Logo Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945

Martin Sommerfeld – Wegbereiter der Rezeptionsästhetik?

von Anna Eberhardt

Der Essay „Der Bücherleser. Gedanken zu seiner Rechtfertigung“ (Sommerfeld 1925) ist einer der interessan­testen Texte Martin Sommerfelds, denn obwohl er sich einem literaturwissenschaftlichen Thema, dem Verhältnis von Autor und Leser sowie der Bedeutung der Rezeption von Literatur durch den Leser, widmet, wurde er nicht im universitären Kontext veröffentlicht, sondern ebenso wie ein Jahr zuvor der humoristische Gedichtband „Deutsche Klitteraturgeschichte in groben Zügen. Ein bibliopsiles Repetitorium" (Sommerfeld 1924) lediglich privat in kleiner Auflage für die Mitglieder der Frankfurter Bibliophilen-Gesellschaft gedruckt. Diese beiden Büchlein, die also offensichtlich nicht zur Veröffentlichung, sondern als reines ‚Privatvergnügen‛ geschrieben wurden, ermöglichen einen erweiterten Blick auf Martin Sommerfelds Werk.

Gegen Schopenhauers Verachtung des Lesers

Bemerkenswert ist „Der Bücherleser“, weil Sommerfeld hier – ohne es allerdings so zu benennen – ein Konzept der Rezeptionsästhetik entwirft, wie es erst knapp 50 Jahre später mit Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß in der Literaturwissenschaft Einzug hielt.

Ausgangspunkt des Textes ist eine Begegnung im Zug: Ein Mann liest inmitten des Lärms in dem überfüllten Zug Schopenhauer, was Sommerfeld als Paradoxie erscheint, da Schopenhauer durch zunehmenden Lärm einen „allgemeinen Verfall des Denkens“ (Sommerfeld 1925: 5) befürchtete. Zudem kritisierte dieser die Leser scharf, „so untersuchte Schopenhauer nur, warum der Leser ihn nicht erst beachten oder doch mißverstehen werde, und er gab ohne weiteres dem gewerbsmäßigen Fabrizieren schlechter Bücher die Schuld, und der Lieblo­sigkeit, Leblosigkeit und Überheblichkeit des Lesers, dem er ein unbegrenztes Mißtrauen entgegenbrachte" (Sommerfeld 1925: 7).

Sommerfeld nimmt dieses Urteil Schopenhauers zum Anlass, nun eine eigene Charakteri­sierung des Lesers aufzustellen, der durchaus ein „problematisches Geschöpf“ sei: Er suche die Einsamkeit, um sich in Gesellschaft zu fühlen, er „sonder[e] sich ab, um Anteil zu nehmen“; die Situation des Lesers sei daher eine „[w]iderspruchsvolle und [p]roblematische" (Sommerfeld 1925: 8). Doch nicht nur in diesem Punkt hält er Schopenhauers Darstellung für eine vereinfachende:

"Schopenhauer stellt es so dar, als ob es unendlich verschiedene Arten von Büchern und nur eine Art von Lesern gäbe. Aber tatsächlich gibt es ebenso viele Typen von Schriftstellern wie von Lesern, und geschichtlich gesehen ist es so, daß jede schriftstellerische Epoche, jede dichterische Haltung, sich ohne weiteres den Leser schafft, der ihr entspricht." (Sommerfeld 1925: 8)

Die Merkmale jeder dichterischen Epoche spiegelten sich demnach in ihrer jeweiligen Leserschaft wider.

Die Aufwertung der Leserposition

Sommerfeld kommt zu dem Schluss, dass die Kritik des Autors am Leser, „das ganze feindselige oder gespannte Verhältnis zwischen Autor und Leser“, für die Schopenhauers Text ein charakteristisches Beispiel sei, „eine nicht notwendig in der Natur der Sache liegende, vielmehr nur eine geschichtlich bedingte Krisenerscheinung“ (Sommerfeld 1925: 9) sei. Diese Entwicklung sei eine Erscheinung der Moderne: Wo der Leser zuvor geachtet oder gar in Vorreden umschmeichelt wurde, wie beispielsweise von Jean Paul, ist es „seit etwa 1830, seit dem Bruch der klassischen Tradition in Gesinnung und Bildung“, „der gute Ton, über den Leser zu spotten, ihn zu verunglimpfen“ (Sommerfeld 1925: 10) oder gar zu verachten.

Nach dieser knappen Analyse der gewandelten Stellung des Lesers kommt Sommerfeld zu einer zur damaligen Zeit offenbar ungewöhnlichen, randständigen oder sogar vollkommen abgelehnten Position: Der Bruch des Autors mit dem Leser liege nicht im Wesen der Sache, denn „dem Wesen der Sache nach gehören Autor und Leser – bedarf man heute nicht einigen Mutes nach allen Seiten, dies auszusprechen? – zusammen“, und zwar in einem „notwendigen, tieferen Sinn“ (Sommerfeld 1925: 11). Der Einschub lässt vermuten, dass diese Position zur damaligen Zeit ansonsten nicht thematisiert wurde, unpopulär war oder in der wissen­schaftlichen Debatte abgelehnt wurde. Möglich wäre sogar, dass Sommerfeld als erster Literaturwissenschaftler diese Position der Romantik wieder aufgriff.

Diese These versucht er nun durch mehrere Argumente zu stützen. So richte sich die Kritik am Leser eigentlich nur gegen den „kritischen Leser“, gegen den Kritiker überhaupt, der hier verunglimpft werde: „[D]er beschimpfte und bloßgestellte Leser ist eigentlich nur der Kritiker" (Sommerfeld 1925: 11). Die Kritik an Literaturkritikern weist Sommerfeld nicht zurück, sehr wohl jedoch die am kritischen Leser:

"Und doch gibt es unzweifelhaft eine Rechtfertigung der Kritik und des kritischen Lesers, die gerade am wenigsten vom Dichter, vom wirklichen Dichter bestritten werden wird: ich meine nämlich jene Kritik, die im Dichter selber, während des Schaffens sich geltend macht, jenes gewiß nicht begrifflich klare und deutlich auszusprechende, vielleicht nicht einmal ganz bewusste Prüfen, Vergleichen, Umschichten. […] Und eben dies und nichts weiter ist ja auch Kritik überhaupt, wenn sie keine überheblich-dogmatische Besserwisserei oder schulmeisterliche Gefühllosigkeit ist. Und eben dies ist auch das Verhalten des echten Lesers." (Sommerfeld 1925: 12f.).

Partizipation des Lesers am literarischen Schaffen

Sommerfeld stellt den Leser damit fast auf eine Stufe mit dem Autor, denn genau wie die­ser im Laufes des Schaffensprozesses sein eigenes Werk immer wieder kritisiere und verändere, führe der ‚echte‛ Leser diesen Prozess beim Lesen fort. Kritik ist demzufolge keine ‚Schmähung‛ eines Werkes, sondern Teil des kreativen Schaffensprozesses, der auch nach der Vollendung des Werkes und ohne Beteiligung des Autors stattfinden kann und stattfindet.

Sommerfeld stützt seine These weiter mit Hinweisen auf die poetologischen Überlegungen der Frühromantiker. Denn während Goethe oder Wieland sich der Kritik am Leser angeschlossen hätten, „so war es gerade einer der esoterischen Romantiker, Novalis, der dem Leser eine tiefe und notwendige Funktion im künstlerischen Schaffensprozess zuwies. Zwischen Schaffendem und Empfangendem besteht schon während des Schaffens eine intime Verbindung, und das fertige Werk erlebt im wahren Leser noch einmal seine Geburt; so nannte er den echten Leser einen 'erweiterten Autor' mit allen Rechten und Pflich­ten eines Autors. Ein schönes und tiefes Wort! Der wahre Leser hört eben jene feinen, im Dichter selbst sich regenden kritischen Stimmen und keine anderen" (Sommerfeld 1925: 13). Der ‚wahre Leser‛ durchläuft also nach Sommerfeld beim Lesen den gleichen Prozess wie der Autor beim Schreiben, er vollzieht diesen nach und führt ihn fort. Novalis mache als wichtigstes Krite­rium des „erweiterten Autors“ aus, dass er „zugleich mit diesem Zerschmelzungsprozess die neue Synthese vorbereite" (Sommerfeld 1925: 15).

Diesen Gedanken führt Sommerfeld nun fort:

"Der wahre Leser beträgt sich in der Tat wie ein Schaffender, und das Problem des Lesers von der künstlerischen Seite her ist denn auch das Gleiche wie das des Dichters selbst: er soll zugleich dem Eindruck offen sein und doch mitführen, mitschaffen helfen, er soll das Einzelne ergreifen und doch das Ganze im Auge haben, zugleich empfangen und gebären [...]" (Sommerfeld 1925: 14f.).

Dies kann jedoch nur der „kundige“ Leser leisten, der mit Literatur im Allgemeinen und dem jeweiligen Autor und dem Buch im Speziellen vertraut ist.

Frühe Rezeptionsästhetik

Zwischen dem Theorem, das Sommerfeld in diesem Aufsatz aufstellt, und den rezeptionsästhetischen Theorien, die in den 1960er und 1970er Jahren in der Literaturwissenschaft Einfluss gewannen, lassen sich eindeutige Parallelen erkennen. Die Rezeptionsästhetik wird folgendermaßen definiert:

"Der rezeptionsästhetische Ansatz untersucht die Beziehungen zwischen Text, Leser und Wirklichkeit. Er untersucht vor allem daraufhin, wer einen Text verstehen kann (Bedingungen), warum er ihn lesen und verstehen will (Interesse, Nutzen und  Bedürfnisse) und wie dieses Verstehen abläuft (Leseakt, Rezipientenleistung)" (Simon 2003: 42).

Mit ebendiesen Kategorien beschäftigte sich Sommerfeld bereits viele Jahrzehnte zuvor: Die Verstehensbedingungen charakterisiert er zum einen als Kompetenz des Leser im Umgang mit Literatur, denn dies gelinge nur dem „Kundigen" (Sommerfeld 1925: 15), zum anderen als Überein­stimmung von Buch und Leser: „Nur da, wo Buch und Leser übereinstimmt, ist Gelegen­heit, nur da ist jenes Sich-Selbstvergessen, jene Abwesenheit von Trieb und Zweck möglich, die allein die fruchtbare Einkehr und Sammlung in sich selbst verbürgt" (Sommerfeld 1925: 24). Auch das Interesse des Lesers, seine Intention wird hier angesprochen: die "Selbstreflexion, die erst durch die Übernahme fremder Perspektiven, wie sie die Literatur bietet, ermöglicht wird" (Simon 2003: 43). Für Sommerfeld sind die Voraussetzungen und Bedürfnisse des Lesers entschei­dend, und da „so außerordentlich viel auf den Leser ankommt, auf das was er mitbringt und das was ihm fehlt“ (Sommerfeld 1925: 24f.), müssen allgemeine Empfehlungen von Standardwerken wie die Aufstellung eines Kanons versagen.

Ebenso wie Wolfgang Iser seine Theorie ausgehend von einem „idealen“ Leser entwickelt, spricht Sommerfeld vom „idealen, [...] möglichen Leser“; im Gegensatz dazu „scheint der Leser des wirklichen Lebens in seinen vielhundert Schattierungen jeder Mühe, ihn zu fassen und säuberlich zum logischen Gebrauch zu präparieren, durchaus zu spotten" (Sommerfeld 1925: 19). Den Rezeptionsprozess des Lesers beschreibt Sommerfeld analog zum Schaffensprozess des Autors, dieser vollziehe die Selbstkritik des Autors ebenso nach wie seine Gedankengänge und besitze das „Vermögen, etwas hinzuzutun, sich nicht nur pflichtgemäß beeindrucken zu lassen" (Sommerfeld 1925: 15). Sommerfeld bezeichnet den Leser als „Schaffende[n]“, gar als einen „Mit- und Nachautor, ein Spiegelbild des Dichters“ (Sommerfeld 1925: 16), der somit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzt. Auch in der späteren Rezeptionsästhetik wird der „Leser als Agierender und Schaffender“ (Simon 2003: 42) untersucht. Iser drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: „Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt" (Iser 1975: 229).

Auch wenn Iser hier noch etwas weiter geht, indem er die Bedeutungsgenerierung ausschließlich dem Rezipienten zuspricht, so ist die Grundaussage doch identisch: Der Leser nimmt Literatur nicht nur auf, er fügt ihr auch notwendigerweise etwas hinzu, ein Werk ist demnach nie abgeschlossen, sondern wird in der Rezeption immer wieder verändert und erweitert bzw. ‚aktualisiert‛, wie Iser es ausdrückt. Hans Robert Jauß konstatiert: „Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick darbietet. Es ist kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart" (Jauß 1975: 129). Vielmehr bestehe ein „dialogisches Verhältnis“ zwischen Werk und Leser (Jauß 1975: 128).

Sicherlich bestehen etliche Unterschiede zwischen Sommerfelds Aussagen und der Rezep­tionsästhetik. So entwickelt Sommerfeld keine ausformulierte methodische Vorgehenswei­se, keine Analysekategorien, um seine Erkenntnisse über den Leser literaturwissenschaft­lich anwendbar zu machen.

Die "Wohltat der Einkehr"

Da die 160 Exemplare des „Bücherlesers“ nicht im universitären Kontext publiziert wurden und daher vermutlich außerhalb des Bekanntenkreises von Martin Sommerfeld keine Beachtung gefunden haben, erscheint es aus heutiger Perspektive verständlich, dass Sommerfeld trotz seiner unzeitgemäßen Betrachtungen nicht als Vorläufer der modernen Rezeptionsästhetik genannt wird, sondern Walter Benjamin. Dessen Essay über „Lite­raturgeschichte und Literaturwissenschaft“ wurde jedoch erst sechs Jahre später veröffent­licht. Benjamin nehme, so die Ansicht einiger Literaturwissenschaftler, Positionen der Rezeptionsästhetik vorweg, heißt es doch dort: „Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen" (Benjamin 1991: 290).

Die aufgezeigten Parallelen, die sich zwischen Sommerfelds Aufsatz „Der Bücherleser“ und der modernen Rezeptionsästhetik finden lassen, sind gleichwohl bemerkenswert. Wäre sein Werk nicht in Vergessenheit geraten, so würde die Forschung ihn zweifelsohne als Wegbereiter der Rezeptionsästhetik bezeichnen:

"Aber dies ist ja das Zeichen, unter dem der wahre Leser überhaupt steht, und dies ist die eigentliche Wohltat der Einkehr in uns selbst, zu der uns das gute Buch nötigt: Lassen wir unsere Gedanken frei schweifen, so träumen wir, oder wir  wiederholen – Ereignisse, Gestalten, Erfahrungen und Eindrücke unseres Lebens; in beidem sind wir nur wir selbst, wir haben die Welt vergessen oder wir haben sie nur als Bruchstück in uns. Fühlen wir uns aber nicht selbst, so fühlen wir auch die Welt nicht. Doch beides zugleich: uns selbst vergessen und die Welt fühlen – es gibt nur wenig Medien für den modernen Menschen, die ihm Selbstversunkenheit und Weltferne, Selbstvergessenheit und Weltnähe zugleich geben, wie das Buch, das in ihm lebendig wird als neue Welt" (Sommerfeld 1925: 29).

Empfohlene Zitierweise

Anna Eberhardt: Martin Sommerfeld – Wegbereiter der Rezeptionsästhetik? In: Frankfurter Literaturwissenschaftler 1914-1945, hg. von Frank Estelmann und Bernd Zegowitz. 2014. Onlinefassung. URL: http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/sommerfeld/eberhardt.


Literatur

Sommerfeld, Martin: Deutsche Klitteraturgeschichte in groben Zügen. Ein bibliopsiles Repetitorium von M.S. Offenbach 1924 (Privatdruck). „Den Mitgliedern der Frankfurter Bibliophilen-Gesellschaft zum 24. Februar 1924 gewidmet von Martin Sommerfeld und Paul Hirsch.“

Sommerfeld, Martin: Der Bücherleser. Gedanken zu seine Rechtfertigung. Frankfurt am Main 1925 (Privatdruck). „In einhundertsechzig Exemplaren auf Japan-Bütten für die Mitglieder der Frankfurter Bibliophilen Gesellschaft abgezogen und ihnen zum 22. Februar 1925 gewidmet von Moriz Sondheim, Dr. Leo Baer, Edwin Baer“

Benjamin, Walter: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band III. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main 1991, S. 283-290

Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S. 228-152

Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S. 126-162

Simon, Tina: Rezeptionstheorie. Einführungs- und Arbeitsbuch. Frankfurt am Main u.a. 2003