Norbert Elias: Eine Theorie der Menschenwissenschaften

von Benjamin Gerock

Norbert Elias zählt zu den herausragenden Klassikern der Soziologie. Sein Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ gehört zu den meist rezipierten soziologischen Schriften überhaupt. Doch heute ist den wenigsten bekannt, dass die beiden Bände durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges beinahe unbeachtet geblieben wären. Im Ausland war niemand interessiert an den Schriften eines deutschen Soziologen und in den deutschsprachigen Gebieten fehlte das Interesse und auch das Geld um sich die teure gebundene Ausgabe von Elias Werk zu beschaffen. 

Auch wenn sich dieser Text mehr mit der Gesellschaftstheorie von Elias auseinandersetzt, so soll doch auch ein kurzer Blick auf die Biographie geworfen werden, da sich hier wichtige Lebensabschnitte aufzeigen lassen, die maßgeblich zur Entstehung und Entwicklung der Theorie beigetragen haben.

Informationen zur Veranstaltung

Leitung:
Prof. Dr. Klaus Lichtblau
Veranstaltungsart: Seminar
Semester: WiSe 2012/13
Fachbereich / Institut: Gesellschaftswissenschaften (FB03), Institut für Soziologie, Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschichte und Systematik sozialwissenschaftlicher Theoriebildung
Studentische Beiträge: Brüche und Kontinuitäten in der Ausrichtung des IFS | Elias: Theorie der Menschenwissenschaften

1. Biographie

Norbert Elias wurde am 22.06.1897 in Breslau geboren. Nach eigenen Angaben wuchs er in einem sehr behüteten Elternhaus als Einzelkind auf. Er war zu Beginn sehr kränklich, weswegen er zunächst nicht wie die anderen Kinder eingeschult wurde, sondern seinen Unterricht zuhause von einem Privatlehrer erhielt. 1903 wechselte Elias auf das Breslauer Gymnasium, wo er 1915 als sehr guter Schüler das Abitur ablegte.

Direkt im selben Jahr wurde er zum Militär einberufen. Er meldete sich freiwillig bei einer Funker Einheit, da die Familie der Meinung war, dass er dort am sichersten aufgehoben sei. Nach einer kurzen Ausbildungszeit schickte man ihn an die Westfront. Die nachhaltigen Eindrücke von Zerstörung und Tod versetzten ihn in einen Schockzustand. Aus diesem Grund kehrte er 1917 nach Breslau zurück, um seinen restlichen Wehrdienst in einer Reservegarnison abzuleisten. Noch während seiner Militärzeit begann Elias das Studium der Medizin und der Philosophie an der Universität in Breslau. 1919 brach er das Medizinstudium nach dem Physikum ab, um sich ganz auf die Philosophie zu konzentrieren.

1923-24 beendete Elias sein Philosophiestudium mit dem Erwerb des Doktortitels. Zuvor jedoch entbrannte zwischen ihm und seinem Doktorvater Richard Hönigswald ein heftiger Streit über einige Kantkritische Ausführungen in seiner Dissertation.

„Meine Beziehung zu meinem verehrten Lehrer Richard Hönigswald, der auch mein Doktorvater war, hatte in einem ganz echten und kaum heilbaren Krach geendet. Ich war im Laufe der Arbeit an meiner Doktordissertation allmählich […] zu der Überzeugung gekommen, daß die Sache mit dem a priori nicht stimme. Ich konnte nicht mehr übersehen, daß alles, was Kant als zeitlos und vor aller Erfahrung gegeben auffaßte, sei es die Vorstellung einer Kausalverknüpfung, die der Zeit oder die natürlicher und moralischer Gesetze, zusammen mit den entsprechenden Worten von anderen Menschen gelernt werden müssen, um im Bewusstsein des einzelnen Menschen vorhanden zu sein. Als gelerntes Wissensgut gehören sie also zum Erfahrungsschatz des Menschen.“ (Elias, Norbert Elias über sich selbst, S. 120)

Hönigswald drohte die Dissertation nicht anzunehmen, wenn Elias nicht die einschlägigen Stellen aus dem Text herausstreiche. Nach langen Diskussionen willigte er ein und milderte die Kritik an Kant ein wenig ab.

Aufgrund der Inflation sah sich Norbert Elias nach dem Studium dazu gezwungen, eine Stelle als stellvertretender Leiter einer Fabrik für Kleineisenteile anzunehmen. Von Anfang an faszinierte ihn der Fabrikbesitzer, der den Konkurrenzkampf mit den anderen Firmen wie einen persönlichen Sport verfolgte. Diese Erfahrung spiegelte sich in seiner Figurationssoziologie wider, in der der Konkurrenzkampf zwischen den Menschen als Motor der langfristigen und ungeplanten Gesellschaftsprozesse fungiert.

Nachdem sich die finanzielle Situation seiner Eltern gebessert hatte, kündigte er seine Stelle, um erneut ein Studium, diesmal an der Heidelberger Universität, aufzunehmen. Da er allein in der Philosophie nicht die Möglichkeit sah seine Theorie voranzutreiben, studierte er nun Soziologie bei Alfred Weber.

In seiner Zeit in Heidelberg lernte er auch den jungen Soziologieprofessor Karl Mannheim kennen. Bald besuchte er dessen Vorlesungen ebenso häufig wie die Webers. Wohl eher inoffiziell wurde er somit zu Mannheims wissenschaftlichem Mitarbeiter.

Als Mannheim 1930 den Ruf an die Frankfurter Universität bekam, bot er Elias an ihn mitzunehmen. Auch eröffnete er ihm die Möglichkeit ihn innerhalb von drei Jahren zur Habilitation zu führen – wesentlich schneller als es ihm in Heidelberg bei Alfred Weber möglich gewesen wäre. Elias willigte ein.

Von 1930-33 lebte Elias in Frankfurt am Main und arbeitete als Assistent für Karl Mannheim. Da Mannheim nicht sonderlich viel Wert auf den Umgang mit den Studierenden legte, kam Elias die Aufgabe zu, sich um die Doktoranten zu kümmern. Er erledigte diese Arbeit sehr gewissenhaft, was ihm einen herausragenden Ruf unter der Studierendenschaft einbrachte. 

1933 reichte Elias seine Habilitationsschrift „Die Höfische Gesellschaft“ ein. Zum letzten Schritt im Habilitationsverfahren, der Antrittsvorlesung, kam es aufgrund der Machtergreifung der Nazis nicht mehr. Elias sah sich gezwungen ins Exil nach Frankreich zu gehen und beschloss dort abzuwarten, wie sich die Situation in Deutschland entwickle.

1933 bis 1935 lebte Norbert Elias in Paris. Die von ihm angestrebte Tätigkeit, die Arbeit an einer Universität, blieb ihm aufgrund des nicht abgeschlossenen Habilitationsverfahrens verwehrt. Ein erneutes Studium hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. 

Da Elias für sich in Frankreich keine Zukunft mehr sah, wechselte er 1935 nach England. Als er in London eintraf, war er ohne jegliche finanzielle Mittel. Ein jüdisches Flüchtlingskomitee unterstützte ihn mit gerade genug Geld, um sich ein Zimmer zu nehmen und das Nötigste zu essen zu kaufen. Von nun an ging er jeden Tag in die Bibliothek des Britischen Museums, um an seiner Gesellschaftstheorie weiter zu arbeiten. Hier stieß er schlussendlich auf die Benimmbücher des 13. bis 18. Jahrhunderts, anhand deren sich der langwierige Prozess gesellschaftlicher Entwicklungen aufzeigen ließ, der die Grundlage für die beiden Bände „Über den Prozeß der Zivilisation“ bildet.

1939 wurden beide Bände unter erheblichen Schwierigkeiten in der Schweiz gedruckt. Elias verschickte die ersten Ausgaben an Freunde und mögliche Rezensenten, um das Buch publik zu machen. Einer der Adressaten war Thomas Mann, der sich in einem Tagebuchauszug durchaus positiv über Elias‘ Werk äußerte (Korte, Norbert Elias, S. 323): „Das Buch von Elias ist wertvoller als ich dachte. Namentlich die Bilder aus dem späten Mittelalter und der ausgehenden Ritterzeit.“ (Mann, Tagebücher 1937-1939, S. 440ff.)

Trotz positiver Resonanz war Elias‘ Werk zunächst kein Erfolg beschieden. Viele Jahre musste er sich in Londoner Vororten als Volkshochschullehrer verdingen, bis er dann 1954 eine Dozentenstelle am Department of Sociology der University of Leicester angeboten bekam. Von 1962 bis 1964 bekleidete er eine Professur an der University of Ghana.

Als er 1965 als Gastprofessor in Münster – das erste Mal nach seiner Flucht – nach Deutschland zurückkehrte, waren seine Schriften immer noch weitgehend unbekannt. Laut Hermann Korte waren die meisten Westdeutschen Sozialwissenschaftler in dieser Zeit noch zu sehr mit einer intensiven Marx-Rezeption beschäftigt. Erst 1976, als sich die Erklärungskraft der historisch-materialistischen Analysen als nicht weitreichend genug erwies, rückte Elias Werk in das Blickfeld der Soziologen. Eine im Suhrkamp Verlag erschienene, günstige Taschenbuchausgabe verkaufte sich binnen weniger Monate gleich 20.000-mal. (Korte, Norbert Elias, S. 323f.). 

1977 gelang Norbert Elias mit der Verleihung des ersten Adorno-Preises der große Durchbruch. Er gab ihm den Ansporn bis zum Ende seines Lebens noch zahlreiche Schriften zu den verschiedensten Themen zu veröffentlichen. Die Grundlage für alle nachfolgenden Veröffentlichungen blieben die bereits in den dreißiger Jahren entwickelten Kernthesen aus „Über den Prozeß der Zivilisation“ (ebd. S. 324). 1984 ließ sich Elias endgültig in Amsterdam nieder, wo er am 1. August 1990 verstarb.

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2. Eine Theorie der Menschenwissenschaften

In seiner philosophischen Dissertation „Idee und Individuum“ 1924 beschäftigte sich Elias mit erkenntnistheoretischen Problemen, die sich aus dem prozesshaften Charakter menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaften ergeben. Der Geschichte liegt, laut Elias eine eigentümliche Struktur, eine „Idee“ zugrunde. Diese Idee entspricht dem jeweiligen Zeitgeist bzw. der Kultur einer Epoche. Die Art und Weise, wie nun die „Idee“ auf das geschichtliche Individuum wirkte, geben dem Forscher nicht nur Erkenntnis und Klarheit über den Aufbau der Geschichte, sondern helfen ihm gleichzeitig seine eigenen Thesen zu prüfen.

„Unter dem Begriff der Idee versteht Elias somit einen Komplex von Strukturierungsprinzipien, die den Forschungsprozess von der Auswahl der Forschungsprobleme bis zur Interpretation der Ergebnisse leiten“ (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 31).

Was Elias umtreibt, ist die Suche nach geeigneten Kriterien um dogmatisch-ideologische Geschichtswissenschaften von kritischen Geschichtswissenschaften zu unterscheiden. Dogmatisch–ideologische Geschichtswissenschaften nehmen das heutige Menschenbild mit seinen politischen Verflechtungen, als Maßstab für die Analyse vergangener Epochen. Elias Auffassung zufolge, kann dadurch niemals zum wahren Kern geschichtlicher Prozesse vorgedrungen werden. Nur eine kritische Geschichtswissenschaft, die sich selbst als Ergebnis der langwierigen, ungeplanten Prozesse begreift, die sich ihrer engen Verknüpfung mit der Entstehung menschlicher Gemeinschaft bewusst ist, kann diesen Dienst leisten. Hierin begründet sich auch Elias Ablehnung gegenüber dem Kantischen a priori. Was Kant als von der Erfahrung unabhängig gegeben ansieht, hat für Elias seinen Ursprung in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, die weder einen bestimmbaren Anfangs- noch Endpunkt haben. 

Elias umfassende Gesellschaftstheorie, stellt sich somit dem Leser als eine Theorie der „Menschheitsentwicklung“ da. Schon in seiner Dissertation „Idee und Individuum“ ist eine Abkehr von den traditionellen Philosophischen Denkweisen erkennbar. Seine Arbeit folgt mehr dem „anthropologischen Wandel“, einer am Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts entstandenen philosophischen Strömung, deren Anhänger durch Miteinbeziehung empirischer und historischer Elemente, nach neuen Möglichkeiten der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene suchten. Der Streit mit seinem Doktorvater Hönigswald, öffnete ihm die Augen, dass die Philosophie alleine ihn nicht zum Ziel führen würde. Er war der Meinung, dass man sich bei der Erforschung gesellschaftlicher Entwicklungen, nicht auf die Soziologie oder Philosophie allein stützen kann. Vielmehr sei es wichtig, die verschiedensten Wissenschaften, die eben zur Erklärung gesellschaftlicher Prozesse nötig sind, auch heran zu ziehen. (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 35f.)

Mitte der zwanziger Jahre wendete sich Elias der Soziologie zu. In seinem Denken vollzog sich damit der Wandel, weg von der „Gegenüberstellung abstrakter idealtypischer Begriffe“ (ebd. S. 34), hin zu empirisch-theoretischen Untersuchungen, also der kontrastiven Betrachtung von Idealtypen und Realtypen.

Des Weiteren setzt Elias auf einen interdisziplinären Forschungsansatz. Zwar wird die Analyse der Gesellschaft von vielen einzelnen Disziplinen vorangetrieben, jedoch vollzieht sie sich in einem isolierten, nur auf die jeweilige Wissenschaft beschränkten Gebiet. Diese „künstlichen Grenzpfähle“ (ebd. S. 38) gilt es Niederzulegen, da sich menschliche Psyche, Struktur und Geschichte nur als reziprok voneinander abhängende Merkmale erforschen lassen. In Elias Forschungsprogramm werden die Ansätze der unterschiedlichen Disziplinen, unter einer Hauptdisziplin zusammengefasst. Der Menschenwissenschaft.

„Elias Forschungsprogramm, das auf Vorarbeiten mit ähnlicher Intention nicht zurückgreifen konnte, erforderte ein universalgeschichtliches Studium und ein neuartige, interdisziplinäre Synthese verschiedenster Wissenschaftszweige“ (ebd. S. 36).

Der Soziologe Johan Goudsblom unterteilt das Elias´sche Forschungsprogramm in drei Teilbereiche, mit denen sich die Einzeldisziplinen arbeitsteilig auseinandersetzen sollen. 

„(1) Jeder Mensch macht in seinem Leben eine Reihe von Lernprozessen durch, in denen er sich gesellschaftliche Verhaltensnormen zu eigen macht; (2) diese gesellschaftlichen Normen unterscheiden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und verändern sich im Laufe der Zeit; (3) die Normen der verschiedenen Gesellschaften sind nicht unabhängig voneinander, sondern sind Teil von Entwicklungen, die letzten Endes die gesamte Menschheit umfassen“ (ebd. S. 39f.). 

Das bedeutet, dass der Zivilisationsprozess, den jeder Einzelne durchlebt, nicht von außen an das Individuum herangetragen wird. Es ist vielmehr eine immanente Folge der Beziehungsverflechtungen, die die Menschen miteinander bilden. Daraus entsteht eine Verkettung, die bei anwachsender Interdependenz der Gesellschaft, zu einer immer höheren Anpassung des Bewusstseins und des Triebhaushaltes zwingt.

Elias Begriff der Figuration soll deutlich machen, dass es sich bei der Gesellschaft nicht nur um eine aufsummierte Masse von Individuen handelt. Auch stellt Gesellschaft kein ganzheitliches System da, welches jenseits des Menschen existiert, sondern es ist das Interdependenzgeflecht selbst. Es gibt Figurationen höherer und niedriger Ordnung. Aber auf all diesen verschiedenen Ebenen herrschen systemimmanente Spannungen und Konflikte. Entstanden durch den Druck, den die Menschen innerhalb der Gesellschaft aufeinander ausüben. 

„Gerade die Tatsache, daß die anderen, wie man selbst, einen eigenen Willen haben, setzt der Eigenwilligkeit eines jeden von ihnen Grenzen, gibt ihrem Zusammenleben eine eigene Struktur und eine eigene Dynamik, die man weder verstehen noch erklären kann, wenn man jeden einzelnen Menschen für sich betrachtet; man kann das nur, wenn man von der Vielheit des Menschen, von den vielfältigen Graden und Arten ihrer Abhängigkeit und ihrer Angewiesenheit aufeinander ausgeht“ (Elias, Norbert Elias über sich selbst, S. 184).

Die von Elias beschriebenen Figurationen, haben einen prozessualen, dynamischen Charakter, der sich empirisch auf die normalen Struktureigenschaften von Figurationen und Menschen zurückführen lässt. Laut Elias kann „[…] alles, was geworden und immer im Werden ist, auch Theoretisch nur als Gewordenes und Werdendes erfaßt werden“ (Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 31). In der modernen Soziologie wird der Begriff sozialer Wandel häufig auf Umbruchphasen angewendet, die als veränderndes Moment zwischen zwei statischen Phasen auftreten.

Für Elias stellt sich sozialer Wandel als eine Vielzahl parallel verlaufender, langfristig-strukturierter und ungeplanter Prozesse in der Menschheitsentwicklung da. Was andere Sozialwissenschaftler als statische Phasen in der Geschichte begreifen, sieht Elias ebenfalls als „dynamische, reproduktive oder zyklische Prozesse an“ (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 45). Ihr Wandlungstempo ist nur so langsam, das sie sich, gemessen an der Lebensdauer eines einzelnen Menschen, als unveränderlich darstellen. 

Auch die Gegenwart lässt sich von den Soziologen nur erklären, wenn sie als Ausschnitt der langfristigen-ungeplanten Strukturwandlungen gesehen wird, in der jede geplante und organisierte Handlung bzw. Entwicklung als eine Antwort auf eine umfassendere ungeplante Entwicklung verstanden wird. Mit dieser Erkenntnis geht auch die Elias´sche Kritik an der Geschichtswissenschaft einher. Er wirft ihr vor, dass sie geschichtliche Veränderungen oft nur einzelnen außergewöhnlichen Individuen zuerkennt, ganz so als stehen diese außerhalb der gesellschaftlichen Interdependenzgeflechte. In Wirklichkeit seien deren Handlungen und Entscheidungen, aber auch nur als Reaktionen auf die langfristig-ungeplanten Entwicklungsprozesse zurückzuführen. Bezogen auf die Menschenwissenschaften kommt der Geschichtswissenschaft in Elias‘ Forschungsprogramm eine Sonderfunktion zu. Anhand der historischen Quellen, müssen die theoretischen Überlegungen geprüft werden. Nur so kann die Richtigkeit der Forschungsergebnisse gewehrleistet werden. 

Ebenso spielt die Psychologie im Programm der Menschenwissenschaften eine wichtige Rolle. Besonders in Bezug auf die Veränderung der menschlichen Persönlichkeitsstrukturen, die immer den sich wandelnden Normen im Gesellschaftsgefüge angepasst werden müssen. Das Leben in den spezifischen Figurationen hat die Menschen verschiedenster Epochen auch immer in spezifischer Form geprägt. Die Sozialisation des Individuums im jeweiligen zeitlichen und kulturellen Kontext lässt sich als eine „zweite soziale Geburt“ (ebd. S. 48) begreifen. Die jeweiligen Verhaltensstandards, die in dieser Phase die Persönlichkeitsentwicklung prägen, sind auch wiederum das Ergebnis langfristiger-strukturierter ungeplanter sozialer Prozesse. Die unterschiedlichen und mit der Zeit wandelbaren Figurationen führen nicht nur zur Ausprägung mannigfaltiger Sozialisationsinstitutionen, sondern auch generell zu einer großen Variation von Lebens- und Sozialformen. 

Elias zieht in seinem Forschungsprogramm keine scharfe Trennung zwischen der Individual- und der Sozialpsychologie. Seiner Auffassung nach sind äußere, gesellschaftlich bedingte sowie individuelle Persönlichkeitsstrukturen untrennbar miteinander verknüpft. Verhalten, Trieb und Gewissen sind so tief in das Bewusstsein eingebrannt, dass sie sowohl natürliche wie auch soziale Eigentümlichkeiten aufweisen (ebd. S. 49). 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das interdisziplinäre Forschungsprogramm Elias‘, den widernatürlichen Grenzziehungen der etablierten Einzeldisziplinen wiedersetzt, ohne ihnen eine relative Autonomie abzusprechen. Eine auf eine einzelne Wissenschaft gegründete Forschungsarbeit muss an dem jeweiligen Forschungsgegenstand begründbar sein. 

Eine Synthese der verschiedenen Wissenschaften, wie Elias sie fordert, lässt sich nicht einfach durch eine wahllose Aneinanderreihung verschiedener wissenschaftlicher Forschungsmethoden bewerkstelligen. Die Einzelergebnisse müssen in einer klaren Struktur zueinander stehen, damit sich aus ihnen ein geschlossenes Gesamtmodell ableiten lässt. In Elias‘ eigenen Worten: „Der Fundus des gesicherten historischen Einzelfundus wächst, aber das Wachstum des gesicherten Wissens von den Zusammenhängen der Details hält damit nicht Schritt“ (Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 57f.). Ein weiterer Fehler, der sich in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zeigt, ist die Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Gesellschaftswissenschaften. Menschliche Eigentümlichkeiten könne oft nur sehr verknappt dargestellt werden, da die Forschungsmethoden nicht geeignet sind, um komplexere gesellschaftliche Phänomene darzustellen.

Elias möchte mit seiner Theorie der langfristig-strukturierten sozialen und psychischen Prozesse, die Grundlage für eine Theorie der Menschheitsentwicklung schaffen. Seine Theorie stellt sich somit auch als „Bezugsrahmen“ für weitergehende Forschungen da (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 51).

„Mir selbst kam diese Aufgabe allmählich zu Bewußtsein, noch vage in der Heidelberger, etwas schärfer umrissen in der Frankfurter Zeit, und diese Aufgabe, eine Zentraltheorie der Soziologie zu entwerfen, die empirienahe, also überprüfbar und korrigierbar ist, den Grundstock eines Theoriegebäudes zu legen, auf dem spätere Generationen aufbauen, das sie je nachdem verwerfen, korrigieren oder auch weiterentwickeln können- dieser Aufgabe ging ich mit wachsender Bewußtheit nach und arbeitete an ihr bis heute durch alle die vielen Sonderaufgaben hindurch, die meines gewundenen Weges kamen“ (Elias, Norbert Elias über sich selbst, S. 172).

In den nächsten Kapiteln soll nun die oben angeführte Theorie näher an Elias‘ Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ erläutert werden.

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3. Über den Prozeß der Zivilisation

Norbert Elias setzt seinem Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ zunächst eine Reflexion über den Begriff „Zivilisation“ voran. Zivilisation kann sich auf den Stand der Technik beziehen, die Art des zwischenmenschlichen Umgangs oder das politische System. Elias konstatiert, dass es sich bei dem Zivilisationsbegriff um einen Sammelbegriff handelt, dessen Bedeutung sich nur schwer in knappen Worten ausdrücken lässt. Was sich aber mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen lässt, ist dass der Begriff der Zivilisation, vor allem in der Zeit der Entstehung dieses Werkes, zur Abgrenzung von anderen „primitiveren“ Völkern verwendet wird. Mit diesem Begriff verbindet sich eine gewisse Form von Stolz auf das eigene gesellschaftliche System und die technischen Errungenschaften. Dabei wird oft die bestehende Form der Gesellschaft, der jeweilige Zivilisationsgrad als natürlich gegeben hingenommen. Es wird verkannt, dass sich die Gesellschaft in einem Prozess befindet, der wie bereits oben angeführt keinen Anfangs- und keinen Endpunkt hat. Dazu Elias: „Die Zivilisation, die wir gewöhnlich als ein Besitztum betrachten, das uns so, fertig, wie sie uns erscheint, einfach zukommt, ohne zu fragen, wie wir eigentlich dazu gekommen sind, ist ein Prozeß oder Teil eines Prozesses, in dem wir selbst stehen“ (Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 74f.). Schon im Vorwort von „Über den Prozeß der Zivilisation“ stellt Elias die Fragen, deren Beantwortung die Kernthesen seiner Schrift bilden. „Wie ging eigentlich diese Veränderung, diese „Zivilisation“ im Abendlande vor sich? Worin bestand sie? Und welches waren ihre Antriebe, ihre Ursachen oder Motoren?“ (ebd. S. LXXII) Diese Fragestellungen versucht Elias anhand einer Theorie langfristiger Prozesse nachzuweisen, die sich auf eine Analyse der abendländischen Gesellschaft vom 9. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert erstreckt.

Untersucht werden hierbei die soziogenetischen sowie psychogenetischen Aspekte, die als sich gegenseitig bedingende Prozesse zur Entwicklung moderner Gesellschaften führten. Unter Psychogenese versteht Elias die Umformungen der menschlichen Persönlichkeitsstrukturen, hin zu einer ausgeprägteren „Zivilisierung“ des Verhaltens. Die Soziogenese bezeichnet einen Wandel der Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen, die von einem anwachsen sozialer Ungleichheit, also einer Herausbildung von Ständen, Klassen und Schichten begleitet werden.

Aus diesen Untersuchungseinheiten entwickelt Elias zwei Theorieansätze. Einerseits die „Zivilisationstheorie“ des Verhaltens- bzw. Persönlichkeitswandels und die „Staatsbildungstheorie“, die sich mit dem Aufbau und der Entstehung von Staaten befasst.

Dem Zivilisationsprozess zugrunde liegt eine zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die sich aus dem Konkurrenzdruck zwischen den einzelnen Individuen um zunehmende Produktionssteigerung ergibt. Durch die höhere Arbeitsteiligkeit entsteht eine Abhängigkeit von den Mitmenschen, die zu einem „zivilisierteren“ Umgang miteinander drängt. Der Einzelne ist somit gezwungen seine Triebe mehr und mehr zu kontrollieren, will er weiter Teil dieser arbeitsteiligen Gesellschaft und ihrer Versorgungsgeflechte sein. Die Wandlung der psychischen Strukturen, die mit der wachsenden Interdependenz der Menschen einhergeht, ermöglicht ihrerseits wieder eine weiterreichende Ausdifferenzierung der Gesellschaft.

Hier wird deutlich, wie sehr die soziogenetischen Aspekte von den psychogenetischen Aspekten abhängen, und wie sehr sich diese gegenseitig befördern. 

Je mehr die Interdependenz der Menschen wächst, je weitreichender und komplexer die Handlungsketten werden, in die der Mensch eingebunden ist, desto mehr muss menschliches Handeln voraussehbar und regulierbar sein. Diese Tatsache führt dazu, dass sich die Affektkontrolle, der sich der Einzelne unterwerfen muss, zunehmend in die Persönlichkeitsstruktur des Menschen einbindet. Er benötigt nun zusehends weniger Druck von außen, um sich an gesellschaftliche Normen zu halten, da er sie schon frühzeitig in der Phase der Sozialisation verinnerlicht hat, sie somit Teil der Selbstkontrolle geworden sind.

Diese Prozesse bilden die Grundlage moderner Staaten und ihrer Institutionen. Nur durch die Selbstkontrolle der eigenen Aggressivität ist eine ausdifferenzierte Gesellschaft wie die moderne möglich.

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a. Untersuchungen zur Psychogenese

Um die psychologische Entwicklung des Menschen geschichtlich zu erforschen, bedient sich Elias alter Manieren-Bücher. Dies mag zunächst sonderbar anmuten. Vor allem wenn man sich die Methoden der regulären Geschichtswissenschaften vor Augen hält, die sich mehr auf die herausragenden Ereignisse und Persönlichkeiten konzentriert. Doch was Norbert Elias sucht, ist ein Zugang zur Alltagsgeschichte. So liegt der Fokus der Untersuchungen auf dem alltäglichen Verhalten der Menschen in den vergangenen Epochen. Einen solchen Zugang stellt das 1530 erschienene Buch „De civilitate morum puerilium“ (Über die guten Sitten der Kinder) von Erasmus von Rotterdam da. Als eines der ältesten Manieren-Bücher überhaupt, behandelt es Themen, die dem modernen Menschen als selbstverständlich und deshalb nicht der Rede wert erscheinen. Ganz im Gegenteil. Bei manchen Schilderungen kann man sich eines leichten Schamgefühls nicht erwehren. Hier ein weniger drastisches Beispiel:

“Digitos unctos vel ore praelingere, vel ad tunicam extergere, pariter incivile est: id mappa potius aut mantili faciendum” (Die fettigen Finger abzulecken oder am Rock abzuwischen, ist unzivil. Man nimmt dazu besser Tischtuch oder Serviette. (ebd. S. 118)). 

Auch sind aus Erasmus‘ Schrift Schilderungen des Alltags zu entnehmen. Sie geben in einem besonderen Maß Aufschluss über die Lebensgewohnheiten der Menschen seiner Zeit. „Erasmus ebenso, wie die anderen, die vor ihm oder nach ihm über das Verhalten und die Art des Umgangs geschrieben haben, sind zunächst einmal Sammler von Sitten und Unsitten, die sie im gesellschaftlichen Leben selbst vorfinden“ (ebd. S. 93). Genau das ist es was Elias sucht. Berichte von Zeitzeugen, anhand deren Schilderungen sich der Wandel gesellschaftlicher Verhaltensformen aufzeigen lässt. 

Die umfangreichen Quellen aus denen Elias breit in „Über den Prozeß der Zivilisation“ zitiert, lassen dem Leser deutlich vor Augen treten, dass der Mensch nicht seit jeher das zivilisierte Wesen war, für das er sich heute hält. Die Umgangsformen moderner Gesellschaften sind nicht als natürliche, dem Menschen eigen aufzufassen, sondern lediglich das Zwischenergebnis eines langfristig-strukturierten ungeplanten Prozesses der Menschheitsentwicklung (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 58).

Im frühen Mittelalter, das am Anfang des Analyseabschnittes steht, ist von den Wandlungsprozessen noch nicht viel zu erkennen. Die Menschen lassen sich noch fast ungehindert von ihren Trieben und Affekten leiten. Es gibt kaum Regeln für das soziale Leben. Nur allzu leicht noch fallen die Menschen in wilde Raserei. Konflikte und Gewaltausbrüche sind Teil des Alltagslebens. „Dieses triebbestimmte Verhalten ändert sich während des Mittelalters wenig, sieht man einmal davon ab, daß etwas später die Forderung auftaucht, nicht mehr auf den Tisch, sondern nur noch unter den Tisch und an die Wand zu spuken“ (ebd. S. 59). Erst zum Ende des Mittelalters beginnen sich langsam Verhaltensregeln zu etablieren. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts setzt sich langsam, von Italien ausgehend, die Benutzung von Essbesteck bei den adligen Oberschichten durch.

In der Renaissance, dem Wirkungszeitraum Erasmus von Rotterdams, kommt den Manierenlehren eine größere Bedeutung zu. So sieht der Einzelne sich nicht nur einer Vielzahl neuer Regeln gegenübergestellt, die angeben was zivilisiert und unzivilisiert ist, sondern er ist auch dazu gehalten, sich selbst zu beobachten. Die ansteigende Abhängigkeit der Menschen voneinander findet nun ihren Ausdruck in einer anwachsenden Selbstkontrolle (ebd. S. 59).

Von diesem Zeitpunkt an vollziehen sich der Wandel und die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Verhaltensregeln in immer schnellerem Tempo, bis sie in der höfischen Gesellschaft ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Verwendung kostbaren Tafelbestecks und die Konversation in einer strengen, spezifisch höfischen Sprache gehören, zumindest in der Oberschicht, zum Standard. Diese Entwicklung führt gleichzeitig zu einer stärkeren Abgrenzung der höfisch-aristokratischen Gesellschaft von der Unterschicht. Nur wer die neuen Verhaltenscodes kennt und weiß sie anzuwenden, kann am höfischen Leben teilhaben. Es ist dabei nicht so zu verstehen, dass Mittel- und Unterschicht nicht von diesen Entwicklungen beeinflusst werden, aber es dauert erhebliche Zeit, bis die neuen Verhaltensmuster bis zu ihnen durchgesickert sind. So wie sich das Verhalten an der Tafel ändert, ändert sich auch die Sichtweise auf Sexualität und sonstige körperliche Verrichtungen. Sie sind zunehmend mit einem Peinlichkeitsgefühl belegt und verlagern sich von daher mehr und mehr in den privaten Bereich (ebd. S. 60).

Der Wandel der Persönlichkeitsstruktur, hin zu einer höheren Affektkontrolle, vollzieht sich zunächst durch die Einsetzung von Verboten, deren Einhaltung durch gesellschaftliche Sanktionen gesichert wird. Zu Anfang wirken also Fremdzwänge auf das Individuum, die sich nach gewisser Zeit in Selbstzwänge verwandeln. Diese greifen auch unabhängig von gesellschaftlichen Sanktionen und sind damit dauerhaft in das Bewusstsein der Individuen eingeschrieben.

„Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen lagern sich in einer Weise um, daß die Zwänge, die die Menschen aufeinander ausüben, sich in dem Einzelnen immer ausgeprägter in Selbstzwänge verwandeln; die Über-Ich Bildung wird immer fester. Es ist mit einem Wort jener Sektor des Individuums, der den gesellschaftlichen Code repräsentiert, es ist das eigene Über-Ich, das heute den Einzelnen dazu anhält, sich regelmäßig zu waschen und zu säubern“ (Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 329).

Noch weitreichendere Folgen als bei den Tischsitten und körperlichen Verrichtungen hatte die Psychogenese in Bezug auf die Aggressivität. Gehörten Mord und Todschlag im Mittelalter noch fest zum gesellschaftlichen Leben, so weicht die Aggressivität in den darauffolgenden Jahrhunderten mehr und mehr der Selbstkontrolle. Es wäre hierbei aber zu einfach zu behaupten, dass die Menschen des Mittelalters lediglich verroht waren. Aggressivität und eine hervorragende körperliche Konstitution stellten in der damaligen Welt, in der sich Gesetze und gesellschaftliche Normen gerade erst entwickelten, eine überlebenswichtige Grundvoraussetzung da (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 62).

„Die Grausamkeitsentladung schloss nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. […] Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude. Bis zu einem gewissen Grade drängte sogar der gesellschaftliche Aufbau in diese Richtung und machte es notwendig, ließ es als zweckmäßig erscheinen, sich so zu verhalten“ (Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 268).

In modernen Gesellschaften, in denen das Gewaltmonopol einzig beim Staat liegt, ist es unumgänglich, dass die persönliche Aggressivität einer effektiven Selbstkontrolle unterliegt. Anders wäre ein Zusammenleben so vieler Individuen in einer funktionsteiligen Gesellschaft nicht möglich.

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b. Untersuchungen zur Soziogenese

Im Mittelalter war den meisten Großreichen kein langes Leben beschieden. Der Grad gesellschaftlicher Differenzierung und die Fähigkeit zur Organisation waren noch zu wenig ausgeprägt, um den zentrifugalen Kräften, die im Inneren das Reich auseinander drängten, entgegen zu wirken. Desto größer ein Königreich wurde, umso größer war die Gefahr, dass es wieder auseinander brach. Die Herrscher des frühen Mittelalters verfügten noch nicht über Steuereinnahmen, mit denen sie ein stehendes Heer hätten finanzieren können. Der einzige und wichtigste Besitz war der von Boden. Wurde ein Reich zu groß, so musste der König Vasallen einsetzen, die sich an seiner statt um die Herrschaft im jeweiligen Gebiet kümmerten. Dies hatte einerseits zur Folge, dass er Land unwiederbringlich an seine Herzöge, Barone oder wer auch sonst sich um das Land kümmerte, abtreten musste. Andererseits schuf er sich mit den kleinen Zentralherren nicht selten Konkurrenten, die dann alleine oder im Verband mit anderen gegen ihn aufbegehrten. Das ganze Mittelalter ist geprägt von Königen, die die Macht an sich reißen und dann wieder verlieren, weil sie durch Allianzen ihrer Untergebenen aus ihrer Machtposition ausgehebelt werden. Ihre Macht konnte wieder zunehmen, wenn die Vasallen sie zur Verteidigung vor Feinden von Außerhalb benötigten. Diese, stetig gegen den Untergang ankämpfenden natural wirtschaftenden Reiche, lassen noch kaum staatsähnliche Strukturen erkennen.

Während die Feudalherren weiter Kriege um Boden führten, der in Europa längst Mangelware geworden war, vollzog sich bei den Unterschichten eine Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Aufgaben, die unmittelbar mit der Bodenknappheit in Verbindung steht. Die einzige Möglichkeit, die einem Menschen ohne Grund und Boden übrigblieb, war eine Arbeit zu suchen, die nicht unmittelbar den Besitz von Boden voraussetzte. So bildete sich Handwerk, Handel und Gewerbe als außerhalb des agrarischen Sektors liegende Gewerke heraus, die sich vor allem in den neu gegründeten Städten niederließen (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 66).

Die steigende wirtschaftliche Macht der Städte verhalf dem Bürgertum sich nach und nach von den Lehnherren loszulösen. Die zunehmende Arbeitsteilung führte zum Wandel von der Natural- zur Geldwirtschaft. Die Ausweitung des Handels machte einen Ausbau der Infrastrukturen unabdinglich. 

„Um das komplexer werdende Ineinandergreifen der interdependenten Teilfunktionen und -Einheiten reibungslos bewältigen zu können, müssen entsprechende immaterielle Infrastrukturen geschaffen werden, unter denen das Geld als abstraktes Tauschmittel und das Recht als überindividuell gültiges, kalkulierbares System von Verhaltensnormen die wichtigsten darstellen“(ebd. S. 67).

Die Konzentration der Macht auf einzelne Personen folgt einem gewissen Schema: In einem „gesellschaftlichen Raum“ leben eine gewisse Anzahl von Menschen und es gibt eine gewisse Anzahl von „Chancen“ die aber nicht ausreichen, um alle Menschen in diesem Gebiet zufrieden zu stellen. 

Ganz nach Thomas Hobbes „Leviathan“ kommt es zum „Bellum omnium contra omnes“, zum Krieg aller gegen alle. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kämpfe unentschieden ausfallen oder sich in einem Gleichgewicht einpendeln, ist sehr gering. Demnach wird es je einen Gewinner und einen Verlierer geben. Dem Gewinner gelingt es so eine größere Anzahl von Chancen zu akkumulieren. Ausgestattet mit dieser Macht beginnt er einen Kampf mit einer Person, die ebenfalls als Gewinner aus einem der Kämpfe hervorgegangen ist. Elias merkt an, dass es natürlich nicht immer nach diesem simplen Schema abläuft. Es sei auch möglich, dass sich z.B. eine Gruppe zusammenfindet, die zuvor als Verlierer aus den Kämpfen um die Chancen hervorgegangen sind, um gemeinsam gegen einen der Gewinner anzutreten. Dies würde aber nichts daran ändern, das sich im Laufe der Gefechte die Chancen zunehmend in der Hand einiger weniger befinden und eine wesentlich größere Zahl von Menschen aus den Kämpfen ausgeschieden wären. 

Am Ende fällt die komplette Macht nur noch einer Person zu. Die Herrschenden werden von Elias als „Ungebundene“ bezeichnet, die Unterlegenen als „Gebundene“. Es sei hierbei aber auch nicht so zu verstehen, dass diese Gesellschaft nur noch aus Ungebundenen (also freien) und Gebundenen besteht. Die Abhängigen sind für sich genommen zwar chancenlos, aber im Ganzen verfügen sie über eine große, gesellschaftliche Stärke. Nicht nur aufgrund ihrer Anzahl, sondern weil sie auch zur Bewirtschaftung der Chancen und bei Anwachsen des Herrschaftsraumes zur Verwaltung wichtig werden.

Man kann also sagen, desto mehr Chancen sich unter einer einzelnen Person konzentrieren, desto eher neigt diese dazu den Überblick zu verlieren. Das Monopol drängt ihn geradezu zu einer Differenzierung. 

„Mag es sich um Land, um Soldaten oder um Geld in Irgendeiner Form handeln, je mehr sich davon in einer Hand akkumuliert, desto weniger wird es für den Einzelnen übersehbar, desto sicherer wird er durch sein Monopol selbst auf immer mehr Andere angewiesen, desto stärker wird er von dem Geflecht seiner Abhängigen abhängig“ (Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 147).

Desto mehr Personen schlussendlich zur Bewirtschaftung der Chancen herangezogen werden, desto mehr entwickelt sich im Herrschaftsfeld des Monopolisten eine Eigendynamik, die den Herrscher dazu zwingt sich einzuschränken und anzupassen. Er kann diese Eigengesetzlichkeit auch ignorieren, weiter seine eigenen Interessen vor die aller anderen Stellen. So wird er aber sehr schnell die Gewalt, die diese Eigengesetzlichkeit durch die Abhängigen entwickeln kann, zu spüren bekommen. 

Durch die anwachsende Ausdifferenzierung seines Monopolbesitzes findet sich der Herrscher bald in der Position des Zentralfunktionärs eines funktionsteiligen Apparates wieder. In dieser Funktion ist er vielleicht immer noch mächtiger als die anderen, aber dennoch genauso abhängig wie sie.

Im weiteren Verlauf der Akkumulation von Chancen besteht nun die Gefahr, dass diese des Königs Händen entgleiten und gänzlich in den Besitz seiner Untertanen oder zumindest einiger Gruppen, wie die Verfügungsgewalt der bisherigen Monopolverwaltung, überzugehen. Der Prozess läuft nun dahin, dass sich das Privatmonopol Einzelner zusehends vergesellschaftet. Es wird nach und nach zu einem öffentlichen Monopol und damit zum „Zentralorgan eines Staates“ (ebd. S. 148). 

Der Staatshaushalt, den wir heute kennen, entwickelte sich aus dem Privathaushalt feudaler Herrschaftshäuser. In den feudalen Systemen gibt es keinen Unterschied zwischen dem (öffentlichen) Staatshaushalt und dem Privathaushalt des feudalen Herrschers. Der König als alleiniger Herr über Gewalt- und Bodenmonopol hat auch die freie Macht zu entscheiden, auf was er seine finanziellen Mittel verwendet. Sei es zum Ausbau von Burgen, für Jagden oder den einfachen Hofhalt. Auch in der Phase, in der aus dem Grundbesitz und der militärischen Gewalt ein Abgabenmonopol entsteht, ist es dem König noch möglich nach Belieben über seinen Besitz zu verfügen.

Durch das Anwachsen des vom Herrscher abhängigen Menschengeflechtes, wird dieser in seiner freien Entscheidungsmacht zunehmend eingegrenzt. Seine eigene Abhängigkeit vom Verwaltungsstab wächst und somit wechselseitig auch der Einfluss, den dieser auf den Herrscher hat. 

Die fixen Kosten des Monopolapparates steigen. So führt die Vergesellschaftung des herrschaftlichen Monopols dazu, dass dem König, wie jedem anderen Funktionär, nur noch ein Teil des Gesamtbudgets zukommt, um die Kosten seines Haushaltes zu decken. Aufwendungen, die zur Organisation des Landes anfallen, werden strikt von seinem Privatvermögen getrennt. 

Die fortschreitende gesellschaftliche Interdependenz stellt also eine Macht da, die den Herrschern langsam aber stetig die akkumulierten Ressourcen entreißt. 

„Das immer reicher funktionsteilige Menschengeflecht als ein Ganzes hat ein Eigengesetz, das sich jeder privaten Monopolisierung von Chancen immer stärker entgegenstemmt“ (ebd. S. 152).

Der Souverän sieht sich also gezwungen, einen Teil der Chancen, die er unter sich konzentriert, an andere verteilen zu müssen. Der Teil, den er abgeben muss, wird umso größer, je mehr Chancen er akkumuliert. So erhebt sich von neuem ein Konkurrenzkampf, allerdings nicht um die Herrschaft, sondern um die vom Staat erwirtschafteten Profite.

Der zuvor noch „frei“ geführte Konkurrenzkampf, in dem es lediglich darum ging, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt als der Stärkere aus einem Kampf hervorgeht, wandelt sich zu einem „gebundenen“, nämlich dem Kampf um Positionen am königlichen Hof, die gewisse Kompetenzen erfordern. 

„An die Stelle des freien Konkurrenzkampfes ist ein gebundener, von einer Zentralstelle, von Menschen her gelenkter oder jedenfalls lenkbarer Konkurrenzkampf getreten; und die Eigenschaften, die in diesem gebundenen Konkurrenzkampf Erfolg versprechen, die Selektion, die er vornimmt, die Menschentypen, die er produziert sind von denen der vorangehenden Phase […] höchst verschieden“ (ebd. 154).

Im Gegensatz zu den Kämpfen der vorangehenden Phase, sind nun nicht mehr die physische Stärke und die kriegerische Ausrüstung für den Ausgang der Kämpfe verantwortlich, man setzt vielmehr auf verfeinerte, sublimierte Mittel des Wettbewerbs. Der Höfling ist durch seine Abhängigkeit vom Herrscher und dessen Gunst dazu genötigt seine Affektäußerungen ständig unter Kontrolle zu halten. Hierin sieht Elias ein entscheidendes Merkmal für den Prozess der Zivilisation.

Im nächsten Schritt zeichnet sich eine Übernahme der herrschaftlichen Monopole durch das Bürgertum ab. Diese streben nicht nach der Macht über den Staat. Der Staat mit all seinen Institutionen ist Grundlage ihrer Existenz. Sie verlangen auch nicht, dass die vorhandenen Monopole aufgeteilt werden, sondern lediglich eine andere Verteilung der Lasten. Was nun langsam hervortritt ist die Ausbildung eines bürokratischen Systems. Die Chance, die die Monopole beinhalten, können immer weniger nach dem persönlichen Interesse Einzelner verteilt werden. Die Verteilung erfolgt also „nach einem unpersönlichen und genaueren Plan im Interesse vieler interdependent Verbundener und schließlich im Interesse eines ganzen, interdependenten Menschengeflechtes“ (ebd. S. 156).

Die Monopole werden in dieser Phase nicht mehr umkämpft, um sie zu zerstören, sondern einheitlich um die Verfügungsgewalt ihrer Profite. Die Verteilung der Profite durch den Souverän wandelt sich von einer „privaten“, zu einer „öffentlichen“ Angelegenheit. Im Zuge dieser Entwicklung befinden sich die Zentralfunktionäre in demselben Abhängigkeitsverhältnis wie alle anderen. Darüber hinaus bilden sich starre Institutionen zu ihrer Kontrolle.

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4. Zusammenfassung

Elias‘ Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ gehört heute zu den Standardwerken nicht nur der Soziologie, sondern auch vieler anderer Wissenschaften. Die Prozess- und Figurationstheorie lässt sich klar von vielen anderen soziologischen Theorien abgrenzen. Sie ist dazu geeignet, alle Teilbereiche menschlichen Handelns zu erklären, dies ist sicherlich ein Hauptgrund für den großen Erfolg, die ihr seit dem Ende der siebziger Jahre beschieden ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Forschungsansätzen bezieht sich die Figurationstheorie direkt auf den Menschen. Soziale Aspekte werden also nicht auf strukturalistische, makrosoziologische Ansätze zurückgeführt, sondern direkt durch die Interdependenzgeflechte, die die Menschen miteinander bilden, erklärt. Für Elias gibt es keine Strukturen, die jenseits der Individuen existieren. Andererseits lehnt er aber auch subjektivistische auf das Individuum bezogene Ansätze ab. Menschen sind immer als Teil der Gesellschaft zu sehen, in der sie leben. Der Fokus liegt bei der Untersuchung von Figurationen immer auf der Machtverteilung in den spezifischen Gruppen. Erst aus dieser Analyse ergeben sich die Handlungsspielräume, die dem Einzelnen überhaupt zur Verfügung stehen. Durch die kontinuierliche Abfolge aufeinander bezogener Handlungen entsteht die Eigendynamik, die den Figurationen eigen ist. Die dynamischen Prozesse und damit auch gesellschaftlicher Wandel vollziehen sich oft in sehr unterschiedlichem Tempo. Sehr langsame Wandlungsphasen werden deshalb oft als statisch aufgefasst. Um diesen Fehler zu vermeiden, ist es wichtig in Studien längere Zeiträume zu untersuchen. Auch müssen über den Zeitraum mehrere Entwicklungsrichtungen berücksichtigt werden. Gesellschaftliche Entwicklung verläuft nicht unilinear. Die Auswertung kurzer Zeiträume kann somit schnell zu Fehlinterpretationen führen. Die Prozesse innerhalb der Figurationen laufen ungeplant ab. Dennoch ergeben sich aus den aufeinander bezogenen Handlungen gewisse Strukturen. Es ist nun die Aufgabe des Menschenwissenschaftlers, diese Strukturen zu erkennen und zu analysieren (Baumgart/Eichner, Norbert Elias zur Einführung, S. 117ff.).

Das wirklich revolutionäre an Elias Theorie ist, dass sie uns noch die Hoffnung auf eine positivere Zukunft lässt. Der Mensch ist nicht wie in anderen Theorien, die parallel zur Figurationstheorie entwickelt wurden, Teil einer Welt unterschwelliger Prozesse, denen der Einzelne machtlos gegenüber steht. Elias lässt uns die Zuversicht, dass wir im Prozess der Zivilisation noch nicht am Ende angekommen sind. Dem Mensch bleibt immer noch die Möglichkeit, den Verlauf der Geschichte zum Positiven zu wenden. So schließt Norbert Elias den zweiten Band von „Über den Prozeß der Zivilisation“ mit den Worten: 

„Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist erst im Werden“ (Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 454).

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  • Baumgart, Ralf / Eichner, Volker, Norbert Elias zur Einführung, Junius Verlag: Hamburg, 1991.
  • Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den Weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/Main, 8. Aufl. 1982.
  • Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/Main, 1976.
  • Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/Main, 1983.
  • Elias, Norbert, Norbert Elias über sich selbst, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main, 1990.
  • Korte, Herman, Norbert Elias (1897-1990), in: Klassiker der Soziologie. Bd. I: Von August Comte bis Norbert Elias, hg. v. Dirk Kaesler, Verlag C. H. Beck: München, 2. Aufl. 2000, S. 315-333.
  • Mann, Thomas, Tagebücher 1937-1939, hg. v. Peter de Mendelssohn. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 1980.

Gerock, Benjamin, Norbert Elias: Eine Theorie der Menschenwissenschaften, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 21.01.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/frankfurtersoziologie19191933/gerock/.

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