Logo Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945

Leo Löwenthals Literatursoziologie und ihre Anfänge in Frankfurt

von Maren Emde

Leo Löwenthals Name ist aus verschiedenen Kontexten bekannt: Löwenthal war Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, Mitbegründer der Kritischen Theorie, Redakteur der Zeitschrift für Sozialforschung, Professor an der University of California. Vor allem aber gilt er als einer der Begründer der Literatursoziologie (vgl. Ritsert 2011: 1). So bestand auch seine frühe Forschung in Frankfurt am Institut für Sozialforschung vor allem aus seinen literatursoziologischen Arbeiten. Doch was genau verstand Löwenthal unter Literatursoziologie und wie sahen die Anfänge seiner wissenschaftlichen Arbeit in Frankfurt aus?

In diesem Essay sollen zum einen die Grundzüge von Löwenthals Literatursoziologie anhand seiner Schrift „Aufgaben der Literatursoziologie“ (1948) geschildert werden, der nach der Emigration in die USA entstand. Zum anderen liegt der Fokus auf seinem Aufsatz „Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft“ aus dem Jahre 1932, anhand dessen die frühen literatursoziologischen Überlegungen aus der Frankfurter Zeit herausgearbeitet und mit der späteren Fassung der Literatursoziologie Löwenthals kontrastiert werden sollen.

Über die „Aufgaben der Literatursoziologie“ (1948)

In seinem Aufsatz „Aufgaben der Literatursoziologie“ fasst Leo Löwenthal seine früheren Schriften zusammen und entwickelt eine programmatische Übersicht der von ihm entwickelten Literatursoziologie. Diese Übersicht bezeichnet er jedoch selbst als einen Versuch, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Der Aufsatz ist in fünf Abschnitte gegliedert, von denen die ersten vier Ansatzpunkte für eine theoretische und der letzte Ansatzpunkte für eine empirische Analyse bieten.

Zunächst steht die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaftssystem im Mittelpunkt, aus der sich zwei Aufgaben für die soziologische Literaturwissenschaft ergeben. Die erste Aufgabe ist es, die gesellschaftliche Funktion von Literatur zu analysieren. So kann Literatur beispielsweise Ausdruck einer bestimmten Institution wie der Religion sein oder aber andere gesellschaftliche Aufgaben (z.B. als ideologisches Instrument) übernehmen. Zweitens ist in diesem Zusammenhang auch die Untersuchung der jeweiligen literarischen Form wichtig.

Der nächste wichtige Punkt ist die Stellung des Schriftstellers innerhalb der Gesellschaft. Um diese zu ermitteln, ist eine Analyse der Funktionen und Selbstverständnisse von Schriftstellern über einen längeren Untersuchungszeitraum hinweg notwendig. Ansatzpunkte für eine solche Analyse sind sowohl das subjektive Selbstverständnis der Autoren (missionarisch, politisch, unterhaltsam,…) als auch externe Faktoren wie die technische Entwicklung oder die Wege der Verbreitung von Literatur.

Mit dem dritten Abschnitt „Gesellschaft und gesellschaftliche Probleme als literarischer Stoff“ rückt der Inhalt des literarischen Werkes in den Fokus. Hier ist es wichtig, auch solche Thematiken zu berücksichtigen, die zunächst wenig mit staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Zusammenhang zu stehen scheinen, um so die Durchdringung des Privatlebens durch die gesellschaftliche Atmosphäre beobachten zu können. Löwenthal kritisiert an dieser Stelle, dass in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft häufig versucht werde, die literarischen Figuren mit Hilfe moderner Psychologie zu ergründen. Dies sei jedoch irreführend: „Die Aufgabe des Literatursoziologen besteht darin, die imaginären Gestalten der Dichtung mit der spezifischen historischen Situation, der sie entstammen, in Beziehung zu setzten und auf diese Weise die literarische Hermeneutik zu einem Teil der Wissenssoziologie zu machen“ (Löwenthal 1990: 332).

Ein weiterer bedeutender Ansatzpunkt der Literatursoziologie Löwenthals stellt die Ergründung des Erfolgs eines Werks und die gesellschaftlichen Bedingungen für diesen Erfolg dar. Daraus ergeben sich wiederum hauptsächlich drei soziologische Untersuchungsbereiche: Erstens die Frage nach dem Einfluss der generellen Lebensumstände (Krieg/Frieden, Hochkonjunktur/Depression,…) auf die Literatur, zweitens der Einfluss gesellschaftlicher Kontrollen (Finanzierung von Büchereien, öffentliche Literaturpreise, Indizes,…) und drittens die technischen Entwicklungen und ihre Konsequenzen.

Zuletzt nennt Löwenthal vier empirisch zu untersuchende Aufgaben. Die erste besteht aus der „Funktionsanalyse des Inhalts“, die klären soll, welche Befriedigung Menschen in einer historisch-spezifischen Situation von der Massenliteratur erwarten (Löwenthal 1990: 343). Die zweite widmet sich der „Haltung des Schriftstellers“ (Löwenthal 1990: 345), da ein wichtiger Unterschied zwischen dem vom Leser Gesuchten und dem von Autoren Vermittelten besteht. Ein dritter Untersuchungsgegenstand ist der des „Kulturerbes“, mit Hilfe derer die anhaltende Bedeutung von alten, bereits tradierten Motiven herausgearbeitet werden soll. Viertens ist die „Rolle der gesellschaftlichen Situation“ in der literarischen Bearbeitung von Themen von Bedeutung. In diesem Rahmen sollen beispielsweise der Einfluss politischer und wirtschaftlicher Bedingungen (Krieg, Depression,…) auf die Themen, aber auch emotionale Verhaltensmuster der Protagonisten untersucht werden (Löwenthal 1990: 347).

"Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft" (1932)

Der Aufsatz „Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft“ wurde erstmals 1932 in der ersten Ausgabe der „Zeitschrift für Sozialforschung“ publiziert und enthält bereits wichtige Ansatzpunkte der Literatursoziologie, die sich auch später in „Aufgaben der Literatursoziologie“ wiederfinden.

Zunächst kritisiert Löwenthal in diesem Aufsatz allerdings die zeitgenössische Literaturwissenschaft, die sich seines Erachtens nach in der „metaphysische[n] Spekulation“ oder der „positivistische[n] Beschreibung“ ansiedelt (Löwenthal 1990: 316). Für Löwenthal ist es daher notwendig, eine neue Form der Literaturwissenschaft zu entwerfen, die zwischen diesen beiden Extremen zu einer „geschichtlichen Erklärung der Dichtung“ führt (Löwenthal 1990: 317). Ebenso wie die Begründung für eine neue Form der Literaturwissenschaft entwickelt er auch die einzelnen Aufgaben dieser aus einer jeweiligen Kritik an der bestehenden Literaturwissenschaft heraus.

Die Aufmerksamkeit für Autor und Publikum ist ihm in diesem Zusammenhang wichtig. Bei der Untersuchung des Autors soll aber nicht wie üblich auf eine bloße Biografie zurückgegriffen werden, vielmehr sei hier die Psychoanalyse als Hilfswissenschaft, die bereits verschiedene Ansatzpunkte für die Literaturwissenschaft ausgearbeitet hat, unerlässlich.

Als zentrale Aufgabe der „geschichtlichen Erklärung der Dichtung“ benennt Löwenthal die Untersuchung dessen, „[…] was von bestimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung zum Ausdruckt kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der Gesellschaft ausübt“ (Löwenthal 1990: 317). Hierzu identifiziert er die materialistische Geschichtstheorie als zentralen Ansatzpunkt und bewegt sich damit innerhalb des Theoriegebäudes der frühen Kritischen Theorie. Die Relevanz einer solchen Betrachtung der Literatur sieht er im Basis-Überbau-Modell begründet: Da die Basis der Gesellschaft vom Kampf der sozialen Klassen dominiert wird, reproduziert sich dieser Kampf auch im gesellschaftlichen Überbau, also der Kultur und demnach auch der Literatur: Es geht also darum, „[…] zu zeigen, in wie vermittelter Weise sich die grundlegenden Lebensverhältnisse der Menschen in allen ihren Formen, also auch in der Literatur, ausdrücken“ (Löwenthal 1990: 319). Um die Vorgänge, die zu deren Reproduktion in der Kunst führen, aufzeigen zu können, ist die Psychologie (an dieser Stelle nennt Löwenthal nicht explizit die Psychoanalyse) als Hilfswissenschaft unerlässlich (Löwenthal 1990: 319).

Als weitere essentielle Aufgaben der Literatursoziologie identifiziert Löwenthal darüber hinaus die Ideologieforschung, da die Ideologie häufig den Zweck einer Überspielung sozialer Konflikte erfülle und in der gesellschaftlichen Erklärung der Kultur eine wichtige Funktion habe. Unter Ideologie können in diesem Zusammenhang „[…] individuelle und kollektive Bewusstseinsinhalte, sicherlich auch allgemein geltende gesellschaftliche Wertideen (Normen, Regeln und Kriterien) sowie Texte und Sprachspiele […]“ verstanden werden (Ritsert 2011: 8).

In einer soziologischen Betrachtung der Literatur müssen also Form, Stoff und Motiv der materialistischen Analyse unterzogen werden. Darüber hinaus rücken auch der Autor und dessen Bewusstsein über seine Aufgaben und Stellung in der Gesellschaft in den Fokus. So soll die psychologische Verfassung des Autors ermittelt werden, um weitere wichtige Elemente der oben angesprochenen Vermittlung (zwischen Gesellschaft und individueller Psyche) betrachten zu können. Zum Schluss führt Löwenthal außerdem an, dass eine Betrachtung der Wirkung von Literatur ein wichtiger Teil der literatursoziologischen Arbeit ist.

Von den Anfängen in Frankfurt in die USA

Der Vergleich dieser beiden Aufsätze zeigt, dass wichtige Teile von Löwenthals Ansatz ihren Ursprung in der Frankfurter Zeit haben. So erachtet Löwenthal bereits in der früheren Schrift die Rolle des Autors und die des Publikums als zentral für seine Fragestellung. Auch die Frage nach der Projizierung gesellschaftlicher Umstände in die Kunst ist eng mit seiner literatursoziologischen Betrachtungsweise verknüpft.

Auffällig ist allerdings, dass er in dem Aufsatz aus seiner Frankfurter Zeit mit der Forderung nach einer materialistischen Geschichtsphilosophie und der Anführung des Basis-Überbau-Modells noch marxistische Begriffe und Konzepte verwendet und sich somit deutlich in den Kontext der frühen Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule einfügt. Auch Max Horkheimer nannte in seiner Antrittsrede als Institutsleiter 1931 die Untersuchung der Literatur als einen wichtigen Teil der kritischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, die das Ziel des Instituts für Sozialforschung war (vgl. Horkheimer 2009: 33). Löwenthal selbst bezeichnete die Literatur später als „[…] die beste Datenquelle […] für Informationen über die Sozialisierungsmuster einer Gesellschaft“ (Dubiel/Löwenthal 1980: 171).

Das Fehlen dieser marxistischen Begrifflichkeiten in Löwenthals 1948 unter dem Originaltitel „The Sociology of Literature“ in den USA erschienen Aufsatz kann als eine Anpassung an die neue, bereits vom Kalten Krieg und Antikommunismus geprägte Forschungsumgebung im Exil gedeutet werden. Diese Beobachtung trifft jedoch nicht nur auf Leo Löwenthal zu, auch die Arbeit anderer Institutsmitarbeiter veränderte sich in Amerika: „Die Zusammenarbeit mit der New Yorker Universität krankte daran, dass man es politisch nicht wagte, die eigene Gesellschaftskritik im Gastland, das ohne Zweifel als das kapitalistisch fortgeschrittenste der Welt gelten musste, so einzubringen, wie es den eigenen Positionen entsprochen hätte“ (Schwandt 2010: 86).

Empfohlene Zitierweise

Maren Emde: Leo Löwenthals Literatursoziologie und ihre Anfänge in Frankfurt. In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/loewenthal/emde.


Literatur

Dubiel, Helmut; Löwenthal, Leo: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel. Frankfurt am Main 1980

Löwenthal, Leo: Aufgaben der Literatursoziologie. In: ders.: Schriften in 5 Bänden. Bd. 1: Literatur und Massenkultur. Hg. von Helmut Dubiel. Frankfurt am Main 1990, S. 328-348

Löwenthal, Leo: Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft. In: ders.: Schriften in 5 Bänden. Bd. 1: Literatur und Massenkultur. Hg. von Helmut Dubiel. Frankfurt am Main 1990, S. 309-327

Horkheimer, Max: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung. In: ders.: Gesammelte Schriften in 19 Bänden. Bd. 3: Schriften 1931-1936. Hg. von Alfred Schmidt. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, S. 20-35

Ritsert, Jürgen: Materialien zur kritischen Theorie der Gesellschaft. Heft 9: Ästhetische Theorie und das Vermittlungsproblem. Frankfurt am Main 2011

Schwandt, Michael: Kritische Theorie. Eine Einführung. Stuttgart 2010