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Emrichs antisemitischer Essay „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ und die Folgen

von Barbara Hölscher

Seit der Veröffentlichung des Schlüsselromans „Der Urfreund“ von Kurt Mautz im Jahre 1996 schlug die daraus resultierende Wiederentdeckung von Emrichs antisemitischem Essay „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ von 1943 hohe Wellen. 

"Man wird niemals die tödliche Gefahr, die der Einbruch des Judentums auch in das wissenschaftliche und fachliche Schrifttum hervorgerufen hat, in seinen letzten Wurzeln verstehen können, wenn man es nicht unternimmt, die tieferen Hintergründe und Erscheinungsformen dieses Einbruchs genauer zu bestimmen" (Emrich 1943: 1). So beginnt das Pamphlet, in dem sich eine abenteuerliche Mischung aus einer neutralen Analyse der geisteswissenschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, wagemutigen Behauptungen und pseudokausaler Hetze gegen jüdische Einflüsse finden lässt.

Emrich attestiert dem „jüdischen Geist“ (ebd.: 1) am Beispiel der Psychoanalyse und des historischen Materialismus’ (den er als Synonym des Marxismus begreift) die Absicht, die Willensfreiheit und damit jegliche Eigenverantwortung zu leugnen und damit Schuldzuweisungen zu negieren. Aus dieser Argumentation springt er unvermittelt auf das Gerichtswesen und die ihm eigene laxe Behandlung und schwenkt direkt im nächsten Satz über auf das öffentliche Gesundheitswesen. Dieses habe zum großen Teil durch geschickte Personalpolitik in den Händen des Judentums gelegen. Die daraus resultierenden „praktischen Auswirkungen auf die öffentlich Hygiene“ seien „verhängnisvoll“ (ebd.: 2).

Seine Forderung an die zukünftige Wissenschaft im Schlussteil deckt sich stark mit dem Anspruch, der sich durch sein gesamtes wissenschaftliches Lebenswerk beobachten lässt. Emrich propagiert einen Ort der „Freiheit“, „Unbedingtheit“ und „Überzeitlichkeit“, der ontologisch zu erschließen sei. Weiterhin behauptet er, die wesentliche Aufgabe der Wissenschaft sei es, „das wahre Verhältnis zwischen geistlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen, zwischen dem Bewußten und Unbewußten, einheitlich zu bestimmen“ (ebd.: 2 f.) Diese Überzeitlichkeit und Feststellung übergeordneter Prinzipien bestimmte seine literaturwissenschaftlichen Thesen in hohem Maße, ob er sich nun mit Goethes Symbolsprache oder der Literatur der Moderne auseinandersetze.

Vermutlich schrieb Emrich den antisemitischen Essay vor allem, um seine Habilitation, die beim ersten Versuch abgelehnt wurde, vor den Nationalsozialisten ideologisch zu legitimieren und sich selbst als linientreu darzustellen. Und tatsächlich wurde Emrichs Habilitation im zweiten Versuch im selben Jahr, in dem das genannte Essay entstand, unter dem geänderten Titel „Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen“ in Berlin angenommen. Bei diesem Zweitversuch fungierte als Erstgutachter der Germanist Franz Koch, der selbst eine stark nationalsozialistisch gefärbte Wissenschaft betrieb.

Der Essay selbst war in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Seine eigentliche wissenschaftliche Arbeit hielt Emrich so weit wie möglich ideologisch neutral. So konnte die Habilitationsschrift von 1943 in den 70er Jahren fast unverändert wiederveröffentlicht werden und fand auch erst in der Nachkriegszeit in Fachkreisen hohe Resonanz. Rüdiger Scholz (2011) beispielsweise ordnet Emrichs Werk sogar in der Geschichte der Faustforschung den Nachkriegsinterpretationen zu, wundert sich aber, dass die – wenn auch spärlich gesäten – faschistoiden Tendenzen den Erfolg von Emrichs Interpretation im Nachkriegsdeutschland nicht schmälerten.

Nach 1945 wurde Wilhelm Emrich entnazifiziert und konnte jahrelang nur als Lehrer Fuß fassen. Ironischerweise bahnte ihm die Wiederveröffentlichung seiner „Faust II“-Interpretation verbunden mit einer wissenschaftlichen Arbeit über Franz Kafka den Weg zu einer erfolgreichen akademischen Laufbahn. In den Folgejahren avancierte er zum ‚Pan der Germanistik’, wie er von seiner Studentenschaft gerne genannt wurde. Er widmete sich der Klassik ebenso wie der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts. In den 60er Jahren sprach er sich als Gutachter im „Fanny Hill Prozess“ mit großer Hingabe für den literarisch mittelmäßigen pornographischen Roman aus, den er als Kunstwerk begriff. Durch dieses Engagement und wegen seiner Selbstdarstellung als früher Adorno-Schüler blieb seine nationalsozialistische Vergangenheit längere Zeit unentdeckt, weil unvermutet.

Auch als „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ wiederentdeckt wurde und Emrich in die Kritik geriet, gab der inzwischen emeritierte Literaturwissenschaftler keine Stellungnahme. Er bleibt über seinen Tod hinaus eine ambivalente Figur.

Empfohlene Zitierweise

Barbara Hölscher: Wilhelm Emrich – Emrichs antisemitischer Essay „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ und die Folgen. In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/emrich/hoelscher/.


Literatur

Emrich, Wilhelm: Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken. In: Das Deutsche Fachschriftentum, Heft 4-6 (1943), S. 1-3

Durzak, Manfred: Ein großer politischer Roman? Nossacks „Der Fall d'Arthez“. In: Hans Erich Nossack: Leben, Werk, Kontext, hg. von Dünther Dammann. Würzburg 2000, S. 213 ff.

Jäger, Lorenz: Wilhelm Emrich (1909-1998). In: Wissenschaftsgeschichte in Portraits, hg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin / New York 2000, S. 252 ff.

Scholz, Rüdiger: Die Geschichte der „Faust“-Forschung. Weltanschauung, Wissenschaft und Goethes Drama, Würzburg 2011