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Bodo Mergells Dissertation – Wolfram und seine französischen Quellen

von Andreas Goebel

Mergell trat zum ersten Mal in das Blickfeld der mittelhochdeutschen Forschung, als er 1936 seine Doktorarbeit mit dem Titel „Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen. Teil I: Wolframs Willehalm“ veröffentlichte. Vergleichsweise neu war sein Versuch, detailliert die französischen Quellen Wolframs aufzuzeigen, ohne sich in einer Menge von Details zu verlieren.

In dieser Studie geht es Mergell um den Gesamteindruck, den Wolfram hinterlassen wolle und den er auf der Grundlage einer Vielzahl einzelner Bezüge im Text (z.B. Wortwahl, Vergleiche, Handlungsführung) herausarbeitet; nicht das Detail macht den poetischen Rang Wolframs aus, sondern – so Mergells Ansatz – das Ganze in Wolframs personentypischer Umstilisierung.

Max Ittenbach, ein Vorgänger Mergells als Assistent am Frankfurter Germanischen Seminars und späterer Professor, findet hierzu folgende Formulierung: “Mergells neue... umsichtige Vergleichung von Wolframs Willehalm mit seiner altfranzösischen Parallele führt ihn zu den Anschauungen: die erhaltene Fassung des altfranzösischen Gedichtes steht der Wolfram vorgelegenen Quelle sehr nahe; die Abweichungen Wolframs... beruhen auf einer folgegerechten Umstilisierung..., die eine Neuschöpfung genannt werden kann...“ (Ittenbach 1939: 185).

In einer Eigendarstellung seiner „Willehalm“-Arbeit, die er 1937 in Form eines Aufsatzes publizierte, wendet sich Mergell nationalen Fragen zu, ohne jemals in einen nationalistischen Ton zu verfallen. Es geht ihm beim Blick auf „Willehalm“ und dessen französische Vorlagen um eine Zusammenschau von Quellen, nicht um deren Rang bzw. Rangfolge: Ohne Anstöße von außen, von französischen Quellen sei die Entstehung des „Willehalm“ undenkbar; allerdings sei auch der deutsche Beitrag bedeutsam; Wolfram habe die französischen Quellen „tief ergriffen“ und „zu einem gänzlich Neuen gewandelt.“ Sein Hauptziel beschreibt Mergell so: Es gehe ihm um den Aufweis der „Finalität der Dichtungsgeschichte“, um das Aufspüren jener literarischen Kräfte, aus denen das jeweilige dichterische Werk, in diesem Fall „Willehalm“, erwachse, sich natürlich ergebe (Mergell 1937: 22).

Mergell vertritt also die Ansicht, das dichterische Kunstwerk sei nicht allein genialem Tun zu verdanken, sondern rühre im Sinn des Begriffs „final“ aus einem Streben, welches das – mit Umsicht gewählte – literarische Detail in sich berge. Anders formuliert: Es bedarf mehrerer Schritte, bis ein tragfähiger Stoff geformt und jene „Finalität“ erreicht, die zu einem bedeutenden literarischen Kunstwerk führt. Rückbezogen auf die Frage nach den französischen und deutschen „Beigaben“ bedeutet dies, dass sich die Frage einer „Rangfolge“ überhaupt nicht stellt.

In der renommierten „Germanisch-romanischen Monatschrift“ (GRM) kommt Wilhelm Kellermann zu einer Bewertung von Mergells Dissertation, die dessen eigener Einschätzung durchaus entspricht: „...Viel fruchtbarer...ist die Vergleichung einzelner Szenen nach ihrem Gesamtsinn. Diese Methode ist noch zu wenig angewandt worden. Die Willehalm-Arbeit Bodo Mergells ist ein glänzend gelungener Versuch der Art. Zweierlei wird durch dieses Verfahren erreicht. Es fällt die immer missliche Trennung  von äußeren und inneren Umänderungszügen fort... und dann wird auch die kompositionelle Vergleichung durch eine neue solide Grundlage verstärkt...“ (Kellermann 1938: 301). Bereits ein Jahr vorher heißt es in der „Bücherschau“ der GRM: Mergells Untersuchung „stellt sich die Aufgabe, die innere und äußere Form der französischen wie der deutschen Dichtung in schrittweisem Vorgehen wechselseitig zu verstehen und aufzuzeigen. Auf der Grundlage einer streng philologischen Analyse ist sie synthetisch gerichtet auf eine Überwindung des Zeile für Zeile fortschreitenden Textvergleichs, um die sich ergebenden Unterschiede von der Ganzheit beider Dichtungen her in ihrer lebendigen Eigenart zu begreifen“ (Bücherschau 1937: 71).

Empfohlene Zitierweise

Andreas Goebel: Bodo Mergells Dissertation – Wolfram und seine französischen Quellen. In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/mergell/goebel.


Literatur

Bücherschau, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift (1937), S. 70-71

Heller, E.K.: Rezension von Mergells Dissertation "Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen I. Teil: Wolframs Willehalm" (Münster 1936), in: The Germanic Review (1938), S. 144-146

Ittenbach, Max: Forschungsbericht: Mittelhochdeutsche Dichtung, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung (1939), Heft 5, S. 185

Kellermann, Wilhelm: Rezension von Mergells Dissertation "Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen I. Teil: Wolframs Willehalm" (Münster 1936), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift (1938), S. 301-302

Mergell, Bodo: Wolframs "Willehalm" und seine französische Quelle, in: Mitteilungen des Wolfram von Eschenbach-Bundes (1937), Heft 2, S. 22-32

Ranke, Friedrich, Rezension von Mergells Habilschrift "Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, II. Teil: Wolfram Parzival" (Münster 1943), in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur (1948/50), S. 24-26