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Wilhelm Emrich

…„Der Urfreund“ – ein Schlüsselroman

1996 geriet Wilhelm Emrichs Ruf als weltoffener Kenner der literarischen Moderne und ehemaliger begeisterter Schüler der ersten Stunde der jungen Frankfurter Schule heftig ins Schwanken. Sein ehemaliger Studienfreund Kurt Mautz veröffentlichte den Roman „Der Urfreund“. Für Kenner wird schnell ersichtlich, welche Biographien sich hinter den Hauptfiguren Friedrich Kreifeld und Ernst Ronge verbergen.

Kurt Mautz hat mit „Der Urfreund“ einen Schlüsselroman geschrieben, der einen tiefen Einblick in die Lebensgeschichte Wilhelm Emrichs alias Friedrich Kreifeld ermöglicht. Kommentiert und bewertet wird dessen fiktive Biographie durch Mautz selbst, der sich im Roman Ernst Ronge nennt. Dieser beschreibt seine eigenen Probleme, die die Machtergreifung mit sich brachte: das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere sowie die Repressionen durch die Nationalsozialisten, denen er wegen seiner politisch nicht konformen Weltanschauung ausgesetzt war.

Staunend beobachtet Ronge dagegen die Laufbahn seines Studienkollegen Kreifeld. Nachdem dessen Versuch, ins Exil zu gelangen, scheiterte, nähert dieser sich immer stärker den Nationalsozialisten an. Kreifeld will unter allen Umständen in Deutschland als Wissenschaftler Fuß fassen und habilitieren. Um dies zu erreichen, bedient er sich in seiner Habilitationsschrift, „Das Mystische bei Goethe“, des nationalsozialistischen Parteijargons. Kreifeld gelingt eine vorzeigbare Karriere, während Ronge sich immer weiter vom ihm entfernt. Er erkennt den Verrat der alten Werte. Nach seiner Entnazifizierung sieht Kreifeld aus Scham und wegen des Verlusts seiner Karrierechancen nur einen Ausweg – den Suizid.

Als Ronge im Laufe der Jahre zufällig von den antisemitischen Essays des alten Freundes erfährt, wird ihm das Ausmaß der politischen Kehrtwende Kreifelds erst in aller Deutlichkeit bewusst. Die fiktiven Essays „Innerlichkeit und Staat“(1) und „Der Einbruch des Judentums in die Deutsche Wissenschaft“(2) sind gespickt mit politisch eindeutiger Hetze gegen das Judentum und legen eine eindeutige nationalsozialistische Positionierung offen.

„Der Urfreund“ ermöglicht einen tiefen Einblick in Emrichs wissenschaftliche Laufbahn, wie er vorher kaum möglich war. Der Roman deckt viele Details auf, die vorher nicht bekannt waren, und liefert einen Erklärungsversuch für Emrichs politischen Richtungswechsel zwischen 1933 und 1945. Jedoch ist und bleibt der Roman fiktiv. Ohne einen Abgleich der privaten Korrespondenzen Emrichs mit den Behauptungen im „Urfreund“ sollte man die Aussagen der Protagonisten nur mit Vorsicht genießen. Der Roman ist vor allem eines: die Abrechnung eines ehemaligen Studienfreundes, der miterlebte, wie Emrich seine alten Ideale verriet und trotzdem fast ungeschoren davonkam.

 

Endnoten

(1) Auf welche reale Publikation sich dieser Titel bezieht, ist noch nicht geklärt. Im Roman erscheint dieser Essay in einer Zeitschrift mit dem Titel „Wille und Wort“.

(2) Analog zu dem Essay „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ von 1943.