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Ernst Erich Noth

..."Steglitzer Schülertragödie"

Die Steglitzer Schülertragödie war Anlass zu einem der größten Sensationsprozesse in der Weimarer Republik. Noth war damals – noch unter dem Namen Paul-Albert Krantz – in diesen Mordfall verwickelt. Im ersten Teil seiner Autobiographie, den Erinnerungen eines Deutschen, beginnt die Schilderung des Falls mit folgenden Worten: „Dies Kapitel sollte ein anderer als ich schreiben. In eigener Sache ist kein selbstvereidigter Angeklagter schlechthin glaubwürdig, meinte er es noch so ehrlich (Noth: Erinnerungen, S. 119).“

Ernst-Erich Noth wächst in Berlin-Mariendorf in ärmlichen Verhältnisse auf. Aufgrund herausragender Leistungen in der Volksschule wird ihm dank einer Bildungsreform, die es minderbegüterten Schülern ermöglicht, eine weiterführende Schule zu besuchen, der Weg zum Studium eröffnet. Noth, der sich Zeit seines Lebens heimatlos fühlt („Mein Exil ist mir gleichsam schon an der Wiege gesungen worden.“ Noth: Erinnerungen, S. 95), erfährt bei seinem Schulwechsel das erste Mal das Gefühl der Entfremdung:

"Im Zusammenprall mit der Welt der Reichen wurde ich mir meiner Armut erst richtig bewußt. Unglücklicherweise lernte ich rasch, mich zu schämen. Und diese Entfremdung machte mich noch ärmer. Dieses Fremdlingstum durch künstlich induzierte Klassenlosigkeit ist auch für viele Andere zu einem drückenden Problem geworden, [...]." (Noth: Erinnerungen, S. 38)

Sowohl in der Schule als auch Zuhause beginnt für Noth eine schwierige Zeit: „Für die neuen Mitschüler ein unerwünschter Eindringling und für die früheren Gefährten ein verachteter Abtrünniger, wurde ich zwischen den Klassen klassenlos [...]“ (Noth: Erinnerungen, S. 50 f.). Der Ausgrenzung versucht er durch Anpassung zu entgehen.

Mit dem Älterwerden und der Flucht von Zuhause lockert sich das angespannte Verhältnis zum sozialen Umfeld und Noth schließt Freundschaft mit seinem Klassenkameraden Günther Scheller, der einen unverhohlenen Hass auf den angeblichen Liebhaber seiner Schwester Hilde verspürt. Zwar ist Noth sich nicht im Klaren über die Ursache dieser Feindschaft, trotzdem beschließen die jungen Männer gemeinsam unter Alkoholeinfluss im Morgengrauen des 27. Juni 1927 in die Steglitzer Wohnung der Eltern von Günther und Hilde Scheller zu fahren, wo jener seine Schwester mit seinem „Feind“ (Noth: Erinnerungen, S. 133) vermutet. Der Plan sieht vor, dass Scheller zunächst den Geliebten seiner Schwester und dann sich selbst erschießt, Noth anschließend Hilde Scheller erschießen und dann ebenfalls Selbstmord begehen soll. In der Autobiographie ist zu lesen:

"Was die Ereignisse dieser Unheilsnacht betrifft, bleibt die Tatsache bestehen, daß ich eine bange, dämonische Stunde lang in den wahnsinnigen Plan eines ‚Selbstmords zu Vieren’ eingewilligt habe. Daß ich nicht oder niemals gänzlich an die Möglichkeit seiner Verwirklichung glaubte und ihn zuletzt ebenso verzweifelt wie erfolglos zu hintertreiben suchte, ändert nichts an der gedanklichen Verfrevelung, die sich aus den wüsten Wirrungen dieser perversen Nacht gebar." (Noth: Erinnerungen, S. 134)

Die Schusswaffe, mit der Günther Scheller erst den Liebhaber seiner Schwester und anschließend sich selbst erschießt, stammt von einem Mitglied des Jungdeutschen Ordens, dem Noth und Scheller angehören, und wurde Noth „zur Aufbewahrung“ (Noth: Erinnerungen, S. 122) anvertraut. Er war dem Jugendbund nicht aus politischer Überzeugung beigetreten, sondern vielmehr, „weil einige [s]einer Klassenkameraden ihm angehörten und die Versammlungen, insbesondere aber die mit falscher Unschuld als ‚Wanderungen’ bezeichneten Massenaufmärsche […] eine willkommene Abwechslung boten“ (Noth: Erinnerungen, S. 106). Eine fundierte politische Meinung habe er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt. Diese wird sich erst während seiner Zeit als Odenwaldschüler und später als Student der Frankfurter Universität festigen.

Trotz verschiedener Verdachtsgründe - die Noth und sein Verteidiger allerdings zu widerlegen wissen - wird  er aus der achtmonatigen Untersuchungshaft in Berlin-Moabit entlassen. Das öffentliche Interesse an dem vorangegangenen Prozess verstummt nicht, doch der Neunzehnjährige findet Unterschlupf in der Odenwaldschule, in der er bis zum Beginn seines Studiums anderthalb Jahre verbringt.

Seine moralische Mitverantwortung am Mord räumt Noth nachträglich ebenso ein wie seine strafrechtliche Unschuld: „Denn alle Schuld an dieser Katastrophe einzig und allein auf Umwelt und Zeitverhältnisse, wie Schule, Elternhaus und Gesellschaftsentartung abzuwälzen, wie es in einem Großteil der Presse und öffentlichen Meinung gemacht oder versucht wurde, wäre ein allzu billiges Alibi“ (Noth: Erinnerungen, S. 121).

Literatur

Noth, Ernst-Erich: Erinnerungen eines Deutschen, Erstes Buch: Die deutschen Jahre, hg. von Lothar Glotzbach, Frankfurt am Main 2009