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Max Kommerell

...Die Weltliteratur: 'Fremdheit als Heimat' in chaotischen Zeiten

Quelle: Vorlesungsverzeichnis der Universität Frankfurt aus dem Wintersemester 1933/34

Nach dem Bruch mit George und dem Wechsel nach Frankfurt begann Max Kommerells Beschäftigung mit der Weltliteratur. Dabei stand er in Briefwechsel mit den Romanisten Werner Krauss (Marburg), Fritz Schalk (Köln) und Ernst Robert Curtius, den er während eines Vertretungssemesters in Bonn kennen gelernt hatte. Gleichzeitig wandte er sich damit von einer NS-Germanistik ab, die deutsche Werke vornehmlich in einem nationalen Rahmen deutete, und so schrieb er 1942 an Karl-Gustav Gerold: „Überhaupt sinke ich immer meinem Kebsweib, der Romanistik, in die Arme, meine Legitime redet zu viel von sich.”[1] Diese ‚Liaison‘ wirkte sich erheblich auf die Auswahl der Themengebiete aus: Während sich Kommerell unter den Fittichen des Meisters George und in den ersten Jahren nach der Trennung fast ausschließlich mit der deutschen Literatur auseinandersetzte (Der Dichter als Führer in der Deutschen Klassik, 1928, Jean Paul, 1930 und Die Stabkunst des deutschen Heldenlieds, 1933), weitete er im folgenden Jahrzehnt seine Lektüre über Sprach- und Landesgrenzen aus. Im Jahr 1931 bereits übertrug er Michelangelo, 1938 erschienen seine Studie über Don Quijote und der Essay Dame Dichterin, der das "Genji monogatari" behandelt. Weiterhin folgten sein Werk über die Commedia dell’arte und die wichtige Schrift Lessing und Aristoteles, in der er auch Corneille betrachtete. Kurz vor seinem Tod konnte Max Kommerell seine Übersetzungen und die Calderón-Studie fertig stellen. Außerdem enthielten die Vorlesungsverzeichnisse in Frankfurt und später in Marburg Veranstaltungen zur ‚Weltliteratur‘ oder beispielsweise zu Shakespeare (siehe Foto).

Inwiefern die Beschäftigung mit der Weltliteratur für Kommerell auch ein Rückzugsort von aktuellen politischen Ereignissen war, lässt sich schwer nachvollziehen, da sich Kommerell selten politisch äußerte. Anfang der 1930er Jahre hegte er noch Sympathien für die Nationalsozialisten, distanzierte sich jedoch danach wieder und unterstützte an der Universität Frankfurt den abgesetzten jüdischen Universitätskurator Kurt Riezler. Fest steht, dass sich mit der Hinwendung zur Weltliteratur auch auf konzeptueller Ebene ein Bruch im wissenschaftlichen Œuvre Kommerells ergab: In seinen essayistischen Schriften überwand er das heroen- und nationbezogene Interpretationsverfahren, das in seinem frühen Werk Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (der Titel verrät es schon) so stark zu Tage trat. Stattdessen versuchte er, „die poetischen Texte aus ihrer ästhetischen Immanenz“[2] zu verstehen, wie Ralf Simon schreibt: „Damit ist der Maßstab einer Dichtung nicht mehr im Machtdiskurs einer Aufteilung der Welt unter den Dichterheroen zu suchen, sondern darin, wie eine dichterische Welt ein Sinnganzes entwirft, das als eine mögliche Stellung zum Leben begriffen werden kann und gerade darin jenseits eines vergleichenden Wertens bleibt.“[3] – die Kunst ist damit immer eine „Ergänzerin des Menschen“[4]. Hier liegt ein doppelter Gegenpol zu George vor: Zum Personenkult und zur Ablehnung der Außenwelt im George-Kreis.

Kommerells Auseinandersetzung mit der Weltliteratur kann als Rahmenwechsel betrachtet werden, mit dem jedoch keine komplette Abwendung von der Nationalphilologie einher geht: Sein komparatistischer Ansatz erscheint Ralf Simon als „im Rahmen des Nationalen verbleibender Exotismus“, als eine Dimension der nationalen Philologie.[5] Kommerell findet in seinen Interpretationen von Dichtungen einen Weg von der deutschen Kultur in die fremde Kultur, die als Dimension der deutschen auftritt, und er kann sich so gut in fremde Themen hineinversetzen, dass er die 'Fremdheit als Heimat' wahrnimmt.[6]



[1] Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlaß hg. von Inge Jens, Olten / Freiburg im Breisgau 1967, S. 33

[2] Simon, Ralf: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell, in:  Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993, hg. von Hendrik Birus, Stuttgart 1995, S. 72-91, S. 77

[3] Ebd., S. 78

[4] Kommerell, Max: Dame Dichterin und andere Essays, hg. und mit einem Nachwort von Arthur Henkel, München 1967

[5] Simon, Ralf, S. 87

[6] Vgl. Weber, Christian: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin / New York 2011, S. 328