Ulrich Leos Lebenswerk als Romanist: Warum Schicksalsschläge seine Forschungsarbeit konzeptioniert haben
von Patrizia Schauber
1. Einleitung
„Wo er hoffen kann die Dinge richtig anzufassen: [...] bei seiner gegen sich selbst misstrauischen Natur“ [Anm. 1]
Die Erinnerung an Ulrich Leo mag durch die erzwungene Emigration verblasst, wenn nicht sogar für die heutige Zeit vergessen sein. Doch sein Lebenswerk ist in vielerlei Hinsicht ein Geschenk für die Romanische Philologie. Als positivistisch orientierter Literaturanalytiker hat Leo einen internationalen Ruf erlangt, da er mit seiner wissenschaftlichen Karriere und seiner konzeptionellen Forschungstätigkeit die These, die geistige Vorbedingungen des Verfassers seien zu ergründen, mit Leidenschaft und Hingabe untersucht hat. Die für ihn wichtige „innere Form“ eines Textes vergleicht er bevorzugt auf monographischer Ebene, wobei er dabei schnell den roten Faden verliert, da er sein enorm großes Wissen nicht immer richtig anzuwenden weiß. Seine Stil-Analysen mögen nicht mit denen eines Leo Spitzer oder Karl Vossler übereinkommen, obwohl er auf Grundlage dieser Betrachtungen gearbeitet hat. Leos Konzeptionen einer literarischen Stilistik, wenn auch meist zu theoretisch und „chaotisch“, bieten bis zum heutigen Tage eine „literaturwissenschaftliche Grundposition“ (Scheel 1989: 206). Die Auffassungen der modernen Stilform haben Leo zu einem Literaturanalytiker gemacht, der zunächst auf Oppositionen der älteren positivistische Generation gestoßen ist.
Die Frage, ob sich sein Schaffensdasein anders entwickelt hätte, wäre er nicht Opfer rassistischer Diskriminierung geworden, ist nicht zu beantworten. Doch die Frage um sein Lebenswerk als Romanist, ist in dieser Ausarbeitung zum Gegenstand geworden. Insbesondere der von vielen unterschiedlichen Stationen begleitete Forschungsweg ist interessant, da Höhen und Tiefen nicht spurlos an Leo vorüber sind. Fortwährend misstrauisch gegenüber sich selbst, muss Leo Hürden überwinden, die seine Passion für die thematischen Entfaltung hätten reduzieren können, doch er resigniert und kapituliert nicht.
Eine detaillierte biographische Vorstellung findet in den ersten Kapiteln statt, um einen Überblick über die Person Ulrich Leo und insbesondere über sein durch äußere Umstände beeinflusstes Scheitern zu erhalten. Im zweiten Kapitel sind die bekanntesten Werke Leos und seine Auffassung von Rezeption dargestellt, um die Besonderheiten seiner methodischen Arbeit näher zu bestimmen.
Informationen zur Veranstaltung
Veranstaltung: 100 Jahre Universität Frankfurt/M. – Fachgeschichte der Romanistik I (1901-1956)
Dozent: Prof. Dr. Jürgen Erfurt
Veranstaltungsart: Seminar
Semester: WiSe 2013/14
Fachbereich / Institut: Neuere Philologien (FB 10), Romanistik
Anmerkungen
[1] Zitat entnommen aus einem Brief von Cecilie Leo, 11.06.1917
2. Ulrich Paul Ludwig Leo – Familiärer Hintergrund
Ulrich Paul Ludwig Leo wurde am 28. Mai 1890 in Göttingen geboren. Sein Vater Friedrich Leo, rein jüdisch, aber zum evangelischen Glauben konvertiert, war ein bekannter Professor der klassischen Philologie (vgl. Poiss 1997: 57). Seinerzeit studierte dieser bei den bekanntesten Philologen Bücheler und Usener (vgl. ebd.) und legte Leo die Leidenschaft für die Philologie in die Wiege. Seine Mutter Cecilie, geb. Hensel, war ebenfalls jüdisch geboren und zum evangelischen Glauben konvertiert. Sie war eine Stütze für die Familie und half Leo in seinen schwierigen Zeiten, damit dieser nicht aufgab und voraus blicken konnte. Die Geschwister Erika und Paul Leo strebten nicht dem philologischen Leben nach. Erikas Spuren enden nach einer Heirat in München (vgl. Ax 2006: 292). Sein Bruder wird trotz der von Nationalsozialisten gegebenen Definition, die Leo Geschwister seien zu 87 ½ Prozent jüdisch (vgl. Rieber 2004: 93 [Anm. 2] ), evangelischer Theologe und Pfarrer (vgl. Ax 2006: 292). Insgesamt verlebt die Familie ein sehr evangelisches Leben ohne explizite jüdische Riten (vgl. Rieber 2004: 93 ff).
[2] entnommen aus dem zitierten Briefwechsel zwischen Angelika Rieber und Leos Sohn Thomas vom 25.10.2001
2.1 Ulrich Leos primärer Bildungsweg
Nach seinem Abitur 1908 am humanistischen Gymnasium in Göttingen (vgl. UAG Phil Prom L III, 12), beginnt Leo das Studium der klassischen Philologie in Berlin, München, Königsberg und Göttingen und ergänzt dieses mit dem Hauptfach für die romanische Philologie (vgl. UAG Phil Prom L III). In Berlin lernt er Heinrich Morf kennen (vgl. UAF 134/324), der ihn für die Dialektforschung und für die Sprachen in Romanen zu sensibilisieren scheint. Während seiner Studienzeit entdeckt er bekanntermaßen sein Interesse für die „Stilform einzelner Dichtwerke oder ganzer Literaturgeschichten die geistige Art ihrer Verfasser und deren geistige Vorbedingung“ (UAF 134/324). Ebenso die romanische Sprachwissenschaft und Grammatik interessieren ihn, wodurch er hauptsächlich jene Seminare und Übungen besucht, die solch eine Thematik bearbeiten (vgl. ebd.).
Seine Gesundheit ist „prekär“ (Maas 2008), wobei die näheren Umstände nicht bekannt sind [Anm. 3]. In einem Brief erwähnt seine Mutter, dass „als er in den Krieg ging, durchaus nicht ein vollkommen kräftiger Mensch [war, PS], er hatte eine recht gründliche Nervenkrankheit gehabt [...].“ (Brief Cecilie Leo, 09.09.1916). In Göttingen schreibt er im Jahre 1914 seine Dissertation in einer Notprüfung (vgl. UAG Phil Prom L III) mit dem Thema „Komposition und Stil der ersten Branche des Roman De Renart.“ (ebd.), wobei in der Promotionsakte vermerkt ist, dass die Dissertationsschrift nicht fertiggestellt wurde (vgl. ebd.). Auch seine Mutter erwähnt, „die Arbeit muss er noch umarbeiten, und zwar wohl ziemlich gründlich, besonders nach der formellen Seite.“ (Brief Cecilie Leo, 09.09.1916). Die mündlichen Prüfungen in Romanischer Philologie, Lateinisch sowie Griechisch gelten mit „magna cum laude“ als bestanden (vgl. UAG Phil Prom L III, 12) und ihm wird der Titel „Dr. phil“ zuteil.
[3] In mehreren Personalakten und selbstgeschriebenen Biographien ist kein Verweis auf die bestehende Krankheit zu finden. Letztlich die angeschlagene psychische Verfassung wird erwähnt. Meist in den Briefen seiner Mutter. [Anm. PS]
2.2 Sein Wirken nach dem Krieg – „Thesaurus linguae Latinae“
Relativ zeitnah nach seiner bestandenen Dissertation, meldet sich Leo als Kriegsfreiwilliger für die Feldartillerie (vgl. UAF 134/324). Er verbringt den ersten Weltkrieg bis Juli 1917 an der Westfront, wobei diese Zeit nicht spurlos an ihm vorübergeht. Nicht nur sein psychisches Befinden ist gebrochen (vgl. Erfurt 2000: 249), auch körperliche Verwundungen sind zu verzeichnen (vgl. Maas 2008). So ist Leo Mitte 1916 bis zu seiner Beurlaubung aus dem Kriegsdienst in verschiedenen Lazaretten untergebracht. Seine körperliche und psychische Verfassung scheint außergewöhnlich schwach, denn seine Mutter schreibt: „Da in den letzten drei Vierteljahren er nichts thun konnte als in Lazaretten herumzjuexistiiren [sic!] und den Staat Geld zu kosten, wäre es auch dringend zu wünschen dass er nun frei würde.“ (Brief Cecilie Leo, 11.06.1917). Ferner ist Leo in die Militärheilanstalt nach Bad Thal bei Eisenach eingeliefert worden. Diese Militärnervenheilanstalt war insbesondere für Kriegsteilnehmer, die „in bei weiten größter Zahl schon monatelang, manche sogar jahrelang in anderen Lazaretten behandelt und nicht als Kriegsneurosen erkannt worden waren“ (Mahr/Hartung 1918: 229).
Gezeichnet vom Krieg bittet Leo Georg Dittman, den Generalredaktor des „Thesaurus linguae Latinae“ (ThlL), in einem Brief vom 20.04.1917, ein Schreiben an die Militärnervenheilanstalt in Bad Thal zu verfassen. In diesem soll er um Beurlaubung von Leos Dienst bitten, damit dieser am ThlL mitarbeiten kann (vgl. Brief Leo, 20.04.1917). Leos Vater Friedrich arbeitete in den Jahren 1903/04 am Band 1 mit (vgl. Krömer/Flieger 1996: 198), sodass Leo die vom Vater bestehenden Kontakte nutzt, um aus der Militärnervenheilanstalt und damit indirekt als Kriegsteilnehmer entlassen zu werden. Die unmittelbare Verbindung zwischen Friedrich Leo und Dittmann ist jedoch bereits einige Jahre zuvor zu vermerken, als Dittmann Friedrich Leos Schüler der klassischen Philologie in Göttingen war (vgl. Rubenbauer 1956: 186). Friedrich Leo selbst hat Dittmann seinerzeit die Arbeit am ThlL als studentische Hilfskraft vermittelt (vgl. ebd.). Die nähere Bekanntschaft wird durch den Brief Leos an Dittmann sowie das Dankesschreiben seiner Mutter Cecilie gestützt. Leo hat es auch seiner Mutter zu verdanken, dass sich Dittmann für ihn eingesetzt hat. In mehreren Briefen berichtet sie ihm von Leos schlechter Verfassung und dass die Arbeit am ThlL für ihren Sohn ein positiver Aspekt für seine studierte Persönlichkeit ist (vgl. Briefe Cecilie Leo). Ihre Bitten sind schlussendlich für die Mühe Dittmanns förderlich.
Dank der Mithilfe des Generalredaktors Dittmann beginnt Leo am 01.06.1917 als Assistent (vgl. Krömer/Flieger 1996: 198) im ThlL und kann nun wieder im philologischen Bereich tätig sein. Er wirkt an „der Ausarbeitung der Artikel in Band VI (F) mit Eifer, Gewissenhaftigkeit und bestem Erfolg [...].“ (Arbeitszeugnis ThlL, 24.04.1934) mit. Die nunmehr wieder philologische Arbeit stärkt Leos Psyche und verhilft ihm zu einer gewissen Ausgeglichenheit. Zwischenzeitlich arbeitet er seine Dissertation um, da die formelle Seite noch nicht fertiggestellt ist [Anm. 4]. So wird am 11.12.1916 die endgültige Beurteilung in der Promotionsakte der Universität Göttingen vermerkt (vgl. UAG Phil Prom L III).
Das Arbeitsverhältnis mit dem ThlL endet am 31.07.1919 (vgl. Krömer/Flieger 1996: 198), wobei Leo bei dem Generalredaktor einen guten Eindruck hinterlassen hat. Dieser lobt insbesondere noch fünfzehn Jahre später die gründliche und geschickte Arbeit Leos (vgl. Arbeitszeugnis ThlL, 24.04.1934). Eben dieses Arbeitszeugnis benötigt Leo ferner zur Ermittlung seines Pensionsdienstalters, um zu bestätigen, dass der ThlL eine Körperschaft des öffentlichen Rechts war.
Seine Ehefrau Helene Leo, geb Vageler, heiratet Leo im Oktober 1919 (vgl. UAF 134/324). Sie ist die Tochter eines Rittergutspächters in Ostpreussen (vgl. ebd) und hat keinerlei jüdischer Vorfahren. Die Ehe der Leos ist nach der Definition zu der damaligen Zeit als „Mischehe“ zu charakterisieren (vgl. Rieber 2006: 184). Für Leos Mutter ist die Verlobung und Heirat mit einem „[...] unglaublich guten, hübschen und lieben Mädchen.“ (Brief Cecilie Leo, 9.9.1916) ein positiver Aspekt in Leos Leben, der nach den Strapazen im Krieg seinem Leben gerecht wird. Mit Helene bekommt Leo den Sohn Thomas (geb. 1925) und Gerhard (geb. 1930) (vgl. Rieber 2004: 93). Die Familie lebt zunächst in Marburg und aufgrund Leos Anstellung an der Universität Frankfurt schließlich in Frankfurt selbst. Ab 1932 leben sie in Oberursel im Taunus.
[4] siehe Kapitel 2.1
3. Neue akademische Wege – Das bibliothekarische Diplomexamen
Im Jahre 1920 möchte Leo an der Universität Tübingen habilitieren, wird jedoch abgewiesen. In seinem Lebenslauf für die Universität Frankfurt schreibt er, der Habilitationsversuch sei aufgrund des Votums des Fachvertreters Prof. Dr. J. Haas abgewiesen worden (vgl. UAF 134/324). Interessanterweise schreibt dieser jedoch in dem Bericht über Leos eingereichte Habilitationsschrift „Rutebeuf und sein Renart le Benstorné“ im letzten Satz: „Ich befürworte deshalb seine zulassung zum kolloquium.“ (UAT 131/1147). Zunächst steht Haas positiv zur Habilitationsschrift. Er kritisiert lediglich explizit die detailreiche Analyse, die auf Vossler aufbaut. Seiner Meinung nach ist die Arbeit „ausserordentlich (sic!) durchgeführt“, wobei „die philologische durchbildung wohl tiefer sein könnte“ (vgl ebd).
Auch die Arbeitsmethode kritisiert Haas, da Leo seiner „ [...] neigung zu kleinarbeit & zu exkursen häufig nachgibt“ (UAT 131/1147). Weiterhin seien zu viele umfangreiche Anmerkungen und Rückverweise vorhanden, wodurch Leo „zu abschweifungen geradezu geswungen (sic!) ist [...] [und, PS] weit mehr auf andere gedichte Rutebeufs zu sprechen [...]“ (ebd) kommt, als über jenes, welches er in seiner Habilitationsschrift untersuchen wollte. Im Sitzungsprotokoll der Philosophischen Fakultät vom 10. Juni ist die Habilitation von Leo erwähnt und dass der Bericht von Prof. Haas ebenfalls von anderen Beteiligten zur Kenntnis genommen wurde (vgl. vgl. UAT 131/102a). Im Sitzungsbericht von 15.07.1920 ist schließlich im Protokoll vermerkt, dass die Habilitation abgelehnt ist (vgl. ebd.).
Leo, der stets ehrgeizig, aber misstrauisch gegen sich selbst ist (vgl. Brief Cecilie Leo, 11.06.1917), schreibt im Oktober 1921 das bibliothekarische Diplomexamen in Berlin (vgl. UAF 134/324). Weshalb sich Leo für diesen Schritt entschieden hat, ist nicht exakt zu bestimmen. Aber in einem späteren Brief wird Leo Spitzer, Kollege und auch Freund, eben diesen beruflichen Schritt ansprechen und Leo auf einen vorangegangen Brief antworten: „Ich will an eine beiläufige Bemerkung Ihres Briefes anknüpfen: Sie sagen, zu Ihrem Unglück hätten Sie die Bibliothekarslaufbahn ergriffen. Aber was war wohl hinter dieser Erschließung? Nicht schon damals eine Art Mißtrauen (sic!) in sich selbst [...]? (Erfurt 2000: 251 [Anm. 5]).
Die folgende einjährige Beschäftigung als Hilfsarbeiter an der Preußischen Staatsbibliothek gibt er auf, da ihm Prof. Dr. E. R. Curtius der Universität Marburg nahelegt, erneut den Versuch der Habilitation zu unternehmen. Doch auch in Marburg [Anm. 6] wird Leo 1922 abgewiesen (vgl. UAF 134/324). Trotz seiner Stelle als Volontär in der Universitätsbibliothek Marburg (vgl. Strobach-Brillinger 1989: 299 ff) macht er im März 1925, zeitgleich mit dem Staatsexamen, die bibliothekarische Fachprüfung in Berlin und arbeitet anschließend bis 1927 als Bibliothekar an der Marburger Universitätsbibliothek, bis er nach Greifswald versetzt wird. (vgl. UAF 134/324).
Aufgrund einer selbstständigen Bewerbung Leos als planmäßiger Bibliotheksrat, ist seine neue Station ab dem 1.3.1928 das Universitätsarchiv der Universität Frankfurt (vgl. ebd.). Im Personen- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Frankfurt ist er erstmals im Sommersemester 1932 erwähnt (vgl. Personal- & Vorlesungsverz. SoSe 32). Generell wurden jedoch erst ab oben genanntem Semester die zuständigen Personen für die Universitätsbibliothek dargestellt, faktisch war die Erwähnung zu Leos Dienstbeginn demnach noch nicht üblich.
3.1 Das erreichte Ziel der Habilitation
Trotz seines zweimaligen Scheiterns einer Habilitation, kapituliert Leo nicht, sondern wagt einen erneuten Versuch im Jahr 1931 unter Erhard Lommatzsch an der Universität Frankfurt für die Philosophische Fakultät. Mit der Habilitationsschrift „Fogazzaros Stil und der symbolistische Lebensroman“ wird ihm am 24. Juli 1931 die venia legendi für die Romanistische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der Italianistik vom Dekan Schultz erteilt (vgl. UAF 134/324). Der Druck seiner Habilitationsschrift wird ihm durch sein dreijähriges Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ermöglicht (vgl. UAF 134/324). Seine Habilitations-Urkunde erhält Leo am 15. August 1931 nicht nur aufgrund seiner eingereichten Habilitationsschrift, sondern auch wegen des gelungenen Probevortrags „Dialektgeographie und romanische Sprachwissenschaft“, welchen er am 24. 07.1931 gehalten hat (vgl. ebd.). Die öffentliche Antrittsvorlesung hält er schließlich am 04.11.1931 über das Thema „Luigi Pirandello als symbolischer Dichter“ (vgl. ebd.) und der Weg für neue Stationen ist geebnet.
Mit über 40 Jahren gelingt Leo die Erreichung seines Ziels, eine Dozententätigkeit aufnehmen zu können. Er beginnt sodann ab dem Sommersemester 1932 als Privatdozent für die Romanische Philologie zu lehren, behält sich aber die Position als Bibliotheksrat der Universitätsbibliothek bei. Leo bietet meist nur ein Seminar pro Semester an [Anm. 7] und konzentriert sich insbesondere auf die altfranzösische und –italienische Literatur. Trotz der geringen Angebote zu Seminaren, ist Leo überfordert mit der Doppelbelastung als Dozent und Bibliotheksrat (vgl. Erfurt 2000: 249) und beantragt für das Wintersemester 1933/34 sowie das Sommersemester 1934 die Befreiung von seinen Lehraufgaben. Sein psychisches Befinden scheint noch immer nicht gestärkt zu sein. Lommatzsch genehmigt am 19.07.1933 den Antrag, teilt Leo jedoch mit, dass er weiterhin im Personalverzeichnis der Universität aufgeführt wird (vgl. UAF 134/324). In den Personalverzeichnissen ist hinter Leos Name die Information „z Z. beurlaubt“ (Personalverz. WiSe 1933/34) beziehungsweise „Liest nicht“ (Vorlesungsverz. SoSe 1934) vermerkt. Interessanterweise bittet Leo bereits Anfang 1932 um Bestätigung eines Urlaubssemesters, damit er sich vollends der wissenschaftlichen Arbeit widmen kann (vgl. UAF 134/324), jedoch ist im Vorlesungsverzeichnis von 1932 keine Beurlaubung notiert.
Aufgrund der politischen Veränderung bittet Helene Leo ihren Mann Deutschland zu verlassen, doch dieser hört die Klage nicht (vgl. Rieber 2004: 96). Das im April 1933 eingeführte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das Beamte, außerordentliche Professoren und Privatdozenten gleichermaßen trifft, impliziert die Entlassung von Juden, aber auch anderen unbeliebten Gruppierungen (vgl. Hausmann 1989: 11). Ein spezielles Privileg haben jedoch Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges. Mit der sogenannten „Hindenburgklausel“ (Rieber 2004: 247) wird Leo vorübergehend von diskriminierenden Einschränkung oder gesetzlichen Verordnungen zur Entlassung aus dem Berufsfeld verschont (vgl. Strobach-Brillinger 1989: 300). Für Leo ist die Kennzeichnung zum jüdischen Mitmenschen unverständlich und es macht ihn „einsam“ (Hausmann 2008: 270). Halt bietet ihm seine Familie und die Gewissheit, das Buch über Torquato Tasso schreiben zu können (vgl. Rieber 2004: 96).
[7] Titel der Seminare, entnommen aus den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Frankfurt:
- SoSe 1932: „Romanische Stilforschung“ & „Übungen zur romanischen Dialektgeographie“
- WiSe 1932/33: „Literatur des italienischen Risorgimento“
- SoSe 1933: „Die altfrz. Tierdichtung (mit Interpretationsübungen)
- WiSe 1934/35: „Die altfrz. Tierdichtung mit Einführung ins Altfranzösische.“
- WiSe 1935/36: „Torquato Tasso mit Übungen“
- SoSe 1936: „Dantes Divina Commedia (Übungen)“
3.2 Die Zeit des Nationalsozialismus – Wege ins Exil
Obwohl Leo im Wintersemester 1935/36 und dem darauffolgenden Sommersemester Seminare anbietet, kann er diese nicht antreten. Bereits Anfang Oktober 1935 spürt er die aufkommenden Problematiken und teilt dem Dekan mit, auf seine Lehrbefugnis zu verzichten, um der Universität wegen seiner nichtarischen Abstammung, keine Schwierigkeiten zu machen (vgl. UAF 134/324). Er bittet jedoch um den schriftlichen Bescheid, dass der Verzicht nur aufgrund seiner nichtarischen Abstammung besteht und nicht wegen „Bedenken wissenschaftlicher oder persönlicher Art“ gegen ihn (vgl. UAF 134/324). Leo kommt der Mitteilung vom Kuratorium der Frankfurter Universität zuvor: Am 22. Oktober 1935 werden „im Namen des Herrn Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (UAF 134/324) Leo und einige jüdische Kollegen ab sofort beurlaubt. Das Kuratorium fügt sich den Richtlinien des vom 15. September 1935 ins Leben gerufenen „Reichsbürgergesetz“ (ebd). Trotz seiner von Kindheit an bestehenden evangelischen Konfession, wurde Leo als jüdisch verstanden, da er mindestens drei jüdische Ahnen hatte (vgl. Hausmann 1989: 17). Die rassistischen Gründe und die Auferlegung zum „Mensch zweiter Klasse“ machen ihn erneut einsam, aber auch wütend und dies bedrückt ihn zunehmend (vgl. Hausmann 2008: 270). Als ihm am 5. November 1935 zuletzt auch die venia legendi vom Reichsministerium entzogen wird, kapituliert Leo.
Für seinen Kollegen Lommatzsch ist die erzwungene Emigration Leos „mehr als ein persönlicher und fachlicher Verlust“ (Estelmann/Müller 2008: 51), denn bis zu den Anfängen der 40er Jahre bleibt Leos Stelle unbesetzt. Vorerst verschlägt es Leo 1937 nach London, um dort am Wörterbuch des mittelalterlichen Lateins „Du Cange“ mitzuwirken (vgl. Maas 2008), einer ähnlichen Arbeitsweise wie im Thesaurus linguae Latinae. Sein Englisch macht ihm Mühe und dadurch fühlt er sich in London nicht wohl. Die nächste bekannte Station ist, ab dem 01.04.1938, Venezuela. Leo reist zunächst ohne seine Familie, die er später Ende 1939 zu sich holen wird (vgl Rieber 2004: 96ff). Diese ist noch immer im Wohnort Oberursel/Taunus und wird Opfer rassistischer Diskriminierung vom Novemberprogrom. Vor körperlichen Attacken bleibt Familie Leo verschont, doch Helene Leo reagiert schnell und schickt ihre Söhne in eine Quäkerschule nach Holland (vgl. ebd: 97 ff), nachdem sie bei einem ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes unterkommen sind (vgl. Rieber 2006: 188).
Sein neues Standbein baut er sich 1938 in der Bibliothek des „Ministerio de Relaciones Exteriores Caracas /Venezuela“ auf (vgl. Erfurt 2000: 253); zwei Jahre später wird er ebendort als technischer Archivar der Oberpostdirektion arbeiten (vgl. Strobach-Brillinger 1989: 300). Eben dieses Archivar untersteht dem bekannten Schriftsteller José Rafael Pocaterra, der jedoch nur ein Jahr später zum Präsidenten des Bundesstaates Carabo ernennt wird (vgl. Hausmann 2008:271 [Anm. 8].
Einen erneuten Misserfolg erfährt Leo 1939, als ihm wegen der Emigration die vollen Bezüge als pensionierter Kriegsveteran gestrichen werden (vgl Rieber 2004: 98). Das als Bibliothekar und Archivar erworbene Einkommen genügt nicht, um der Familie ein angenehmes Leben in Venezuela zu ermöglichen, sodass Leo seine Söhne zu Verwandten in die USA bittet (vgl ebd.). Im Jahre 1941 wechselt er, mit dem Ruf von Pocaterra, in das „Archivo histórico“ (Strobach-Brillinger 1989: 300) der Provinzhauptstadt Valencia in Venezuela (vgl Hausmann 2008: 271). Während dieser Zeit veröffentlicht Leo zahlreiche Aufsätze sowie Beiträge in Zeitschriften [Anm. 9] und ist als Journalist tätig (vgl. Maas 2008), damit er den Frust über das nicht erfüllte literarische Schaffen kompensieren kann. Die erneute Archivarbeit ist für Leo nicht das Maß einer zufriedenen literarischen Entfaltung. Er fühlt sich in dieser Lebensphase erneut unzufrieden und „mißverstanden“ (Scheel 1989: 203) und betrachtet diese Lebensphase nur als einen Übergang. Das Leben im Exil fällt ihm emotional nicht leicht, sodass er sich mit Arbeiten der Stilform ablenkt und diese im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Viele seiner Arbeiten sind noch heute im Dante Jahrbuch (DDJb) nachzulesen. Nachdem ihm jedoch auch dieser Weg, aufgrund seiner nichtarischen Abstammung in Deutschland verwehrt wird, grenzt er sich innerlich von seiner deutschen Vergangenheit ab (vgl. Hausmann 2008: 271). Bevorzugt schreibt er Briefe an Freunde und Kollegen auf Spanisch und Italienisch und versucht somit Abstand von der Vergangenheit zu gewinnen. Ebenfalls möchte er auf diese Weise darstellen, dass er die Fremdsprachen ebenso gut beherrscht, wie seine Muttersprache (vgl. ebd.).
Im Jahre 1945 erhält Leo eine dreijährige Professur am William Penn College in Iowa. Die in Deutschland verwehrte Möglichkeit des Lehrens wird ihm in Iowa schließlich wieder ermöglicht. Später ist er bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1959 als „Special Lecturer“ an der University of Toronto (vgl. Krügel et al) im „Department of Italian and Hispanic Studies“ tätig (vgl. Strobach-Brillinger 1989: 300). Ab diesem Zeitpunkt, bis hin zu seinem Tod, wird Toronto sein Wohnsitz bleiben.
Zunächst hat er Schwierigkeiten an der Universität den richtigen Lehrweg zu finden, denn die dortigen Studenten besitzen kein Wissen über die klassische und romanische Philologie (vgl. Hausmann 2008:273 [Anm. 10]). Doch hierbei kommen Leo seine Leidenschaft für die Thematik sowie sein unbändiger Ehrgeiz zugute. Er informiert sich für die Seminare sowie darüber hinaus und versucht die Schwachstellen der Studenten zu beseitigen (vgl. ebd9). Seine Einstellung zum Lehren an der Universität ist positiv, doch letztendlich verzweifelt er am Desinteresse der Studenten, die seine Seminare als „Pflichtkolleg“ (ebd.9) ansehen. Spitzer versucht Leo Hinweise zu geben: „Woran Sie arbeiten müssen, ist nicht an den Themen, sondern am Pädagogischen: daß (sic!) Sie die Themen zugänglich und leicht machen. Lassen Sie sich ja nicht einfallen, neue Sachen zu studieren [...].“ (Erfurt 2000: 251 [Anm. 11]). Auch hier konzentriert sich Leo nicht aufs Wesentliche, wie bereits bei seiner Habilitationsschrift, sondern verliert sich in der Fülle an Informationen. Die Arbeit an der Universität gefällt ihm, sie lenkt ihn dennoch nicht ausreichend von seinem Heimweh nach Deutschland ab und es bedrücken ihn Gefühle von Selbstzweifeln und Unzufriedenheit. Leo scheint den Austausch mit Fachkollegen zu vermissen, da in mehreren archivierten Briefen ein Austausch mit Spitzer und Vossler festzustellen ist, in dem es meist um die fachliche Kompetenz als auch um die Problematiken der eigenen Persönlichkeit geht [Anm. 12].
[8] Entnommen aus dem im Buch zitierten Brief Leos an Arturo Farinelli vom 28.09.1936 (Modena, BEU, NL, Bertoni-L 255)
[9] Um einige zu nennen (vgl. Strobach-Brillinger 1989: 300):
- „Revista Nacional de Cultura“
- „Filología y letras“
- „Universitäy of Toronto Quartely“
[10] entnommen aus dem im Buch zitierten Brief an Vossler, 02.02.1949
[11] Entnommen aus dem im Aufsatz zitierten Briefwechsel zwischen Leo Spitzer und Ulrich Leo, 27.05.1948. vgl. Erfurt 2000: 251
[12] vgl. hierfür Erfurt 2000 / Scheel 1989 / Hausmann 2008
4. Leos Rückkehr nach Deutschland – der Kampf um die verlorene venia legendi
Die Pensionierung ist für Leo eine Phase zur erneuten Unzufriedenheit, die er mit Gastprofessuren auszugleichen versucht. Als Vertreter eines planmäßigen Lehrstuhls für die Romanische Philologie der Universität Bonn, hält er im Sommersemester 1959 ein spanisches Mittelseminar („Altspanisches Epos“) und ein französisches Oberseminar („Rutebeuf“) (vgl. Chronik Universität Bonn 1958/1959). Diese Zeit scheint sein Leid kaum zu lindern, obwohl er die sonst angestrebte Lehrtätigkeit in Deutschland, wenn auch nur als Gast, ausüben kann. Seine Ankunft in Deutschland ist begleitet von seelisch-emotionalen Problemen, sodass er 1959 für einen Aufenthalt in die Klinik Hohemark nach Oberursel kommt (vgl. Rieber 2006: 186), in welcher Personen mit psychischen Erkrankungen fachliche Hilfe erhalten.
Nach seiner Auszeit in der Klinik ist er als Vertretungsdozent in Jamaika tätig, bis er im Sommersemester 1961 an der Freien Universität Berlin zwei Gastvorlesungen anbietet (vgl Scheel 1989: 202). Als französisches Hauptseminar bietet er erneut „Rutebeuf“ an (vgl. FU Berlin, UA, NNV, Pub 51) und über Dante hält er eine italienistische Vorlesung (vgl. ebd.), da er diesen Schriftsteller als Gegenstand seiner speziellen monographisch-stilistischen Analysen favorisiert.
Nachdem sich die politische Situation in Deutschland grundlegend verändert hat, schreibt Leo das Personalamt der Stadt Frankfurt an und begehrt die „Wiedergutmachung als Ordinarius auf Grundlage der Emeritenbezüge“ (UAF 134/324). Er verweist auf die Gesetzesänderung zum BWGöD [Anm. 13], die ebenfalls Privatdozenten Wiedergutmachungsansprüche zuerkennt (vgl. UAF 4/693). Als Bibliotheksrat hat er bereits 1953 Wiedergutmachung erhalten, doch mit dem Ziel dies als Privatdozent geltend zu machen, hat er Probleme. Er holt sich anwaltliche Hilfe, da der Dekan der Philosophischen Fakultät der Wiedergutmachung nicht zustimmt. Diesem wurde Leos Brief vom Personalamt weitergeleitet. Der Fachvertreter für die Romanistik kommt 1960 zur Einschätzung, Leo stünde keine Wiedergutmachung zum „Ordinarius auf der Grundlage der Emeritenbezüge“ zu (vgl. UAF 134/324).
Lommatzsch ist derjenige, der Leo erneut zur Anerkennung verhilft. Er bestätigt in mehreren Gutachten, dass Leo nach Habilitation seinen Namen sowohl in Deutschland als auch im Ausland durch aufschlussreiche Aufsätze und Bücher bekannt gemacht hat (vgl. UAF 134/324). Leos wissenschaftliche Arbeit ist durch die gezwungene Emigration nicht unterbrochen worden, sodass auch weitere Professoren [Anm. 14] versichern, er habe einen internationalen Ruf aufgrund seiner wissenschaftlichen Analysen und Arbeiten. Somit kann Leo einen normalen wissenschaftlichen Weg nachweisen (vgl. ebd.).
Nach einjähriger Untersuchung gelangt der Kurator am 11.07.1961 zum Entschluss, dass „Hr. Dr. Leo am 01. Januar 1942 ordentlicher Professor geworden wäre. Er soll berechtigt sein, die Bezeichnung „ordentlicher Professor emeritus“ zu führen [...].“ (ebd.). Jedoch ist Leo nicht befugt Vorlesungen oder Seminare zu halten. Die Bitte Leos, der Dekan solle 1935 bescheinigen, dass die Beurlaubung nur aufgrund der nichtarischen Abstammung erfolgte, kommt Leo im Kampf um die Wiedergutmachung zugute, denn dadurch ist eine Unterdrückungsmaßnahme erkenntlich, woraufhin das BWGöD angewendet werden kann.
Ab 1963 ist das Verfahren abgeschlossen und Leo wird im Personalverzeichnis der Universität Frankfurt als ordentlicher Professor der Philosophischen Fakultät aufgenommen. Da jedoch das Verzeichnis für dieses Semester bereits gedruckt wurde, ist er im Sommersemester 1964 sowie dem Wintersemester 1964/65 mit dem Zeichen „*“ für „emeriert“ erwähnt (UAF 4/693) [Anm. 15].
Am 04.07.1964 stirbt Leo im Alter von 74 Jahren nach einer Operation, nur ein Jahr nach seiner Wiederaufnahme in der Universität Frankfurt (vgl Rieber 2004:99). Der Nachruf von Rektor Rammelmeyer ist dem Leben und der Persönlichkeit Leos gerecht geworden. Insbesondere Leos Glauben an die „bestimmte Rolle der künstlerischen Formsequenz seiner wissenschaftlichen Methode“ (UAF 4/693) und die „immanente philologische Text- und Stilkritik“ (ebd.) haben ihn zu einem Literaturhistoriker gemacht, der poetische Meisterwerke bewahrt hat (vgl. ebd). Leos Frau Helene bedankt sich für die guten Worte in einem persönlichen Brief und es scheint, dass das Fehlen des Ulrich Leos durch die Worte zu seinem Tod kompensiert ist. (vgl. UAF 4/693).
[13] Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes
[14] u.a. Herr Professsor Dr. Dr. hc. Harri Meier, Direktor des Romanischen Seminars der Universität Bonn (vgl. UAF 4/493)
[15] zu verfolgen ist dies in den Personen- und Vorlesungsverzeichnissen des SoSe 1964 und des WiSe 1964/65, siehe Literaturverzeichnis
5. Ulrich Leos literarisch-wissenschaftliches Schaffen
Bereits zu seiner Studienzeit hat Leo sein Interessengebiet für sich erkannt. Zunächst noch auf die formalen Gesichtspunkte der klassischen und romanischen Philologie konzentriert, entwickelt sich, insbesondere auch wegen vieler besuchter Vorlesungen Heideggers in Marburg, eine speziellere Form der Auffassung zur Wissenschaft (vgl. UAF 134/324). Leo entwickelt für sich die Auslegung, dass „jede geistige Erscheinung zunächst aus sich selbst erkannt werden muss, dann erst gegebenenfalls auf frühere Formen oder Inhalte zurückzuführen ist“ (ebd.). Damit ist für Leo gewiss, dass er sich auf Texte bezieht, die literaturwissenschaftlich in die älteren romanischen Epochen einzuordnen sind. Durch die Auseinandersetzung mit diesem Themenschwerpunkt, liest er zunächst Dichtwerke, die ihn „über die stoffliche Literaturgeschichte [...] mehr zur formalen Literaturwissenschaft“ (ebd.) gelangen lassen. Seine Orientierung liegt hierbei insbesondere bei Leo Spitzer, dessen Arbeitsschwerpunkt bereits in der Stilforschung zu finden ist (vgl. Hurch 2010). Die beiden Literaturhistoriker verbindet nicht nur das Interessengebiet und die gleiche Problematik in der NS-Zeit, sondern auch eine Freundschaft, die in Briefen nachzulesen ist. Beide sind gezwungen Deutschland zu verlassen und ihre wissenschaftliche Arbeit im Ausland fortzusetzen (Exilforschung). Um eine grundlegende Übersicht über Leos Analyseverfahren zu erhalten und die Erinnerung an Leo neu zu wecken, sind in diesem Kapitel die wichtigsten Arbeiten dargestellt.
Für Leo erhält der Untersuchungsgegenstand, „Verfasser und deren geistige Vorbedingungen zu ergründen“ (UAF 134/324) besondere Ausmaße, die er mit der Kunstform und der Geistesverfassung vergleichen möchte. In seinen Ausarbeitungen zu Rutebeuf, Fogazzaro und auch zu dem Tierroman (Roman de Renart) arbeitet er seine Grundidee zur immanenten Stilform heraus. Mit dem Ziel, die monographische Bedeutung und die Stilform ineinander einfließen zu lassen, schaffte es Leo, die eigenständigen literarischen Werkanalysen dennoch zu verknüpfen, da sie meist die Grundidee der Stilanalyse inne habe. Bereits mit seinen Arbeiten über Rutebeuf aus den Jahren 1918 und 1922, ist der Schwerpunkt zwischen formaler und inhaltlicher Untersuchung zu erkennen (vgl. Schalk 1966: XI). Vossler und Spitzer haben auf Leo in ihrer wissenschaftlichen Arbeit großen Einfluss hinterlassen, wobei er die Betrachtungsweisen noch mehr auf die Sicht des Autors weiter entwickelt.
Die italienische Dichtung wird für viele Jahre der Schwerpunkt seines Handelns, dadurch besitzt das Spanische in seinen Analysen nicht die gleichgesetzte Rolle. Dante spielt eine wesentliche Rolle und ebenso die italienischen Literaten Fogazzaro und Torquato Tasso bilden den Interessenkreis. Für ihn ist die monographische Arbeit stets im Vordergrund: Er meidet das Vergleichen von Texten verschiedener Gattungstypen, Inhalte oder Autoren, lediglich Aufsätze stellt er gegenüber, die ihm kompatibel erscheinen [Anm. 16]. Hierfür destruiert er die ihm wichtige Immanenz und die Einzelstudien werden von ihm verglichen.
Die wohl charakteristischsten monographisch-stilistischen Analysen sind seine Ausarbeitungen zu Dante, die im Buch „Sehen und Wirklichkeit bei Dante“ von 1957 als gesammelte Aufsätze vorhanden sind. Allerdings sind bei weitem nicht alle Aufsätze in diesem Buch vereint, wohl aber die bedeutendsten (vgl. Scheel 1989: 209). In den Stilanalysen für Dante wird die Herangehensweise von Leo spürbar, besonders bei Betrachtung der gründlichen Untersuchung zur Divina Commedia. Bei Letzterem arbeitet Leo die drei wichtigsten Kernpunkte für die dantische Analyse heraus: Erstens erhält Dante poetische Anschauungen durch sein eigenes Auge. Zweitens war Dante kein Erfinder von Fiktivem, sondern hat, seiner Meinung nach, von der Wirklichkeit berichtet, die nur „ ein durch göttliche Gnade übernatürlich erleuchtetes Auge sehen kann“ (ebd.: 209). Geoffrey Stagg von der Universität Toronto, der Leo als Dozent und Stilanalyst erlebt hat, beschreibt Leos Arbeit sehr präzise:
„He saw the great work of literature as more than an object of study or mediation: it became for him a living thing, a friend, and in the margin of its pages Ulrich, by means of annotiation, interrrogation and exclamation, would sustain a running dialogue [...] as though the author were sitting there alive beside him as he read. His books also were his secret friends [...].“ (Stagg 1966:XI).
Die durchweg philologische Betrachtungsweise konstruiert Leo zusätzlich mit der psychologischen Ebene (vgl. Schalk 1966. XVI). Insbesondere bei Torquato Tasso ist die Verschmelzung beider Richtungen spürbar. Die eigene emotionale und humane Perspektive lässt Leo eben bei diesem Dichter einfließen (vgl. Scheel 1989: 210). Möglicherweise ist dies an der identischen Gefühlswelt Leos und Tassos zu erklären. Leo wollte den inneren Zusammenhang (die innere Form) der künstlerischen und der privaten Persönlichkeit Tassos darstellen, da sie verschiedener nicht sein könnte (vgl. ebd.). Vorangegangene Untersuchungen über Tasso von anderen Literaturhistorikern haben eben diese Differenz nicht erkannt beziehungsweise nicht in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt. Leos Untersuchungen konzentrierten sich auf drei wesentliche Grundideen. Zum einen untersuchte er die Psychologie des Poeten Tasso, damit er daraufhin die von der Persönlichkeit Tassos entsprungene Ästhetik betrachten konnte, um alles schlussendlich mit der Religiosität des Dichters zu verbinden (vgl. Schalk 1966: XVI). Für Leo ergibt sich die Grundeinstellung, dass die nervlich angeschlagene Persönlichkeit Tassos in seine Werke miteinfließt und daher als „Lebensangst und dichterische Erschütterung“ zu benennen ist (Scheel 1989: 210).
Leos Voraussetzung für eine Stilanalyse bildet sich aufgrund der konzeptionellen Einstellung, den Autor als „Produkt seiner Zeit“ (Schalk 1966: XV) zu begreifen. Das Verständnis für epochale Grundideen und spezifische Lebensweisen fließen für Leo in die Analysen des Werkes mit ein. Er vergleicht für die damalige Zeit vorherrschende Moralitäten und Werte mit der Stimme des Autors und versucht somit die vom Autor implizierte Sicht und Persönlichkeit herauszuarbeiten. So kann Leo begreifen, ob der Autor nach den konventionellen Formen und Aspekten geschrieben hat oder ob eben dieser neue poetische Aspekte einfließen lässt. In den Werken Rutebeufs erfasst Leo die vielfältigen Gedichte und „hebt diejenigen heraus, die einer neuen poetischen Dimension angehören“ (ebd.). Dies setzt voraus, viele Werke zu lesen und zu studieren, um schlussendlich für sich die wichtigen Texte herausfiltern zu können. Nicht immer finden Leos Worte Verständnis in der Forschungswelt, da sie in gewisser Hinsicht den konventionell-philologischen Gedanken widersprechen. Leo setzt die Dichtung zielbewusst neben das Leben des Poeten und schlägt somit „eine Brücke“ (Schalk 1966: XX) zwischen zwei scheinbar konträre Welten. Der explizite Gegensatz von Werk und Dichter verschwimmt und wird durch die immanente Stilanalyse in das Zentrum von Leos Forschung gerückt.
Noch vor seiner gezwungen Emigration schrieb Leo die meisten Aufsätze über die oben erwähnten Dichter und wurde von Forschungskollegen der Romanistik als Stilforscher, wenn auch oft mit gegensätzlicher Meinung, anerkannt und fand deren Gehör:
„Das Exil hat die Forschungstätigkeit Leos in viel stärkerem Maße beeinträchtigt als diejenige von [...] Spitzer. Uns scheint, daß (sic!) in erster Linie die Lebensumstände, die Leo durch sein Exil auferlegt waren, als Ursache für die verhältnismäßig geringe Wirkung seines bedeutenden Beitrags zur Geschichte der Stilforschung angesehen werden muss.“ (Scheel 1989: 201)
Letztlich ist hinzuzufügen, dass Leo das Buch über Stilforschung nicht vollenden konnte, welches er kurz vor seinem Tode begann zu schreiben. Hatzfeld hat jedoch im Jahre 1966 die im Nachlass gefundenen Beiträge veröffentlicht [Anm. 18]. Zum einen um Leo und seiner Arbeit gerecht zu werden, zum anderen um Leos Konzeption der immanenten Stilforschung gesammelt in einem Werk darlegen zu können (vgl. Scheel 1989: 206).
[16] Bspw. die Linear-Interpretation von Leo, Ulrich (1930): „Zwei Einsamkeiten. Leopardis „L’Infinito“ und Lamartines „L’Isolement. In:. Archivum Romanicum. Band 16. S, 521-539
[17] Entnommen aus der im Buch zitierten Passage aus Leo, Ulrich (1957): Sehen und Wirklichkeit bei Dante mit einem Nachtrag über das Problem der Literaturgeschichte. Analecta Romanica 4. Frankfurt: Vittorio Klostermann. S. 9
[18] nachzulesen in: Leo, Ulrich (1966): Stilforschung und dichterische Einheit. In: Münchner romanische Arbeiten, 21. Hrsg. von Rauhut und Rheinfelder. München: Hueber.
6. Abschlussbemerkung
Wie aufgezeigt werden konnte, war das Leben des Ulrich Leo eine durch viele äußere Barrieren beeinflusste Existenz. Auch durch innere Prozesse war er ein Mensch mit Höhen und Tiefen, die Zeit seines Lebens von Misstrauen und der Leidenschaft für die mittelalterliche Literatur begleitet wurden. Sein unbändiger Sinn für philologisch-psychische Analysen hat ihn schlussendlich zu einem Literaturhistoriker mit besonderem Ruf gemacht, der jedoch nach seinem erzwungenen Exil nicht mehr das Gehör fand, wie andere Kollegen. Sicherlich wurde er durch seine sehr persönliche und eigene Art der Stilforschung vorerst nicht als bedeutender Literaturhistoriker gesehen, doch mit der Zeit haben seine Analysen und Beiträge die romanische Philologie erweitert. Es ist nicht einzuschätzen, ob sich seine philologische Karriere anders entwickelt hätte, wäre er nicht Opfer der Arisierung geworden. Festzustellen aber ist, dass Leo von Beginn an eine sehr zweifelnde Persönlichkeit war, die nur schwer mit externen Einflüssen umgehen konnte. Oft suchte er die Schuld bei sich selbst und versuchte sich mit Stilforschungsarbeiten abzulenken. Jeder Schicksalsschlag hat in Leo den Willen zur Forschungsarbeit gesteigert. Selbst im Jahre 1933, als seine Frau ihn um Flucht aus Deutschland bat, war es ihm wichtiger, die Arbeit zu Torquato Tasso fertigzustellen, so als wollte er somit aus der Realität fliehen. Auch im Exil selbst war er unglücklich und flüchtete sich in eine Art Selbststudium. Spitzer selbst bemerkte, Leo solle sich aufs Wesentliche konzentrieren und nicht zu viel seinen Zwecken entsprechend studieren.
Festzustellen ist, dass Leos Beharrlichkeit und seine unbändige Entschlossenheit, gegen einen Stillstand vorzugehen, seine Wege bestimmt haben. Sicherlich ist er einige Umwege gegangen, doch die Anerkennung seiner Familie und die von geschätzten Fachkollegen hat den inneren Kampf gegen sein Misstrauen gebändigt. In den letzten Stationen seines Lebens hat er das Bestreben ausüben könne, das ihm besonders am Herzen lag. Zum einen war es das Lehren in Deutschland und zum anderen die Ausarbeitung zu seinem speziellen Thema der „Stilforschung“.
„Dazu kommt ja nun noch die Freude, wieder in seiner eigenen Sphäre zu arbeiten, auf einem Gebiet das ihm heimisch ist [...].“ [Anm. 19]
[19] Zitat entnommen aus einem Brief von Cecilie Leo, 11.06.1917
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Patrizia Schauber, Ulrich Leos Lebenswerk als Romanist - Warum Schicksalsschläge seine Forschungsarbeit konzeptioniert haben, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 13.05.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/schauber.