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Die Wiedergabe der 'Tonart': Zu Max Kommerells Calderón-Übertragungen

von Viola Grossbach

Am 26. März 1938 schreibt Max Kommerell in einem Brief an Rudolf Alexander Schröder über die Eigenschaft einer gelungenen Übersetzung: „Man kann eben nicht einfach übersetzen, sondern muß den Stil creieren, als Tonart des Ganzen […] um das einzelne in so gesteigerter Weise sagen zu können“ (BA, 340).

Der folgende Essay ist der Versuch, Kommerells Idee der 'Tonart' mit seinen Calderón-Übersetzungen in Einklang zu bringen. Eine eindeutige Definition des Begriffs ist in seinen Schriften nicht auffindbar, vielmehr sieht man sich einer großen Zahl sich aufeinander beziehender Begrifflichkeiten (z.B.: 'Gebärde', 'Seele', 'Stimmung', 'Zeichen') ausgesetzt, die eher symbolisch als bezeichnend verwendet werden. Dabei scheint Kommerells Herangehensweise, die sich wissenschaftlichen Standards verweigert, intuitiv und einigermaßen verwirrend: Er knüpft seine Begriffe immer an unterschiedliche Gegenstandsebenen und bezieht sie auf verschiedene Gattungen und Dichter. Um die komplexen und abstrakten Begriffsverflechtungen verstehen und auf seine Übersetzungsstrategie anwenden zu können, ist es deshalb unumgänglich, die entsprechenden Termini als voneinander abhängige und sich im Œuvre Kommerells kontrastierende zu betrachten. Einen übersetzungstheoretischen Text hat Kommerell nicht veröffentlicht, seine Vorstellungen fließen meist in Form einzelner Sätze in seine persönlichen Briefe ein. So werden nachfolgend nicht nur seine Calderón-Interpretation (Etwas über die Kunst Calderons, 1946) sondern auch andere seiner theoretischen Schriften herangezogen. Im Anschluss soll beispielhaft gezeigt werden, auf welche Weise Kommerell die 'Tonart' in Calderóns Dramen in die deutsche Sprache überträgt.

1.

Was im Eingangszitat als – im Rahmen einer Übertragung notwendig erscheinende – Nachahmung des Stils einer fremdsprachigen Dichtung zum Ausdruck kommt, hat bei Kommerell einen größeren theoretischen Hintergrund: In Zusammenhang mit der Idee der 'Tonart' eines lyrischen oder dramatischen Werks lassen sich seine Gedanken über Gedichte bringen, in denen er über den „Verlust der tönenden Weise“ (GG, 13) und die Literarisierung des Gedichts seit Goethe schreibt. Aufgrund des Abhandenkommens von Ton und Weise, die dem vorgetragenen Volkslied noch zugehörten, müsse nun im Gedicht die Sprache selbst die Aufgabe des Singens übernehmen und auf diese Weise zum Symbol der im Gedicht gegenwärtigen Seele werden (vgl. ebd., 15); nur weil im Gedicht der Zustand der Seele, eine in Worten unmittelbar werdende Stimmung, ausgedrückt werde, könne es den Leser ergreifen, ihn betroffen machen. Demnach dürfen die Wörter nicht nur diese Stimmung wiedergeben, sondern müssen selbst nach ihr gestimmt sein, wobei die Sprache ihr „Fertigsein“ als Sprache und damit ihre Funktion des „begriffliche[n] Bezeichnen[s]“ aufgibt und stattdessen im „System der Gebärden“ zum „erste[n] Sprechen“ wird (ebd., 34-35).  Kommerell stellt hier zwei gleichzeitig wirkende Kräfte einander gegenüber: zum einen das fertige System des Bezeichnens durch festgelegte und willkürliche Begriffe und zum anderen die Unmittelbarkeit der Sprachgebärde, also eine Art Sprachfindung, durch die erst die „Betroffenheit der Seele“ ausgedrückt werden könne (ebd., 37). Auf diese Weise ersetzt die Sprachgebärde im Gedicht die verloren gegangene Musik und steht so in Zusammenhang mit  dem Begriff der 'Tonart': Beide sind Gegensätze zum begrifflichen Bezeichnen, die 'Tonart' fordert deshalb in der Übersetzung einen besonderen Umgang.

Im Drama jedoch nimmt die Gebärde, wie sie hier beschrieben wird, einen geringeren Stellenwert ein, was auf die Natur der Gattung und ihrer Sprache zurückzuführen ist, da jene nicht nur eine Stimmung vermittelt, sondern durch sie vielmehr eine „Welt von Gestalten, Lagen und Begebenheiten […] durch die Worte beschworen“  wird (ebd., 33), wobei das Wort „Gebärdenträger im mimischen Sinne“ bleibt (ebd., 34). Dadurch, dass ein Drama – ähnlich dem noch „klingenden“ Volkslied – immer mit einer Form des Aufführens verknüpft ist, und weil der Vers im Drama „viel mehr mit Sinnlichem, mit Mimischem, mit Atmosphärischem, mit Stil getränkt ist als die Prosa“ (VD, 153), könne es nie ganz literarisch werden. Milena Missalonga bemerkt dazu, im Theatralischen sehe Kommerell die Sprachgebärde als „pantomimische[n] Kern der Sprache“ (Massalonga, 136) unmittelbar hervortreten.

So verkörpert nach Kommerells Ausführungen die Sprachgebärde im Drama weniger die Stimmung einer im Werk immanenten Seele, als dass sie eine Bilderwelt schafft, die zudem als zweite, dem Leben gegenüber stehende Wirklichkeit betrachtet werden kann. Das Vorhandensein einer solchen künstlichen Realität, die nur in der Kunst existieren kann, sieht Kommerell besonders in den barocken Dramen Calderóns, dessen Doppelbegabung als Dichter und Regisseur er hervorhebt (vgl. KC, 6). Denn Calderón verstehe es, eine im wahren Sinne eigene Welt, eine gesteigerte Wirklichkeit, entstehen zu lassen, indem er sie aus „Zeichen“, nicht aus Dingen, zusammensetze. Diese Zeichen, die nicht dem sich selbst widersprechenden Leben entstammten, seien „fügsam und beziehen sich aufeinander“ (ebd., 5) und bilden in jedem Theaterstück ein neues Ganzes. Die Zeichen folgen nicht den Regeln der Wirklichkeit, sondern nur dem „Gesetz des eigenen Stils“ (ebd.), eben einer Gesamtstimmung, auf die im Eingangszitat verwiesen wurde. Ihren Platz findet diese „sinnlich-geistige Einheit […] im Vers“ (VD, 153). Diese Einsicht ist sicher auch der Grund dafür, dass sich Kommerells Calderón-Übertragungen, trotz der Orientierung an der Wiedergabe der 'Tonart', stets auch an die Versform des Originals halten.

Es ist kein Zufall, dass Kommerell die Idee der von der Welt losgelösten Zeichen in einer derart artifiziellen Kunst wie der Calderóns verortet: In ihr verschränken sich Künstlichkeit und Lebensnachahmung (vgl. VD, 148). Die Sprachgebärde kann im Calderónschen Drama nicht als intimer Ausdruck der betroffenen Seele gewertet werden (wie im Gedicht), sie schafft in ihm eine Atmosphäre, eine Stimmung. Deshalb ist sie nicht weniger wichtig als in der Lyrik, erst durch sie kann das Publikum den Kern des Dramas verstehen: „die Gebärde, jawohl, die körperliche Gebärde! muß, ähnlich oder abstechend, erzwingen, daß die Phantasie des Zuschauers die Gleichung vollzieht“ (KC, 151). Ihre Körperlichkeit ist eng an die Rhythmik und Musikalität des Verses im Drama gebunden. Die 'Tonart' im Drama kann ebenfalls als etwas dem begrifflichen Bezeichnen Gegensätzliches verstanden werden: Sie ist das, was nicht in Worten gesagt werden kann, sie ist eine allgemeine Stimmung oder Atmosphäre.

2.

Dass das Musikalische nicht nur in Kommerells theoretischen Schriften, sondern auch in seinen Übersetzungen eine große Rolle spielt, zeigt folgendes Zitat, wenn er über seine Beschäftigung mit Calderón schreibt: „weil diese Zauberbücher mich gefangen nehmen, und ich ihre Sprüche jetzt in der Eigensprache nachlallen lerne“ (BA, 249). Das unmittelbar-Musikalische von Sprachgebärde und 'Tonart' überträgt sich so auf die Übersetzungstätigkeit („nachlallen“) – und zwar nicht nur im übertragenen Sinne: Kommerell bewundert die Übersetzungen Herders, die – „Einheit von Wort und Weise“ berücksichtigend – den Ton der Worte zu treffen vermögen. Um dessen fähig zu sein, müsse der Übersetzer „ein Organ für diese Musikalität ausbilden“(GG, 13-14). Die Wiedergabe der 'Tonart' erklärt Kommerell somit zum Essentiellen. Christian Weber teilt Kommerells Übersetzungspraxis in fünf Punkte ein, in denen musikalische und stilistische Komponenten zur Geltung kommen: „Übertragung der Form, Wiedergabe des Stils, Verwandlung der Metaphern, Nachbildung der klanglichen Sprachmittel und Beibehaltung der Stilvielfalt“ (Weber, 231).

Das Nachahmen des Stils lässt sich am Beispiel der Übertragung von Calderóns Drama La vida es sueño nachvollziehen: Hier wird der estilo culto, der sich durch Archaismen und Fremdwörter auszeichnet, in das Deutsche übertragen, weshalb Kommerell ebenfalls altertümliche Ausdrücke verwendet: „Gespräng“, „Gezelt“ oder „weiland“ (vgl. ebd., 238). Außerdem behält er, wie bereits oben erwähnt, den Vers bei und übernimmt, wenn möglich, die rhetorischen Stilmittel, wie sich an der Übertragung von „vivo cadáver sepultura“ (C1, 77) zu „Lebenden Leichnams Schrein“ (C2, 9) nachvollziehen lässt. Gerade Alliterationen und Wortwiederholungen, die einen stark klanglichen Charakter haben, gibt er im Deutschen wieder: „Damit du nicht weißt, daß ich / Weiß, daß du mein Elend weißt“ (C2, 12, vgl. Weber, 236-237). Obwohl der 4-hebige Trochäus dem Calderónschen Romanzenvers nicht exakt entspricht, gebraucht er ihn, um dem Verständnis von Calderóns Stil als Künstlichkeit“ (Weber, 233) nahe zu kommen. Auch wenn Kommerell weitgehend auf Assonanzreime, die im Spanischen flexibler sind, verzichtet, übernimmt er das Reimschema der ersten Verse von La vida es sueño, um durch die Wiederholungen den Charakter des Klageliedes zu reproduzieren (vgl. C2, 7 und Albert, 242).

Es lässt sich erkennen, dass Kommerells Augenmerk in seinen Übersetzungen auf die Wiedergabe des Klanglichen und des Stils gerichtet ist. Das begrifflich bezeichnende Wort tritt zurück, um einer Stimmung Platz zu machen. Übersetzungstechnische Genauigkeiten werden zu Gunsten der Stilimitation geopfert und das Pantomimische, das auch dem geschriebenen Drama eigen ist, bleibt bestehen. So ordnen sich die Elemente, die schon in Kommerells theoretischen Schriften im Zusammenhang stehen, auch in seinen Übersetzungen unter den Begriff der 'Tonart' ein – sie ist der Mittelpunkt von Kommerells Übersetzungsarbeiten. Ihr unmittelbarer Ausdruck, der dem des gesungenen Liedes nahe kommt, ist im barocken Drama und damit auch in seiner Übersetzung der „Ausweg aus den Sümpfen des Naturalismus und den psychologischen Zersetzungen der modernen literarischen Bühne“ (Massalongo, 133-134).

Empfohlene Zitierweise

Grossbach, Viola: Die Wiedergabe der 'Tonart': Zu Max Kommerells Calderón-Übertragungen, in: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hrsg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/kommerell/grossbach.


Pedro Calderón de la Barca, 1600-1681 (Quelle: wikimedia commons)

Literatur

Primärliteratur:

Calderón de la Barca, Pedro: La vida es sueño, hg. von Dámaso Chicharro Chamorro, Tarragona 1982 (C1)

Calderón de la Barca, Pedro / Kommerell, Max (Übers.): Das Leben ist Traum, in: Beiträge zu einem Deutschen Calderon. 2. Don Pedro Calderon de la Barca. Das Leben ist Traum. Die Tochter der Luft, Frankfurt am Main 1946, S. 6-101 (C2)

Kommerell, Max: Die Kunst Calderons, hrsg. mit einem Vorwort von Fritz Schalk, Frankfurt am Main 1974 (KC)

Kommerell, Max: Max Kommerell. Briefe und Aufzeichnungen. Aus dem Nachlass hg. von Inge Jens, Olten/Freiburg im Breisgau 1967 (BA)

Kommerell, Max: Der Vers im Drama, in: Dichterische Welterfahrung. Essays, hg. von Hans-Gerog Gadamer, Frankfurt am Main 1952 (VD)

Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte, Frankfurt am Main 1985 (GG)

Sekundärliteratur:

Albert, Claudia: Eine Welt aus Zeichen – Kommerells Calderón, in: Max Kommerell: Leben – Werk – Aktualität, hg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003, S. 234-248

Briesemeister, Dietrich: Max Kommerell (1902-1944) y sus estudios calderonianos, in: Hacia Calderon / Tercer Coloquio Anglogermano. Londres 1973, hg. von Hans Flasche, Berlin / New York 1976, S. 205-215

Busch, Walter: Zum Konzept der Sprachgebärde im Werk Max Kommerells, in: Geste und Gebärde: Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne, hg. von Isolde Schiffermüller, Bozen 2001, S. 103-134

Massalongo, Milena: Versuch zu einem kritischen Vergleich zwischen Kommerells und Benjamins Sprachgebärde, in: Max Kommerell: Leben – Werk – Aktualität, hg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003, S. 118-161

Port, Ulrich: Die „Sprachgebärde“ und der „Umgang mit sich selbst“. Literatur als Lebenskunst bei Max Kommerell, in: Max Kommerell: Leben – Werk – Aktualität, hg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003, S. 74-97

Wais, Kurt: Calderón in Deutschland: Max Kommerell, in: An den Grenzen der Nationalliteraturen. Vergleichende Aufsätze, Berlin 1958, S. 265-270

Weber, Christian: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin / New York 2011