Logo Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945

Erhard Lommatzsch

...der siegende Quijote (1947)

von Frank Estelmann

Als Erhard Lommatzsch im Wintersemester 1947/48 ein Seminar über Miguel de Cervantes anbot, den Verfasser des Don Quijote, mit dem ausdrücklichen Verweis im Vorlesungsverzeichnis, dies geschehe "aus Anlass der 400. Wiederkehr seines Geburtstages", so war dies nicht das erste Cervantes-Seminar des Romanisten. Er hatte bereits im Wintersemester 1937/38 eines gehalten.

Lommatzschs Cervantes-Seminare

Seminare sind flüchtiger Natur, mangels Überlieferung sind ihre Inhalte meist nur schwer zu rekonstruieren. Dabei wäre es manchmal überaus interessant zu wissen, welche zeitgeschichtlichen Fragen zu welchen Zeiten möglicherweise in die universitäre Lehre hineingewirkt haben. Hat etwa Lommatzsch 1947/48 die exakt gleiche Veranstaltung wie 1937/38 gehalten? Oder hat er das bald nach Kriegsende angebotene Cervantes-Seminar gegenüber dem in der Zeit des Nationalsozialismus gehaltenen Seminar überarbeitet?

Nur eines ist sicher: Cervantes gehörte zu den ganz wenigen Autoren spanischer Sprache, zu denen sich der Galloromanist und Italianist Erhard Lommatzsch überhaupt akademisch äußerte. Ansonsten behandelte Lommatzsch, wie die Liste seiner Vorlesungen und Seminare an der Universität Frankfurt – aber auch seine Publikationsliste – zeigen, die spanische Sprache und Literatur eigentlich nicht. Ausnahme ist in der Lehre eine kurze Periode Anfang der 1940er Jahre, also in der Zeit des Weltkriegs, als ihm der romanistische Unterricht, oder das, was davon übrig geblieben war, allein zukam: sein Interesse für den Cantar del mio Cid im Vergleich zur altfranzösischen Heldenepik (WiSe 1939/40), für die „neuspanische Literatur“ (2. Trimester 1940), die „spanische Lyrik“ (3. Trimester 1940) und das „spanische Theater“ (1. Trimester 1941) waren also wahrscheinlich konjunkturell und konkret dadurch bedingt, dass in Frankfurt für die Behandlung des Spanischen niemand anderes verfügbar war, solange Erich von Richthofen seinen Frontdienst verrichtete.

Ein Stoff zum zwanglosen Nachdenken

Für den Ritter mit der traurigen Gestalt aber bestand ein tieferes Interesse. Für Lommatzsch gehörte er als ein Klassiker der Weltliteratur – wie auch die Divina Commedia Dantes – unbedingt zum Lesekanon und Lehrkanon eines jeden Literaturwissenschaftlers. Hervorgetreten mit eigenen Cervantes-Studien war zur Zeit Lommatzschs im Frankfurter Kontext insbesondere der Germanist und Komparatist Max Kommerell. Lommatzschs Interesse an Cervantes’ Text aber lag nicht unbedingt in der kritischen Auseinandersetzung. Ihm ermöglichte der Stoff die akademisch zwanglose Freiheit zum Nachdenken, auch über das eigene Tun und Schaffen. Dies zeigt die akademische Rede, die Lommatzsch im Jahr 1947 an der Universität Frankfurt über den Don Quijote gehalten hat. Sie trägt angesichts von kurz zurückliegendem Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust im Leitmotiv des letztlich doch siegenden Helden deutliche Spuren der individuellen Erinnerungsarbeit eines deutschen Professors, der während des gesamten Nationalsozialismus im Lande geblieben war.

Cervantes' Italienerlebnis

Seine Rede beginnt Lommatzsch mit dem Hinweis darauf, dass das Cervantinische Werk auch außerhalb Spaniens Gegenstand „sorgfältige(r) Forschung innerhalb der letzten fünfzig Jahre“ (Lommatzsch 1954: 233) gewesen sei. Diese Forschung habe einer „Deutung der einzigartigen menschlichen und künstlerischen Erscheinung des Don Quijote-Dichters die Wege geebnet“ (ebd.). Dem folgt ein längerer biographischer Abriss des Lebens des kastilischen Dichters, an dem vielleicht auffällig ist, dass in ihm der Italienreise Cervantes’ besonderes Gewicht gegeben wird. Die Lektüren Ariostos und Castigliones spiegelten sich, so Lommatzsch, in wichtigen Kapiteln des Quijote oder in den Novelas ejemplares Cervantes’ ebenso wider wie einige italienische Landschaften und Städte, die der Dichter auf der Reise habe erleben können.

Auf diese Weise fährt Lommatzsch in seiner Vorstellung des Cervantinischen Gesamtwerks zunächst fort. Spätestens jedoch als anlässlich der Darlegung der Verletzung des Autors bei der Seeschlacht von Lepanto (1571), in der zu den „Vorzüge(n) und Schattenseite(n) des Soldatenstandes gegenüber dem Berufe des Gelehrten“ (Lommatzsch 1954: 236) Stellung genommen wird, musste sich der Zuhörer des Jahres 1947 wohl zum Blick auf die eigene Situation ermuntert gefühlt haben.

Soldatenleben und Gelehrtendasein

Für Lommatzsch habe Don Quijote genau zu dieser Frage „eine seiner gescheiten Reden“ (ebd.) gehalten, auf die er kurz verweist. Hier lohnt sich der Blick ins Original. Tatsächlich hatte der Protagonist auf seinem Weg durch Spanien in Kapitel I,4,7 des Werks die Gründe dafür genannt, warum das Leben des Gelehrten gegenüber dem Leben des Soldaten vorzuziehen ist. Ersteres sei schlicht weniger beschwerlich und auch lohnender. Waffen hätten der Wissenschaft gegenüber zwar einige Vorzüge: mit ihrer Hilfe könnten, so Don Quijote selbst, etwa Wege bewacht, Städte und Staaten verteidigt werden. Jedoch könne man dabei, wie der Autor selbst am eigenen Leib erfahren hatte, ganze Körperteile oder gar das Leben verlieren.

Tragisch am Krieg ist auch, der Rede des Don Quijote nach, dass ein Soldat durch den Krieg die Möglichkeit verliert, jenen Ruhm zu erwerben, den der Gelehrte, wenn er sich nur ordentlich und diszipliniert mit der Geistesarbeit abquält, erlangen kann. Lommatzsch greift dies geradezu ostentativ auf, wenn er die „beschämende Undankbarkeit“ erwähnt, die die spanische Krone dem in bescheidenen Verhältnissen lebenden Cervantes nach dessen Verwundung gegenüber gezeigt hat (Lommatzsch 1954: 237). Sie ist ein zeitgeschichtliches Signal und darf wohl auch als ein Schulterschluss des romanistischen Gelehrten mit jenen deutschen Soldaten gedeutet werden, die zwei Jahre zuvor, wenn überhaupt, nur verwundet und ruhmlos von den Schlachtfeldern Europas zurückgekehrt waren. Lommatzsch hatte seinen Sohn im Russlandfeldzug verloren.

Der jugendfrische Roman und die Wirklichkeitsdarstellung

Erst als gealterter Mann hat Miguel de Cervantes sich seinem Hauptwerk gewidmet, das ihn mit einem Schlage berühmt gemacht hat: dem Don Quijote, diesem „allzeit jugendfrischen ersten Roman im neuen Europa“ (Lommatzsch 1954: 239). Dessen großen Erfolg erklärt Lommatzsch durch verschiedene Eigenschaften des Textes. Der Roman von Cervantes schlägt da im Raum des Redners mit allerhand Denkwürdigem, Lustigem, mit Scherzen und Possen und sonstwie Unterhaltendem zu Buche.

Grundsätzlich jedoch sieht Lommatzsch die wirklichkeitsgetreue Darstellung der spanischen Gegenwart als eines der Hauptcharakteristika des Werks an. Seine Deutung des literarhistorischen Meilensteins des Cervantes ist also von der die heutigen Debatten bestimmenden These des ‚ironischen’ Literaturromans einigermaßen entfernt: „Die Kunst des Cervantes wurzelt tief im spanischen Erdreich“ (Lommatzsch 1954: 241), heißt es unmissverständlich. Der Stoff des Romans wird damit zum nationalen Stoff, und auch dies eröffnet eine Projektionsfläche für die eigene Gegenwart.

Ein universelles Sittengemälde

Die Widerspiegelungsthese entspricht zu sehr der Forschungsmeinung der damaligen Zeit, um besonders betont zu werden. Aufschlussreich ist vor allem, dass Lommatzsch bei ihrer Konstruktion Cervantes als einen Zeitbeobachter entwirft, dessen „breit ausgespanntes Sittengemälde“ der Spanier wohlwollend, mild und nachsichtig bleibe:

„Trotz allem liebt er die Menschen, liebt er seine Spanier, im Guten wie im Schlimmen, sieht er in ihnen seine Schicksalsgenossen und Brüder, und mit einem erlösenden humorvollen Lachen sichert er sich einen höheren Blickpunkt. Niemals zeigt er sich zugänglich Gefühlen unversöhnlichen Hasses, eiskalter Menschenverachtung, er bleibt der abgeklärte Weise, der sich auch der eigenen Menschlichkeiten bewußt ist“ (Lommatzsch 1954: 242).

Gerade dieses Sittengemälde scheint über die bloße Rekonstruktion des Textes hinaus auch in die eigene Gegenwart des Redenden zu reichen. In gewisser Weise gibt Lommatzsch hier nichts anderes als eine Art Selbstporträt des Gelehrten in einer schwierigen Epoche der nationalen Geschichte. Sich selbst in die Figur des Cervantes projizierend, sieht er das Bild eines ebenso abgeklärten und lachenden Weisen, der gegenüber der jüngeren, nun eben nationalsozialistischen Vergangenheit, auf seinem ‚höheren’ Blickpunkt beharrt und nach Versöhnung ruft. Dabei ist, so könnte man anmerken, die Trauerarbeit vielleicht noch gar nicht geleistet.

Für Lommatzsch zeigen die Erfahrungen des Cervantes somit vor allem etwas, das ihn selbst betrifft: Der Zeitbeobachter sollte von seiner intellektuellen Warte aus auf die Notwendigkeit der Versöhnung aller Beteiligten drängen. In aller rhetorischen Uneigentlichkeit, und doch eindeutig im Sinne einer Universalisierung der Erfahrung des Spaniens im Blick seines prominenten Romanciers, stellt Lommatzsch, in den Cervantinischen Text projiziert, die Menschlichkeit aller Beteiligten, auch der deutschen „Schicksalsgenossen“ und „Brüder“ in den Vordergrund. Dem Publikum von 1947 konnte dieser Schulterschluss kaum entgehen.

In einer einigermaßen hohl wirkenden rhetorischen Geste wird das „Unvollkommene“, das der menschlichen Natur eigne, gemeinsam mit dem klassisch ewig Geltenden Guten, Schönen, Edlen, „das hier auf Erden doch auch seinen Platz behauptet“ (Lommatzsch 1954: 243), schließlich gegen die Erfahrung von Zerstörung, Faschismus, Krieg und Holocaust gestellt.

Höherer Blickpunkt und Versöhnung

Don Quijote als „Repräsentant eines sich ins Phantastische steigernden Idealismus schlechthin“ (Lommatzsch 1954: 245), jener Quijote eben, der am Ende doch als lachender „Sieger“ das Buch verlässt, muss eine großartige Identifikationsfigur für Lommatzsch gewesen sein. Sicherlich hatte sich Lommatzsch zwischen 1933 und 1945 persönlich nichts zu schulden kommen lassen. Dass er aber 1947 nicht gewillt war, die Überlegenheit des eigenen Geistes angesichts der Opfer des Faschismus kritisch zu hinterfragen, anzuzweifeln, dass der feste Wille zum Guten, die Würde und der Adel des Menschen (allesamt Lommatzsch 1954: 246) als Orientierungsgrößen jetzt noch ohne weiteres greifen würden – dieser Versuch, an eine Kontinuität im Geist an Cervantes unvermittelt anzuknüpfen, lässt nicht gerade auf eine besonders redliche Auseinandersetzung mit dem zurückliegenden Geschehen oder den eigenen Zeitgenossen schließen. Er dient vor allem dem Vergessen, auch wenn der Redner sich dabei, um überhaupt vergessen zu können, mit einem Narren wie Don Quijote identifizieren muss.

Lommatzsch wollte sich eigentlich nicht offiziell oder öffentlich über die Zeit zwischen 1933 und 1945 äußern. Er hat dies immer nur indirekt getan – so auch hier, wo der wissenschaftlich-philologische basso continuo nicht mehr allein den Takt angibt, sondern in die Gestalt des Don Quijote übertragen, Überlegungen zur eigenen Zeitgeschichte eingeflochten worden sind, die man in direkter artikulierter Form bei Lommatzsch vermisst. Lommatzsch selbst hat diese „Jubiläumsvorlesung“, wie er sie nannte, Mitte der 1950er Jahre in einem Sammelband seiner Schriften publiziert.

 
Empfohlene Zitierweise

Frank Estelmann: Erhard Lommatzsch… der siegende Quijote (1947). In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/Estelmann


Literatur

Lommatzsch, Erhard: "Cervantes und sein Don Quijote", Jubiläumsvorlesung 1947. In: ders.: Kleinere Schriften zur Romanischen Philologie. Mit 7 Lichtdrucktafeln. Berlin 1954, S. 232-248.

Frank Estelmann/Olaf Müller: „Angepaßter Alltag in der Frankfurter Germanistik und Romanistik: Franz Schultz und Erhard Lommatzsch im Nationalsozialismus“. In: Jörn Kobes/Jan-Otmar Hesse (Hg.): Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945. Göttingen 2008, S. 33-59.


Audioelement (3:05 Minuten)

Ausschnitt aus Erhard Lommatzschs Jubiläumsrede über den Don Quijote, Universität Frankfurt am Main 1947

Sprecher: Frank Estelmann


Bild oben: Erste Seite des Anschaffungsjournals der Bibliothek des Romanischen Seminars mit der Handschrift von Erhard Lommatzsch, angelegt im November 1928, also kurz nach der Berufung Lommatzschs nach Frankfurt am Main (Foto: Frank Estelmann)