Fluß zwischen den schönen Gebirgen enthielt, oder eine Frau, oder das eigene Herz? Warum hörte ich auf, Schwabe zu sein, Humor zu haben? [...] Was folgte darauf? Eine 9jährige freiwillige Dienstbarkeit, mit wilden, aber nur inneren, wie vor 3000 Jahren in einem fernen Reich geschehenen Abenteuern – und welche Enthaltungen, welche Versäumnisse, welch frevelhaftes Glück und welche Zerstörungen ... Dann eine kaum mögliche Befreiung, [...]."[8]



[1] Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlaß hg. von Inge Jens, Olten / Freiburg im Breisgau 1967, S. 90 (im Folgenden: BA)

[2] Vgl. Kosenina, Alexander: Im Schlaf sprechen. Max Kommerell, die Gebärdensprache und das Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2001, Nr. 241, S. N5

[3] George, Stefan: Werke. Ausgabe in 2 Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1984, S. 450

[4] Weber, Christian: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin / New York 2011, S. 60

[5] BA, S. 197

[6] Kommerell, Blanche (Hg.): Max Kommerell: Spurensuche. Mit einem Beitrag von Gert Mattenklott, Gießen 1993, S. 24

[7] BA, S. 171

[8] Zitiert nach: Storck, Joachim W.: Max Kommerell 1902-1944, Marbach am Neckar 1985, S. 24

Audiodatei (in 2 Teilen)

Aufnahme von Kommerells Tagebucheintrag „Ein Wendepunkt in meinen freundschaftlichen Beziehungen“ vom 3. Oktober 1930, gelesen von Jan Barthel.


Teil 1 (ca. 4 Min)


Teil 2 (ca. 4 Min)


(Quelle: Max Kommerell. Briefe und Aufzeichnungen. Aus dem Nachlass herausgegeben von Inge Jens, Olten / Freiburg im Breisgau 1967, S. 182-186)


 
Literatur

George, Stefan: Werke. Ausgabe in 2 Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1984

Kommerell, Blanche (Hg.): Max Kommerell: Spurensuche. Mit einem Beitrag von Gert Mattenklott, Gießen 1993

Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlaß hg. von Inge Jens, Olten / Freiburg im Breisgau 1967

Kosenina, Alexander: Im Schlaf sprechen. Max Kommerell, die Gebärdensprache und das Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2001, Nr. 241, S. N5

Schirrmacher, Frank: Ein Abtrünniger im Zelt des Magiers. Max Kommerell und der George-Kreis / Aus Anlaß einer Ausstellung in Marbach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.1985, S. 19

Storck, Joachim W.: Max Kommerell 1902-1944, Marbach am Neckar 1985

Weber, Christian: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin / New York 2011

Weichelt, Matthias: Ergänzung und Distanz. Max Kommerell und das Phänomen George, in: Wissenschaftler im George-Kreis: die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, hg. von Bernhard  Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold, Wolfgang Vitzthum, Berlin / New York 2005, S. 137-158

Weichelt, Matthias: Die Kröte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.1.2005, Nr. 3, S. N3