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Goethe, Korff und die Politik

von Lotta Zipp

Goethes 170. Geburtstag im Jahre 1919 fiel in eine Zeit großer politischer Umwälzungen und gesellschaftlicher Kontroversen. Auf diese reagierte Hermann August Korff in seinem Frankfurter Jubiläumsvortrag „Der Geist des West-Östlichen Divans“, gehalten im Freien Deutschen Hochstift. Mit der „Frage nach der Zukunft Goethes“ (Korff: Geist, S. 17) nämlich nimmt der Literaturwissenschaftler Teil am allgemeinen politischen Diskurs. Seine ideengeschichtliche Analyse des goetheschen Spätwerks zielt auf die Erfassung des „Geist[s] des West-Östlichen Divans“ (ebd., S. 38), welchen er gleichsetzt mit dem „Geist Goethes“ (ebd.), doch steht die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung unter dem Vorzeichen der damaligen weltgeschichtlichen Entwicklungen.

Korff fühlt sich anlässlich des „Rufe[s] ‚Zurück zu Goethe!’“ (ebd., S. 15), welchen er vom deutschen Volk zu vernehmen glaubt, zu einer Präzisierung des goetheschen Wesens verpflichtet. Dies gibt seiner Ausarbeitung eine zusätzliche Dimension, welche von der rein literaturwissenschaftlichen abweicht und ins Gesellschaftlich-Politische hineinragt. Korffs Erörterung der Lage des deutschen Volkes sowie der Frage, ob eine Rückbesinnung auf Goethe für die weitere Entwicklung zuträglich sei, umrahmt seine wissenschaftlichen Überlegungen, womit diese zusätzlich die Gestalt einer politischen Positionierung annehmen. Um diese sichtbar zu machen, wird sich dieser Essay vornehmlich mit der Einleitung der Rede beschäftigen.

Korff beginnt seine Ansprache mit dem Verweis auf eine Redensart, welcher er verschiedene gesellschaftliche Funktionen zuweist: „Mit dem neuen Testament und dem Faust im Tornister seien die deutschen Soldaten in den Krieg marschiert“ (ebd., S. 13). Zum einen diene diese Aussage zur Abgrenzung des deutschen Soldatentums vom „Geiste vergangenen Hunnentums“ (ebd.), zum anderen stehe sie als „Symbol des deutschen Idealismus“ (ebd.) und damit als Symbol für die militärische Niederlage im Jahr 1918. So gilt diese Äußerung zur Absicherung der deutschen Identität als die einer hochzivilisierten Nation, da ebendiese Identität nicht nur durch die Propaganda der alliierten Mächte, sondern auch durch die jeweiligen Erfahrungen der Soldaten als bedroht angesehen wurde. Ferner muss eine allgemeingültige Erklärung für die militärische Niederlage gefunden werden. Die Selbstauffassung des deutschen Volkes als eines naturgemäß dem Idealismus anhängenden, welches somit nicht in der konkreten Realität bestehen kann, scheint eine der angebotenen Lösungsmöglichkeiten darzustellen.

„Faust“ und das „Neue Testament“ sind „das Symbol [...] für die Verkennung der Dinge und für das Vergreifen in der Wahl der richtigen Mittel, woran wir [Deutschland] politisch zugrunde gegangen sind“ (ebd.). Beide Bücher seien von vornherein nicht prädestiniert dafür, die deutschen Soldaten im Krieg seelisch zu unterstützen, daher „das Vergreifen in der Wahl der richtigen Mittel“ (ebd.). Der Geist, der im „Faust“ propagiert werde, sei der Geist des Individualismus und somit nicht kriegsförderlich, da nicht dem nationalen Gemeinschaftsgedanken dienlich. Korff demontiert somit all diese Versuche einer Sinngebung: So sei Irrealismus nicht gleich Idealismus, die Fehleinschätzung der allgemeinen Lage nicht durch diesen entschuldbar: „Das deutsche Volk hat längst aufgehört, das Volk Goethes zu sein“ (ebd., S. 14)! Korff sieht Deutschland in der Situation, sich vom Idealismus zwar wegentwickelt, ohne jedoch ein neues Ideensystem von gleicher Tragweite aufgebaut zu haben.[1] Den Beweis findet er im gegenwärtigen Zustand Deutschlands einen Monat nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags: Bismarck habe Deutschland zur Einigung geführt, die Nation aber sei nicht selbstständig dazu in der Lage gewesen, „das Bismarcksche Erbe […] zu erhalten“ (ebd.). Das Einzige, was Deutschland bliebe, sei die Sehnsucht nach Orientierung und nach einem neuen Ideensystem, die sich, wie oben erwähnt, in „dem Rufe ‚Zurück zu Goethe!’“ (ebd., S. 15) ausdrücke.

Es liegt nahe, dass Korff hier nicht nur Bezug auf die allgemein-gesellschaftliche Stimmung nimmt, sondern sich implizit auf die von Friedrich Ebert gehaltene Eröffnungsrede der ersten Nationalversammlung am 6. Februar 1919 bezieht,[2] besonders, da Ebert dort als Vorsitzender des Rates der Volksversammlung in seiner Funktion als „Volksbeauftragter“[3] auftritt. Während der Wandel der politischen Verfassung Deutschlands in Korffs Einleitung keinen Eingang findet, sieht Ebert diesen als das einzig Positive: „Diese Freiheit ist der einzige Trost, der dem deutschen Volke geblieben ist.“[4] Diese „Freiheit“ ermögliche es Deutschland nun, eine Wandlung zu vollziehen,

vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. […] Jetzt muss der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen. Wir müssen die großen Gesellschaftsprobleme in dem Geiste behandeln, in dem Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt hat: Nicht ins Unendliche schweifen und sich nicht im Theoretischen verlieren. Nicht zaudern und schwanken, sondern mit klarem Blick und fester Hand ins praktische Leben hineingreifen![5]

Korff sieht die Wahl des Idealismus als neue Orientierung als problematisch an, da sie nicht nur eine Rückwärtsbewegung anzeige, sondern zudem nicht passend für die aktuellen Bedürfnisse der deutschen Gesellschaft sei. Die nähere Zukunft umreißt Korff als „einen 40jährigen Marsch durch die Wüste“[6], wobei er hier nun explizit Bezug nimmt auf eine Rede des Außenministers Hermann Müller, die dieser am 9. Juli 1919 in der Nationalversammlung gehalten hat.[7] Diese Rede anlässlich der Beratung über die Ratifikation des Versailler Vertrags bezeichnet selbigen als „vertragsgewordene Vergewaltigung“,[8] wobei das Hauptaugenmerk auf den territorialen Verlusten liegt.[9] Korff fordert, dass man dieser Zukunft realistisch gegenübertreten müsse. Seinen Irrealismusbegriff weitet er an dieser Stelle aus, so steht er nun nicht mehr allein für die fehlgeschlagene Kriegspolitik der wilhelminischen Herrschaft, sondern ebenso für die Ebertsche Zukunftsvision:

[...] wenn wir uns wirklich dazu entschließen, den Faust zum Begleiter unseres Lebens zu machen, wenn dieser Marsch durch die Wüste im Ernste ein Marsch zu Goethe werden soll, dann sollten wir wenigstens so weit Realisten sein, daß wir uns keiner Täuschung darüber hingeben, was diese Goethewelt bedeutet, nach der wir unseren Kompaß richten. (Ebd.)

Aus Korffs Darlegung des goetheschen Geistes entwickelt sich ein Gegenentwurf zum Goethebild Eberts; aus der literaturwissenschaftlichen Arbeit wird eine politische Positionierung.

Korff gibt für die Wahl des „West-östlichen Divans“ zur Darlegung des Goetheschen Wesens mehrere Beweggründe an. Wiederum verknüpft er das Wissenschaftliche mit dem Politischen, wenn er jene Gedichtsammlung als „die Goethefrucht aus dem Erdreich [...] des Napoleonischen Zeitalters“ (ebd., S. 16) bezeichnet und erneut auf einen aktuellen Diskurs verweist. Er führt nämlich an, man habe die „weltgeschichtlichen Vorgänge [...] als die angewachsene Wirkung der Napoléonischen Epoche bezeichnen können“, einer „Epoche der nationalen Rivalitäten“ (ebd.). Diese betrachtet er mit dem Ersten Weltkrieg als abgeschlossen. Er sieht in dem 1819 erschienenen „Divan“ Goethes Antwort auf den Anfang jener Epoche und ihre gesellschaftlichen Probleme. Eine Antwort auf die Probleme an deren Ausgang aber könne somit nicht dieselbe sein. Korff setzt den Geist des „West-östlichen Divans“ gleich mit dem Goetheschen Geist an sich, da er „die tiefste Konsequenz seiner [Goethes] letzten Gesinnung dem Leben gegenüber“ (ebd., S. 38) gewesen sei. „Dieses Urphänomen Goethescher Gesinnung, [...] der Geist, [...] das ist, was wir uns vergegenwärtigen müssen, wenn wir uns über die Möglichkeit jenes Rufes ‚Zurück zu Goethe’ Klarheit verschaffen wollen" (ebd., S. 16f.).

Um Korffs Schlussfolgerung verstehen zu können, bedarf es einer kurzen Zusammenfassung seiner Argumentation. Korff sieht den „West-östlichen Divan“ als „aus dem Grundzuge Goethescher Art hervorgewachsen“ (ebd., S. 18). So sei Goethe nach Friedrich Nietzsche ein „weibliche[s] Genie“ (ebd., S. 19), welches sich durch andere literarische Vorbilder befruchten lasse. Jedoch handele es sich hierbei nicht um bloße Nachahmung, sondern um „die Einverleibung innerlich verwandter Formen“ (ebd., S. 20). Da eine jede Art der Wahrnehmung und Interpretation abhängig vom interpretierenden Individuum sei, beinhalte dieser Vorgang auch jeweils eine Weiterentwicklung des individuellen Wesens. So sei auch die widersprüchliche Betitelung des Werkes als „West-östlicher Divan“ der Beweis einer „bewußte[n] produktive[n] Auseinandersetzung“ (ebd., S. 18ff.) mit dieser Wechselwirkung.

Eine andere Gemeinsamkeit mit früheren Werken Goethes sieht Korff in der aus ihnen ablesbaren Suche des Autors nach „einer noch unproblematischen Kultur“ (ebd., S. 24). Darin liege auch das Gemeinsame seiner Affinität sowohl zum Griechentum als auch zum ‚Morgenland’, in ihrem „Gegensatze nämlich gegen die problematische Welt der modern-europäischen Kultur“ (ebd., S. 21). Diesen Wunsch nach einem „Jugendzustand der Menschheit“ in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau begreift Korff als Reaktion Goethes auf Zeiten der politischen Unsicherheit und der „Problematik des modernen mechanisierten Staates“ (ebd., S. 24). Durch seinen „Vergleich des gegenwärtigen Europa mit dem alten Orient“ (ebd., S. 26) versinnbildliche der „West-östliche Divan“ Goethes „Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ (ebd.).

In der Abkehr von der Idee der Entwicklung und der Hinwendung zu einem Gleichbleiben „der ewigen Urphänomene des menschlichen Lebens“ (ebd., S. 25), dessen Formen sich lediglich änderten, fände Goethe Zuflucht vor den gesellschaftlichen Umbrüchen. Damit gehe jedoch einher, dass der geschichtliche Prozess seine Bedeutung verliere. Korff verweist an dieser Stelle auf Arthur Schopenhauer, bei dem diese Lehre einen pessimistischen Charakter erhalten habe, und setzt Goethes Betrachtung dazu in Gegensatz. So verbürge für Goethe die ewige Wiederkehr des Gleichen auch die ewige Wiederkehr des Großen. Korff sieht dennoch in jenem Geschichtsbild ein kritisches Moment, so stelle der durch den „West-östlichen Divan“ verkörperte Goethesche Geist zu Zeiten der Freiheitskriege eine „Entwertung der Wirklichkeit durch den Glauben an ihre Belanglosigkeit“ (ebd., S. 38) dar. Auch wenn dies den „Sieg der reinen Betrachtung über die Versuchung zu handeln“ (ebd.) bedeute, sei es letztendlich nichts anderes als „die Entwertung der Wirklichkeit durch ihre symbolische Überbewertung“ (ebd.). Diese Auffassung des Goetheschen Geistes stünde freilich diametral zur allgemein herrschenden, die den „faustischen Helden als Mann der Tat“ (ebd., S. 39) begreife. Jedoch verkenne man die Tatsache, dass die Tat an sich für Goethe „keine Tätigkeit an der Welt, sondern eine Tätigkeit an sich selbst“ (ebd., S. 40) darstelle, ihr Wert nur in dem Zweck bestünde, „den Leistenden selber innerlich zu fördern“ (ebd.). „Ihr [der Tätigkeit nach Goethe] fehlt durchaus die Leidenschaft des wirklichen Tatmenschen, der die Welt nicht begreifen, sondern gestalten will, denn ihr mangelt zuletzt der Glaube an den Wert einer solchen Umgestaltung“ (ebd.). Dies verkennt also nach Korff auch Ebert, wenn er in seiner Eröffnungsrede vom Goetheschen Geist der Tat spricht, welcher sich in seiner „Faust“-Dichtung offenbare.

Solle Deutschland eine Zukunft haben, so müsse es auch an eine solche glauben, dies aber schließe die Goethesche Weltauffassung aus. Es sei also eine Frage der Einstellung: Sei die deutsche Nation optimistisch und ginge von der Möglichkeit der Schaffung neuer Lebensformen aus, so müsse nicht der Geist Goethes, sondern „der Geist der gläubigen Tat mächtig und mächtiger in [uns] werde[n]“ (ebd., S. 41). Eine Rückkehr zu Goethe jedoch hieße ein Bekenntnis zum Zukunftspessimismus.

Empfohlene Zitierweise

Lotta Zipp: Goethe, Korff und die Politik In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/Zipp


Endnoten

[1] Hier zeigt sich u.a. ein Merkmal der geistesgeschichtlichen Strömung, welche nicht von einem teleologischen Geschichtsbild ausgeht, sondern den Höhepunkt der deutschen Entwicklung in die Epoche der Weimarer Klassik bzw. der Romantik legt.

[2] Bayerische Staatsbibliothek: Reichstagsprotokolle, URL: www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00008.html (Zugriff am 15.03.2014).

[3] Ebd., S. 1.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 3.

[6] Korff: Geist, S. 15.

[7] Bayerische Staatsbibliothek: Reichstagsprotokolle, URL: www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000011_00678.html, (Stand: 15.03.2014).

[8] Bayerische Staatsbibliothek: Reichstagsprotokolle, URL: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000011_00678.html, S. 1408.

[9] Vgl. Korffs Äußerung zum „Bismarckschen Erbe“, in: Korff: Geist, S. 14.


Literatur

Bayerische Staatsbibliothek: Reichstagsprotokolle, URL: http:www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00008.html, (Stand: 15.03.2014)

Bayerische Staatsbibliothek: Reichstagsprotokolle, URL: http:www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000011_00678.html, (Stand: 15.03.2014)

Korff, Hermann August: Der Geist des West-Östlichen Divans. Hannover 1922