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Matthias Friedwagners Plädoyer für das Spanische unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs

von Anne Bihan

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges soll Matthias Friedwagner auf den Frankfurter Städtischen Bühnen gestanden haben – nicht um Theater zu spielen, sondern um seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem spanischen Theater einem städtischen Publikum darzubieten. Mit einem Vorwort vom Oktober 1918 wurde diese Auseinandersetzung dann im Jahre 1919 als Aufsatz in der „Deutschen Bühne. Jahrbuch der Frankfurter Städtischen Bühnen“ herausgegeben. Doch Matthias Friedwagner war kein Hispanist. In seinem Schriftenverzeichnis finden sich weitaus mehr Beiträge über die (alt)französische und rumänische Philologie. Friedwagners Biographie spricht ebenfalls gegen ein besonderes Forschungsinteresse an der spanischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft; längere Reisen oder Forschungsaufenthalte auf der Iberischen Halbinsel enthält sie nicht. Die Vorlesungsverzeichnisse zeigen außerdem, dass er in gut zwanzig Jahren Frankfurter Lehre, erst an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften und dann an der Universität, nur neun Veranstaltungen explizit dem Spanischen gewidmet hat. Er unterrichtete als Ordentlicher Professor für Romanische Philologie die „historische spanische Grammatik“ und erklärte mit Cervantes’ Don Quijote, dem altspanischen Cid und Calderóns El Alcalde de Zalamea und La Vida es Sueño diejenigen Klassiker der spanischen Literaturgeschichte, die zum Literaturkanon eines jeden Romanisten gehörten.

Die Tatsache, dass Friedwagner sich als Nicht-Hispanist in seinem zum Aufsatz ausgearbeiteten Vortrag „Spanisches Drama in Deutschland“ ebenfalls mit diesen Klassikern der spanischen Literaturgeschichte auseinandersetzt, ist daher nicht wirklich auffällig. Die Besonderheit seiner Auseinandersetzung ergibt sich daraus, dass er in dieser das dramatische Werk eines Calderón oder Lope de Vega in eine Verbindung mit der klassischen deutschen Literatur setzt. Und es ist interessant, dass er dabei die Tradition einer deutsch-spanischen Verbundenheit konstruiert. Die Fragen nach dem Wie und Warum dieser Konstruktion, gerade in Zusammenhang mit ihrem historischen Kontext, können Aufschluss darüber geben, wieso der Text sich wie ein zeitgeschichtlich geformtes Plädoyer für die Beschäftigung mit der spanischen Literatur lesen lässt.

Spanien ist für uns ein fernes Land

Friedwagners Abhandlung beginnt mit den Worten „Spanien ist für uns ein fernes Land“ (163). Dass hierbei keine geographische, sondern vor allem eine geistige Ferne gemeint ist, erklärt er im darauffolgenden Satz – in welchem er dieser Distanz eine „geistige Nähe“ (ebd.) gegenübergesetzt. Friedwagner möchte das deutsche Publikum von der Schönheit der spanischen Literatur überzeugen. Er schreibt, dass die spanische Sprache „an sich schon Poesie ist“ (170). In Abgrenzung zur im deutschsprachigen Raum weitaus mehr beachteten Literatur Frankreichs entwirft er eine Tradition der deutsch-spanischen Verbundenheit, ja sogar Verbrüderung, und erklärt, dass die guten Beziehungen zu Spanien auch nicht erst ein Produkt der Gegenwart seien. Er schreibt, dass der deutsche „Durst nach Schönheit“ zukünftig durch die Rezeption spanischer Literatur gestillt werde und zwar, „ohne daß eine Erinnerung an uns zugefügtes Leid aufsteigt“ (163). In seiner Argumentation verknüpft Friedwagner so Literaturwissenschaft mit Zeitgeschichte. Die spanische Neutralität während des Ersten Weltkrieges und die zum Abfassungszeitpunkt des Textes noch als sehr präsent wahrgenommene Feindschaft zu Frankreich scheinen auch Friedwagners nächsten Gedankengang zu begründen. Gerade in jüngerer Zeit habe sich „das Gefühl für eine ‚Erneuerung des geistigen Bündnisses unserer nicht bloß dem Stamme nach, sondern mehr noch ihrem innersten Wesen nach verbrüderten Nationen‘ […] immer tiefer befestigt“ (ebd.). Er behauptet, dass sich das deutsche Volk nun stärker als zuvor nach Spanien wende, „von wo sich uns eine Freundeshand in so ernster Zeit entgegenstreckt“ (ebd.).

Friedwagner begründet diese deutsch-spanische Verbindung weiter aus der Vergangenheit heraus. Wesentlich für die Erkenntnis „der Eigenarten beider Völker“ (ebd.) sei die Beschäftigung erst mit der älteren und danach auch mit der jüngeren Literatur. Schon im ausgehenden Mittelalter, mit Erfindung des Buchdruckes, seien erste Bücher zwischen beiden Völkern ausgetauscht worden, als ältestes spanisches Drama sei Fernando de Rojas‘ La Celestina ins Reich gekommen. Er erwähnt noch verwandtschaftliche Beziehungen des kurfürstlichen Hofes zu München nach Madrid, bevor er seitenlang die Sicht klassischer deutscher Literaten auf das dramatische Werk Calderóns und Lope de Vegas und deren Beeinflussung durch eben dieses resümiert. Natürlich würdigt Friedwagner auch Cervantes‘ Don Quijote als Inbegriff der spanischen „Volkstümlichkeit“ (164) und weist auf dessen zahlreiche deutsche Adaptionen hin.

Friedwagner möchte, dass die versuchte Umorientierung deutscher Dichter und Denker von der französischen weg hin zur spanischen Literatur als eine Tradition verstanden wird, deren antifranzösischen Geist er in die Vergangenheit zurückprojiziert: „Wie Cervantes gegen die Ritterromane, so kämpfte Lessing gegen die französische Geistesrichtung besonders im ‚regelmäßigen‘ Drama“ (ebd.). Er schreibt, dass es kein Zufall gewesen sein kann, dass Lessing gerade nicht in Frankreich, sondern in Spanien auf der Suche nach Bühnenstücken fündig geworden sei.

Lesen wir weiter, so lässt uns Friedwagner in Herder den ersten deutschen Dichter und Übersetzer erkennen, den nicht nur literarische Verhältnisse nach Spanien, in das „Land der Romanzen“ (165) führten, sondern der auch die Erforschung der spanischen Volksseele für sich beansprucht haben mag. Friedwagner hebt hier den Gedanken Herders hervor, dass die Romanzen aus gotischen Liedern hervorgegangen und „die Spanier eigentlich Araber seien, die durch Germanenblut veredelt“ (ebd.) wurden. In seinen Briefen, so erklärt Friedwagner weiter über eine deutsch-spanische Ähnlichkeit, zeige sich Humboldt davon überzeugt, dass die Spanier von allen Südländern den nördlichsten Charakter besäßen und sie ihrer Offenheit und Treue nach „dem deutschen Wesen verwandt“ (166) seien. Wiederum in Humboldts Briefen sei nachzulesen, dass der schon von Cervantes geschilderte Zwiespalt zwischen „Idealismus und der Prosa des Lebens“ durch den „immerwährenden Gegensatz zwischen der stolzen Erinnerung an die vergangene Zeit und die sorgenvollen Tage der Gegenwart“ tatsächlich zutreffe (ebd.). Möchte Friedwagner mit der Erwähnung der napoleonischen Fremdherrschaft über Spanien in Frankreich auch einen gemeinsamen deutsch-spanischen Feind sehen? Schon die bourbonische Herrschaft ab dem 18. Jahrhundert und den damit einhergehenden französischen Einfluss auf die spanische Kultur bewertet Friedwagner nicht positiv. So erklärt er, dass die „Spanier in Europa unbestrittene Meister des Theaters [waren], bis die Franzosen sie erreichten und dann fast verdrängten“ (170).

Wie man sieht, konstruiert Friedwagner eine an die fünfhundert Jahre in die Vergangenheit zurückreichende Tradition deutsch-spanischer Literaturbeziehungen, die mehr oder minder explizit eine gemeinsame Frontstellung gegen Frankreich und die französische Kultur impliziert. Er verschweigt dabei, dass das Spanienbild im deutschen Sprachraum nicht immer positiv war. Seinem Plädoyer für das Spanische dienen allein positive Wertungen des klassischen spanischen Dramas durch klassische deutsche Literaten. Er will davon überzeugen, dass das spanische Volk in seiner Wesensart dem deutschen ähnlich ist, und zwar bis zu diesem Punkt in seiner Argumentation weniger mit den Inhalten spanischer Dramen, als vielmehr mit den Stimmen eines Goethe, Schiller oder Herder. Auf den folgenden Seiten ist das anders.

Somos hermanos!

Es verwundert, dass der Frankfurter Romanist uns dann mit Jacinto Benavente einen zeitgenössischen spanischen Dramatiker (*1866) vorstellt, dass schließlich die Beschreibung der Theaterstücke eines ausgerechnet zeitgenössischen Dramatikers so viel Raum in seiner Argumentation einnimmt. Friedwagner zählt Benavente zu dem „neuen spanischen Drama“ (172), kann sich kaum einen größeren Bruch mit der Schaffensweise der klassischen spanischen Dramatiker vorstellen – und er zeigt sich euphorisch: Benaventes Schule der Prinzessinnen (1909, deutsche Erstübersetzung 1917), im Frankfurter Schauspielhaus zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt, hat es Friedwagner besonders angetan. Es handelt sich hierbei um ein Theaterstück, in dem zwei Völker, „die einander suchen“ (174), durch Heirat verbunden werden. Auch wenn auf der Bühne zwischen Albanien und Schwaben vermittelt wird, setzt Friedwagner diese Vermittlung so in Szene, als würde sie sinnbildlich für eine deutsch-spanische stehen. Zudem scheint es Friedwagner zu gefallen, dass Benavente seinen Prinzen Albert von Schwaben als pflichtbewussten Akteur darstellt, als „frei von Schuld“ (175) und als „liebenswürdiger, als man erwartet hatte“ (176) – er wertet diese Charakterzeichnung sogar als „Anerkennung, die uns von Seiten des gefeierten spanischen Dichters wie im Namen seines Landes ausgesprochen wird“ (ebd.).

Ist es also ein Beweis für Friedwagners literarischen Geschmack, dass er ausgerechnet denjenigen Dramatiker näher beschreibt, der später, im Jahre 1922, mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt werden wird? Bestimmt ist es das. Ihn als Vertreter des modernen Spaniens zu bezeichnen, stimmt auch mit heutigen Urteilen überein. Jedoch, Friedwagner selbst lässt anlauten, dass aufgrund des Krieges nicht viele seiner Stücke in Deutschland bekannt gewesen seien. Es ist anzunehmen, dass Friedwagner ausgerechnet Benavente als „eindrucksvolle Persönlichkeit“ (173) aus dem spanischen Kulturkreis hervorhebt, weil er um dessen politisches „Manifiesto germanófilo“ wusste. Tatsächlich gehörte Benavente zur deutschfreundlichen Fraktion der spanischen Intellektuellen und stand damit in Opposition zu einem Autor wie Blasco Ibáñez, dessen Roman über den Ersten Weltkrieg – Los cuatro jinetes del Apocalipsis (1916)sich selbst als ein Stück Propaganda für die französische Sache verstand. Friedwagner nennt den Dichter einen „Freund unseres Landes“ und einen „Schätzer unserer Wesensart“, und schreibt, dass er diese „freundliche Gesinnung“ nicht nur durch ein Stück wie die Schule der Prinzessinnen, sondern auch außerhalb des Theaters bestätigt sieht (176). Es ist also wahrscheinlich, dass Matthias Friedwagner das pro-deutsche Manifest, das am 18. Dezember 1915 als Beilage zu Benaventes Artikel „Amistad germano-española“ in der Zeitung La Tribunal erschienen war, bekannt war und seine Wertschätzung Benaventes anregte. Friedwagner setzt große Hoffnung in Benavente und damit in die spanische Gegenwartsliteratur und er zeigt sich zuversichtlich bezüglich eines „Fortschreiten[s] der geistigen Annäherung beider Völker“ (175). Seine Eingangsaussage über die Distanz Deutschlands zu Spanien ist mit dem letzten Satz seiner Abhandlung dann vollkommen dekonstruiert: „Somos hermanos!“ (ebd.).

Ja, Friedwagner entwickelte in seinem Text eine Nähe zwischen beiden Völkern, zwischen Deutschland, das nicht einmal seine eigene Heimat war, und Spanien. Er wollte von dem Nutzen der spanischen Literatur für das deutsche Volk überzeugen. Doch der Abdruck des Frankfurter Theater-Vortrages „Spanisches Drama in Deutschland“ ist Friedwagners einzige Abhandlung über die spanische Literatur geblieben. Allein in einem Aufsatz aus dem Jahre 1924 wiederholt er noch einmal seine Hoffnungen an die spanische Gegenwartsliteratur. Ob Friedwagner die spanische Philologie in allgemeinen Romanistikveranstaltungen akzentuierte, wissen wir nicht. Ob er im Eindruck des Ersten Weltkrieges das Spanische akademisch gegenüber dem Französischen stärker machte, darüber können wir nur spekulieren. Was wir aber sagen können, ist, dass sich der Frankfurter Ordentliche Professor für Romanische Philologie für die Einrichtung neuer Spanisch-Lektorate an der jungen Frankfurter Universität einsetzte. Auch, dass er sich mit spanischer Gegenwartsliteratur, beispielsweise in der Habilitationsschrift seines Schülers Hellmuth Petriconi („Über die spanische Literatur der Gegenwart seit 1870“), auseinandersetzte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete dieses Engagement eine Abweichung von den Standards der Romanistik, die zunächst legitimiert und dann etabliert werden musste.

Anmerkung: Alle in Klammern stehenden Seitenangaben beziehen sich auf Friedwagner 1919: Spanisches Drama in Deutschland.

Empfohlene Zitierweise

Anne Bihan: "Matthias Friedwagners Plädoyer für das Spanische unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs". In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/friedwagner/bihan/.


Abbildung oben: Handschriftliche, signierte und auf den 10. Februar 1919 datierte Benutzerordnung aus der Hand Friedwagners im Ausleihjournal des Romanischen Seminars der Universität Frankfurt (Bild: Frank Estelmann)


Literatur 

Friedwagner, Matthias: Spanisches Drama in Deutschland. In: Georg J. Plotke (Hg.), Deutsche Bühne. Jahrbuch der Frankfurter Städtischen Bühnen. Spielzeit 1917/18. Frankfurt am Main 1919, S. 163-176

Friedwagner, Matthias: Romanische Philologie. In: Dr. E. Lennhoff (Hg.), Frankfurter Universitätskalender 1924/25. Frankfurt am Main 1924, S. 55-70

Briesemeister, Dietrich: Der Aufstieg der deutschen Hispanistik (1918-1933). In: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Spanien aus deutscher Sicht. Deutsch-spanische Kulturbeziehungen gestern und heute (= Beihefte zur Iberoromania 20). Tübingen 2004, S. 475-486

Briesemeister, Dietrich: Die spanische Verwirrung (J. W. von Goethe). Zur Geschichte des Spanienbildes in Deutschland. In: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Spanien aus deutscher Sicht. Deutsch-spanische Kulturbeziehungen gestern und heute (= Beihefte zur Iberoromania 20). Tübingen 2004, S. 97-112

Fuentes Codera, Maximiliano: Germanófilos y neutralistas: proyectos tradicionalistas y regeneracionistas para España (1914-1918). In: Ayer 91 (2013), S. 63-92

Lázaro Carreter, Fernando: Introducción. In: Fernando Lázaro Carreter (Hg.), Los intereses creados de Jacinto Benavente. Madrid 1990, S. 10-48

Ortiz-de-Urbina, Paloma: La Primera Guerra Mundial y sus consecuencias: la imagen de Alemania en España a partir de 1914. In: Revista de Filología Alemana 15 (2007), S. 193-206