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Hans Hermann Glunz: Ein (angepasster) Anglist im "Dritten Reich"

von Magdalena De Gasperi

Einleitung

Von einem Literaturwissenschaftler, der sich in aller Konsequenz mit der nationalsozialistischen Gesellschaft arrangiert hat, der dann auch eine überaus geradlinige Karriere in der NS-Zeit machte, könnte man erwarten, dass die akademischen Schriften wie diejenigen vieler Kollegen politisch eindeutige bzw. rassistische Äußerungen zur ‚Überlegenheit’ Deutschlands und zur ‚Unterlegenheit’ anderer Völker enthielten. Seine zentralen wissenschaftlichen Arbeiten (Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters und Shakespeares Staat) sind allerdings frei von solchen Parolen, sie stehen zu seiner öffentlich geäußerten politischen Haltung sogar eher in Widerspruch.

Zur Literarästhetik des europäischen Mittelalters

Glunz veröffentlichte sein ehrgeizigstes und wichtigstes Werk im Jahr 1937 in Frankfurt. Im Vorwort der Literarästhetik des europäischen Mittelalters – Wolfram, Rosenroman, Chaucer, Dante beschreibt er das Untersuchungsziel seiner Arbeit folgendermaßen: Es gehe um die Frage, „wie und unter welchen Bedingungen, vielleicht auch mit welchen Einschränkungen in einer [...] Zeit wie dem Mittelalter Dichtung überhaupt möglich war“ (Glunz 1937: VII). Glunz behauptet, „daß man in das [dichterische] Werk sich bis zu der Tiefe“ versenken muss, „in der der Künstler selber stand, als er im Prozeß des Schaffens begriffen war“ (ebd.). Er zeigt am Beispiel von Geofrey Chaucer, dass es für den heutigen Leser leichter ist, gewisse Qualitäten der Dichtung wahrzunehmen, „weil Chaucers Humor, Stoizismus, Realismus [...] an der Oberfläche liegen“ (Glunz 1937: VIII). Die eigentliche Aufgabe aber sollte es sein, „den Dichter von seiner eigenen Ebene aus zu verstehen, und alle Merkwürdigkeiten seiner Gedichte als notwendige Ausflüsse aus seinem poetischen Bauplan zu erklären“ (ebd.).

Visionen des Dichterischen

In einem ersten Teil seiner Einleitung, „Die neuere Poetik über ‚Dichtung’“, befasst sich Glunz mit verschiedenen poetologischen Stellungnahmen englischer Schriftstellern wie Francis Bacon, John Dryden und Samuel Taylor Coleridge. Glunz erklärt, dass deren „Äußerungen das Schaffen eines neuen, vorher ungeahnten Kosmos mit Hilfe wirrer sprachlicher Materie aus dem formenden und ordnenden Gesetz der dichterischen Vision heraus“ (Glunz 1937: 2-3) bedeuteten, behauptet aber dann, dass der Gedanke des Dichters als Schöpfer erst mit Sir Philip Sidneys An Apologie for Poetry (ca. 1580) aufkommt. Er könne dann „wohl kaum unmittelbar platonischen Ursprungs oder allein von Platon bestimmt sein“ (Glunz 1937: 4).

Im zweiten Teil der Einleitung, „Ursprünge des ‚modernen’ Begriffs der Dichtung“, versucht Glunz dem Ursprung des „Gedanke[ns] von der poetischen Kunst als Schöpfung“ (Glunz 1937: 5) nachzugehen. Nicht in Italien stehe die ‚Wiege’ dieses Gedankens, er finde sich auch nicht in der „Poetik des Mittelalters“ oder in der Antike, sondern: „Die von den Humanisten heraufgeführte Renaissance beseitigte den Theologen aus seiner angesehenen Stelle des geistigen Vorkämpfers und Führers und setzte dafür den poeta ein, eben den geistigen Schöpfer. [...] Der befruchtende Faktor war hier der Humanismus, der ein von der Antike angeregtes Menschenbild in die theologischen Kategorien hineintrug und im Prozeß des Um- und Durchdenkens mittelalterlicher Vorstellungen den neuen Menschentypus schuf“ (Glunz 1937: 6).

Im dritten Teil seiner Einleitung, „Begriff der Dichtung im Mittelalter“, bestärkt Glunz seine These, dass „im Mittelalter auch die Quelle des neueren Dichterbegriffs zu suchen [ist, und zwar] in einer vorerst nicht kenntlichen Gestalt“ (Glunz 1937: 7). Das Suchen nach dieser Gestalt sei auch ein Ziel seines Buches. „Es soll der im Mittelalter geltende literarische Maßstab gefunden werden, mit dessen Hilfe sich die Dichtungen wie von selbst und ohne Hineintragen ihnen nicht gemäßer ästhetischer Normen und Konventionen deuten lassen“ (ebd.).

Shakespeares Staat (1940)

1940, ein Jahr bevor er zum Wehrdienst eingezogen wurde, hat Glunz sein vorletztes Werk veröffentlicht: Shakespeares Staat. Er beschäftigt sich darin mit der Frage, welchen Inhalt der Begriff des Staates in den Shakespeareschen Tragödien besitzt. Anknüpfungspunkte für politisch-nationalistische Diffamierungen gäbe es etwa in einem Satz wie diesem: „Dabei schien die eindrucksvolle Reihe der Königsdramen [...] die Anschauung nahezulegen,  dass dem Dichter auf dem Höhepunkt der englischen Kultur unter Elisabeth die große Vision von der Nationwerdung  Englands vorgeschwebt habe und sein Genius vor allem auch in seiner einzigartig geschlossenen historischen Schau erblickt werden müsse“ (Glunz 1940: 7). Er impliziert, dass England, 1940 ein Kriegsgegner Deutschlands, seinen kulturellen Höhepunkt überschritten habe. Doch beschäftigt sich Glunz dann mit verschiedenen Ansichten über den Staat in Shakespeares Dramen. Glunz behauptet, dass „der Begriff des Staates jeweils seinen Sinn ganz erneuert.“ In dem Maße, wie Shakespeares „Drama sich ändert, umgeformt und erneuert wird, wandelt sich auch der Sinn des Staates im Drama“ (Glunz 1940: 8). Glunz sieht diesen also als etwas Dynamisches, das sich von Werk zu Werk verändert, und analysiert dafür die frühen Stücke, die Königsdramen der mittleren Zeit und die späteren Tragödien. 

Danach untersucht Glunz Shakespeares Staatsidee in ihren geschichtlichen Zusammenhängen, d.h. im Kontext des 15. Jahrhunderts, des englischen Humanismus und des Anglikanismus. Im letzten Teil der Studie, der den Titel „Folgen für das Shakespearesche Drama“ trägt, zieht Glunz seine Schlussfolgerungen. Er sieht „das Shakespearesche Drama mit der Geschichte des englischen Geistes innig verknüpft“ (Glunz 1940: 151). Mit der Renaissance und der Etablierung der anglikanischen Kirche sei eine „Verweltlichung [...] eingetreten“ (Glunz 1940: 156), die sich in den Dramen widerspiegele, „nur dass im Kunstwerk des Dramas nicht Ausrichtung auf einen göttlichen Willen und eine Haltung gefordert wird, sondern das Sein des Menschen, das heißt verschiedene Situationen und Weisen des Hineingestelltseins in einem umgrenzten Bereich, sich schlicht entfaltet und der Anschauung darstellt. Die begrenzende Macht ist der Staat, nicht Gott“ (ebd.).

Der Staat als "Seinsort"

Abschließend erläutert Glunz drei Zyklen, in die er Shakespeares Tragödien aufteilt, und beschreibt seine Auffassung des Staates im dritten Zyklus, der das Werk nach 1599 einschließt und die meisten berühmten Tragödien (Julius Caesar, Hamlet, Troilus and Cressida, Othello, King Lear, Macbeth, Antony and Cleopatra, Coriolanus) enthält: „Der Staat ist Behältnis und Seinsort der unterschiedlichsten Verwirklichungen des rationalen, diesseitigen, natürlichen Menschen. Aber er wird überwunden durch den sich wandelnden und wachsenden Helden, der am Schlusse alles staatsbefangene Menschentum überragt und in ein überirdisches, übervernünftiges Sein eingeht. Indem er sie verlässt, überwindet der Heros, von seinem Daimon getrieben, die irdische Staatssphäre. Ein transzendentes Moment ist damit ins Drama wieder eingekehrt, daß der Held zuerst der menschlichen, dann einer übermenschlichen Welt angehört (Glunz 1940: 165).

Die Trennung von Wissenschaft und Politik

Dass der Anglist Hans Hermann Glunz in der NS-Zeit ein Mitläufer war, ist unbestritten und sicherlich der wichtigste Grund für seine rasante Karriere an der Universität Frankfurt. Bemerkenswert erscheint es, dass in seinen wissenschaftlichen Schriften – zumindest in den hier analysierten Passagen – keine politischen oder rassistischen Äußerungen zu entdecken sind. Es ist zwar schwierig zu glauben, dass er in einer solchen Position die politischen von seinen wissenschaftlichen Ansichten trennen konnte, aber er scheint dies gemacht zu haben.

 
Empfohlene Zitierweise:

Magdalena De Gasperi: Hans Hermann Glunz: ein (angepasster) Anglist im "Dritten Reich". In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/glunz/de-gasperi


Literatur

Glunz, Hans Hermann: Zur Literarästhetik des Mittelalters. Frankfurt am Main 1937

Glunz, Hans Hermann: Shakespeares Staat. Frankfurt am Main 1940


Handschriftliche Widmung der Shakespeare-Studie von Hans Hermann Glunz für seinen Vorgänger auf dem Frankfurter Lehrstuhl, Francis Curtis; Privates Bildarchiv von Magdalena De Gasperi