Max Kommerell
Im Blick der Nachwelt
Max Kommerell zählt sicherlich zu den bemerkenswertesten Germanisten seiner Zeit und ist der bedeutendste Literaturwissenschaftler, der aus dem George-Kreis hervorging. Neben seinen literaturwissenschaftlichen Werken veröffentlichte er auch zahlreiche Gedichte, schrieb dramatische Werke und Übersetzungen. Kommerell faszinierte viele seiner Zeitgenossen durch seine unkonventionelle Denkweise, seine Studenten schätzten wohl seine unprofessorale und humorvolle Art. Außerdem stand er in freundschaftlichem Verhältnis zu vielen berühmten Wissenschaftlern seiner Epoche (Ernst Robert Curtius, Martin Heidegger, Heinrich Zimmer und Karl Reinhardt). Trotzdem und obwohl seine Texte sich durch eine außergewöhnliche Sprachgewandtheit auszeichnen, werden sein Leben und Werk verhältnismäßig wenig rezipiert – die erste umfassende Biografie erschien erst im Jahr 2011 (Christian Weber: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie). Dass Kommerell in der Wissenschaftsgeschichte weniger Beachtung genießt, als sein Lebenslauf vermuten lässt, mag zum einen mit seinem frühen Tod zusammenhängen (er starb im Alter von 42 Jahren), zum anderen mit seiner Außenseiter- und Sonderlingposition in seinem Fach. Ein Weiteres sind die politischen Umstände seiner Zeit, zu denen er sich kaum äußerte. Diese Zurückhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus, mit dem er sogar zwischen 1930 und 1933 sympathisierte, wurde ihm oft – besonders im Zuge der 68er-Bewegung – vorgeworfen.
Die Aussagen von Freunden und Zeitgenossen sowie von Wissenschaftlern, die sich intensiv mit dem Phänomen Kommerell auseinander gesetzt haben, können jedoch die Wirkung der schillernden Figur Max Kommerell am eindringlichsten zeigen:
Hans-Georg Gadamer:
Mag sein Dichtertum manchen unter Ihnen ein Geheimes und Geweihtes gewesen sein, das in dem Tun des Lehrers und Gelehrten nur verborgenerweise mitschwang, ihm selbst war das dichterische Tun - das ja stets mehr ein Leiden als ein Tun ist - Anfang und Ende und die tragende Mitte seines Daseins. Worin er der Wissenschaft gedient hat, was er als Lehrer, ja, was er als Freund und als der innigste Vertraute der geliebtesten Menschen war, er war es als der Dichterische, offen dem Andrang des Seienden, um die genaueste Antwort bemüht.
Gedenkrede Universität Marburg, in: Gadamer, Hans-Georg: Philosophische Lehrjahre: Eine Rückschau, Frankfurt am Main 1995, S. 93
Martin Heidegger:
Heute vor acht Tagen ist im Alter von 42 Jahren M. K. in Marburg gestorben. Im Äußeren war er ein Professor für ‚Deutsche Literaturgeschichte‘. Er hat die Fragwürdigkeit dieses Faches mit hellem Sinn durchgelitten. Er war, wenn hier davon beiläufig gesprochen werden darf, der einzige seines Faches, mit dem ich zeitweise fruchtbare Gespräche über die geschichtliche Bestimmung des Denkens und des Dichtens pflegen durfte. M. K. mußte viel irren, und er konnte irren. Aber er konnte zugleich hinhören. Was er versuchte und schuf, wird umstritten bleiben. Aber dies ist ja das echte Zeichen dafür, daß Etwas von ihm ausging. (Gesprochen vor der Schlußvorlesung des S.[ommer]S.[emesters] 1944 am 1. August).
Heidegger, Martin: Max Kommerell (gestorben am Abend des 25. Juli 1944), in: ders.: Gesamtausgabe, I. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976, hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000, S. 364
Walter Benjamin:
Über Kommerells „Der Führer in der deutschen Klassik“ schreibt Benjamin in seiner Kritik „Wider ein Meisterwerk“:
Dies Buch bringt einen jener seltenen, dem Kritiker denkwürdigen Momente, da keiner ihm die Qualität des Werks, die Stilform, die Befugnis des Verfassers abfragt. Sie alle sind gar nicht anzuzweifeln. Selten ist so Geschichte der Dichtung geschrieben worden: ihre vielseitigen Darlegungen, die scharf gekantete, undurchdringliche Oberfläche jener symmetrischen, diamantenen Gewißheit.
Und über Kommerells Sprachartistik: Blumige Bildersprache? Ach nein; das ist das Scheppern stählerner Runen, der gefährliche Anachronismus der Sektensprache.
Benjamin, Walter: Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerells „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main 1989, S. 252–259, S. 252 und 255
Theodor W. Adorno:
Über Kommerell, den Adorno einen Faschisten nennt, schreibt er:
Er war sicherlich ein hochbegabter Mensch, aber mir auch persönlich nicht sehr sympathisch, und ich habe die Benjaminsche Feindesverehrung nie so recht verstanden.
Lonitz, Henri (Hg.): Adorno-Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt am Main 1994, S. 78
Joachim W. Storck über Kommerell:
Max Kommerell: immer noch geht eine Faszination von diesem Namen aus, ein ahnendes oder gar wissendes Aufmerken bei jenen, denen Dichtung und der Reiz der Sprache etwas bedeuten.
Kommerell, Max: Kasperle-Spiele für große Leute. Hg. von Joachim W. Storck, Göttingen 2002. S. 223
Gemessen an dem Ungewöhnlichen seiner geistigen Erscheinung, dem Reichtum und der Ursprünglichkeit seiner Gedanken, der Fazilität, sie zu äußern, im Gespräch wie im Werk, gemessen an der heftigen Wirkung auf Schüler und der Dichtung zugewandten Jugend überhaupt, und gemessen schließlich an der Faszination, die er überall auf seine Zeitgenossen ausübte – er hing mit den Besten seiner Epoche, mit E. R. Curtius, Heinrich Zimmer, R. A. Schröder, Carl Orff, Heidegger, Karl Reinhardt freundschaftlich zusammen –, gemessen an alldem ist seine Nachwirkung gering.
Hölscher, Dorothea: Mit einem Streichholz angezündet. Gedenkblatt für Max Kommerell, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.2.1962, S. 28
Angesichts des kurzen Lebens ist die Liste seiner gelehrten Schriften erstaunlich lang und reich an verschiedensten Themen. Doch der Berufung als Dichter, Dramatiker und Prosaschriftsteller stand das ebenso entgegen wie die brieflich oft beklagte Pflichtlektüre studentischer Qualifikationsarbeiten. Wie so viele Doppeltbegabte fand er in keinem der beiden Bereiche volle Anerkennung. Und selbst die sonst so umtriebige Wissenschaftsgeschichte ist bislang an ihm vorbeigegangen.
Kosenina, Alexander: Max Kommerell, die Gebärdensprache und das Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2001, Nr. 241, S. N5
Elfriede Ehls Erinnerungen an Max Kommerell:
[…] er führte uns zu den Quellen des Seins und eröffnete uns darüber hinaus weite, ungeahnte Perspektiven. Er erschloß uns die Welt.
Kommerell, Blanche (Hg): Max Kommerell. Spurensuche – mit einem Beitrag von Gert Mattenklott. Gießen 1993, S. 146
Von Rudolf Bultmann am Grab von Kommerell am 27.7.1944:
Wer ihn kannte, empfand die Weisheit seines Wesens und sieht sie jetzt klarer im Lichte der Todesmajestät, – diese Weisheit, die sich bald in verstehender Güte, bald in skeptischer Frage oder auch in zürnendem Protest gegen allzu sichere Meinungen und gegen große Worte, bald in lächelndem Humor, bald sogar in spielendem Narrentum.
Jens, Inge: Über Max Kommerell, in: Max Kommerell. Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, Olten / Freiburg im Breisgau 1967, S. 7
Geschrieben von Alexander Weigel zum 100. Geburtstag von Max Kommerell am 25.2.2002:
Kommerell war ein kleiner Mann, ein zarter und empfindsamer Mensch und kein Held. Doch entstand, wie seine Schüler bezeugen, um die Gestalt ihres unprofessoralen Professors, der nicht nur umfassend gelehrt war, sondern auch, wie seine “Kasperle-Spiele für große Leute“ zeigen, ein schwäbischer Schalk sein konnte, eine Atmosphäre des menschlichen Bewahrens und geistigen Widerstehens.
Weigel, Alexander: Georges abtrünniger Lieblingsschüler. Zum 100. Geburtstag des Literaturwissenschaftlers und Dichters Max Kommerell. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 47 vom 25.2.2002, S. BS5
Elfriede Ehl in einem Bericht über die Trauerfeier in der Universität Marburg:
[…] daß Kommerell zwar ein Virtuose darin war, sich unsichtbar zu machen, aber ebenso virtuos auch darin, für eine unabsehbare Zahl von Freunden und Schülern immer da sein zu können.
Kommerell, Blanche (Hg): Max Kommerell. Spurensuche – mit einem Beitrag von Gert Mattenklott, Gießen 1993, S. 158
Über seine Einstellung zu männlichen und weiblichen Studierenden schreibt Elfriede Ehl:
19.5.1942: Er klagte oft über seine Bestechlichkeit in der Beurteilung von Männern, da käme er einfach nicht klar. Bei Frauen finge er so langsam an dahinter zu kommen. Gewöhnlich sei es ja so: entweder es kribbelt einen, dann ist’s mit dem Urteil gleich ganz aus, oder es kribbelt einen nicht, dann wäre das Urteil wohl da, aber es wäre doch nicht das Richtige. Nun wäre er schon so weit, daß er, um zu urteilen, das Kribbeln suspendieren könne. Aber dann fände man oft eine große Leere und wünschte händeringend: ‚Ach, wenn’s doch wieder kribbeln täte!‘
Kommerell, Blanche (Hg): Max Kommerell. Spurensuche – mit einem Beitrag von Gert Mattenklott, Gießen 1993, S. 150
Ausschnitt: Titelseite der Kommerell-Biographie von Christian Weber aus dem Jahr 2011
(Weber, Christian: Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin/New York 2011)