Die Rotkreuz-Studentengruppe 1947-1949: Eine studentische Gemeinschaft in der Nachkriegszeit

von Carsten Richter

Als Teil des Neubeginns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg gründeten Frankfurter Studenten Anfang 1947 eine Gemeinschaft, die in Deutschland einzigartig war: die Rotkreuz-Studentengruppe. Sie machte es sich zum Ziel, die Not der Studierenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu lindern, die hungerten und kaum mit der nötigsten Kleidung ausgestattet waren; Die Mitglieder der Rotkreuz-Studentengruppe waren dabei keineswegs privilegiert, sondern von den desolaten Lebensbedingungen genauso betroffen wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Die Studentengruppe bedeutete auch den  Versuch, eine neue Form studentischen Zusammenlebens an die Stelle der alten Studentenverbindungen zu setzen, die zunächst verboten waren, weil sie als reaktionär und demokratiefeindlich galten.

Informationen zur Veranstaltung

Dozentin: PD Dr. Barbara Wolbring
Veranstaltungsart: Seminar
Semester: WiSe 2011/12
Fachbereich / Institut: Philosophie und Geschichtswissenschaften (FB 08), Historisches Seminar
Studentische Beiträge: Displaced Persons an der Uni | Frankfurt-Chicago-Austausch | Rotkreuz-Studentengruppe

Als studentische Gemeinschaft neuen Typs und als einzigartige karitative Organisation stellt die Rotkreuz-Studentengruppe eine Besonderheit der frühen Nachkriegsjahre dar. Im Folgenden werden ihre Geschichte, ihre Ziele und ihr Wirken von den schwierigen Umständen der Gründung bis zu ihrem Ende im Dezember 1949 geschildert. Bislang gibt es erst wenige Untersuchungen zur Studentengeschichte der Nachkriegszeit [Anm. 1], hier wird daher weitgehend Neuland erschlossen. Eine besondere Herausforderung bestand darin, geeignete Quellen zu finden. Studentische Gemeinschaften hinterlassen allgemein nur wenige Quellen, das gilt umso mehr für die von Papiermangel geprägte Nachkriegszeit [Anm. 2]. In den Rektoratsakten des Frankfurter Universitätsarchivs finden sich nur wenige Blätter, im Archiv des Bezirksverbands Frankfurt des Deutschen Roten Kreuzes sind überhaupt keine Dokumente mehr vorhanden. Diese spärliche Überlieferung konnte ergänzt werden durch die in einem Telefonat geschilderten Erinnerungen des damaligen Vorsitzenden der Gruppe, Herrn Prof. Dr. Wilfred Sikorski. Für das Interview, das ich mit ihm führen durfte, bedanke ich mich herzlich!

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1. Vorbedingungen für neue studentische Gemeinschaften

Studentenverbindungen waren bis zur Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus die wichtigste Form studentischen Gemeinschaftslebens. Sie galten nach dem Zweiten Weltkrieg als diskreditiert, weil sie vielfach in Opposition zur politischen Ordnung der Weimarer Republik gestanden hatten und zu den frühen Anhängern des Nationalsozialismus gehörten. [Anm. 3] Die Alliierten sahen in ihnen eine Gefahr für den Aufbau der Demokratie und verboten sie. [Anm. 4] Auch die Universitäten und die deutsche Öffentlichkeit lehnten eine Wiederzulassung der Korporationen ab. [Anm. 5] Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss sagte dazu, es sei eine "Frage des historischen Stilgefühls, ob man mit Bändern und frischen Schmissen zwischen Trümmern, Heimatvertriebenen und Kriegsversehrten die Lebensgestaltung feudaler großbürgerlicher, mittelbürgerlicher oder zusammengepumpter kleinbürgerlicher Wechsel bei zum Teil ahnungslos stolzen Eltern durchführen und aufrechterhalten will, und das, scheint mir, geht nicht. [Anm. 6]

Auch innerhalb der Studentenschaft bestanden anfangs Vorbehalte gegenüber den studentischen Korporationen, denn die männlichen Studierenden der ersten Nachkriegssemester hatten als ehemalige Soldaten während des Krieges in der „militärischen Gemeinschaft“ gelebt und lehnten nun Formen reglementierten Zusammenlebens, wie sie für die studentischen Korporationen typisch waren, weitgehend ab. [Anm. 7]

War das Wiederaufleben der studentischen Gemeinschaften alten Typs zunächst also unerwünscht, so war die Gründung von Gemeinschaften neuen Typs schwierig: Die Studierenden der Nachkriegszeit waren im Durchschnitt älter als vorherige Studentengenerationen, in Frankfurt beispielsweise lag das Durchschnittsalter 1948 bei 26 Jahren. [Anm. 8] Einige waren bereits verheiratet und hatten eventuell schon Kinder, was vor dem Krieg eine seltene Ausnahme war. Sie waren dann besonders daran interessiert, ihr Studium schnell abzuschließen und einen Beruf zu ergreifen. Zudem mussten viele arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Wie alle Frankfurter litten die Studierenden unter der Nahrungsmittelknappheit: Im Hungerwinter 1946/47 reduzierten ernährungsbedingte Mangelkrankheiten und überlebensnotwendige Hamsterfahrten die Arbeitskraft der Bevölkerung Frankfurts um etwa die Hälfte. [Anm. 9]

Wollte man trotz der widrigen Umstände eine studentische Gemeinschaft gründen, benötigte man einen Versammlungsraum, den die zu weiten Teilen zerstörte Universität nicht bieten konnte. Alternativen boten sich im weitgehend zerstörten Frankfurt kaum. Auch die Verbindungshäuser der verbotenen Korporationen standen nicht zur Verfügung, denn sie waren entweder ebenfalls zerstört oder von den Alliierten beschlagnahmt und für andere Zwecke vorgesehen.

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2. Erste neue Formen studentischer Gemeinschaften

Trotz der äußeren Schwierigkeiten hatten einige Studenten den Wunsch, neue studentische Gemeinschaften zu gründen. [Anm. 10] Das wurde von den Universitätsleitungen und den alliierten Militärregierungen durchaus begrüßt und sollte auch gefördert werden. [Anm. 11] Diese Förderung bedeutete dabei zugleich eine Form von Kontrolle, die der Entstehung unerwünschter Studentenvereinigungen vorbeugen sollte. [Anm. 12]

Die neuen studentischen Gemeinschaften der ersten Nachkriegsjahre waren meist geprägt durch einen im Vergleich zu Korporationen geringeren Organisationsgrad. Über Mitgliedsbeiträge hinaus gab es kaum Verpflichtungen. Gerade in größeren Gruppen kannten die einzelnen Studierenden einander oft nicht näher. [Anm. 13] Typisch für diese Gemeinschaften war vor allem ihre kurze Dauer: Wenn sie überhaupt über die Planungsphase hinauskamen, hatten sie oft nur wenige Semester Bestand. Spätestens mit dem Studienabschluss der Kriegsgeneration lösten sich die meisten von ihnen wieder auf. Gründe dafür waren neben den allgemein schwierigen Bedingungen die oftmals sehr zeitgebundenen inhaltlichen Konzepte und das Fehlen des organisatorischen, persönlichen und finanziellen Rückhalts durch einen Altherrenverband. [Anm. 14] Die Universitätsleitungen und alliierten Behörden hatten in dieser Hinsicht nichts zu bieten.

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3. Die Gründung der Rotkreuz-Studentengruppe

Anders als an anderen Universitäten gab es in Frankfurt zwar einige Projekte zur Neugestaltung des studentischen Lebens, aber nur wenige Gründungen studentischer Gemeinschaften. [Anm. 15] Die erste studentische Neugründung – abgesehen von den beiden konfessionsgebundenen christlichen Hochschulgemeinden – war die Rotkreuz-Studentengruppe. Am 5. Februar 1947 stellte Hans Wilfred Sikorski in einem Schreiben an den damaligen Rektor, Walter Peter Hallstein, den Antrag auf Zulassung. [Anm. 16] In den letzten Kriegstagen als Soldat mehrmals knapp dem Tod und nur durch Zufall der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entkommen [Anm. 17], hatte Sikorski sich vorgenommen: „Wenn du hier heil rauskommst, dann tust du was für die Allgemeinheit!“ [Anm. 18]

Die Gelegenheit dazu ergab sich für ihn schon 1946 bei Aufnahme des Studiums an der Goethe-Universität, als die Versorgungskrise in Frankfurt kurz vor ihrem Höhepunkt stand. Durch das Kriegsgeschehen und durch den Mangel an landwirtschaftlichen Maschinen und Dünger waren die Ernten 1945 und 1946 gering ausgefallen. [Anm. 19] Demgegenüber stieg die Bevölkerungszahl rasch wieder an und es mussten allein im Sommer 1945 90.000 durchkommende Flüchtlinge und Vertriebene versorgt werden. In Frankfurt, das bereits vor dem Krieg auf Lebensmittellieferungen aus anderen Teilen Deutschlands angewiesen war, drohte eine Hungerkatastrophe. Obwohl Amerikaner und Briten den eben besiegten Feind bis April 1946 mit insgesamt 1,5 Millionen Tonnen Lebensmitteln unterstützten [Anm. 20], erreichten die von den Behörden zugeteilten Lebensmittel nie die damals als Überlebensminimum angesehenen 1.600 Kalorien pro Person und Tag. Die Kindersterblichkeit stieg stark an, ebenso die der Erwachsenen. Im Mai 1947 konnten pro Einwohner und Tag nur 951 Kalorien zugeteilt werden. 1947 wurde die Ernte durch eine extreme Trockenheit in Verbindung mit einer Raupenplage vermindert. Bis 1948 beherrschte deshalb der Hunger den Alltag der Menschen. [Anm. 21]

Die Studierenden gehörten zu denjenigen Bevölkerungsgruppen, die von der Ernährungskrise besonders stark betroffen waren. Sie hatten meist wenig, das sich auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eintauschen ließ. Sikorski berichtet, wie sehr es ihn erschütterte, einen Kommilitonen zu beobachten, wie er aus der Not heraus sein Brot mit Pelikanol bestrich – einem Klebstoff, der nach Marzipan roch. Angesichts dieser Not ergriff Sikorski mit seinem Studienfreund Dieter Seige die Initiative und gründete mit zwanzig Kommilitoninnen und Kommilitonen die Rotkreuz-Studentengruppe. Zu der Idee, Hilfe in Form einer Rotkreuz-Studentengruppe zu leisten, war Sikorski durch eine Reportage über die Red Cross College Units in den USA gekommen. [Anm. 22] Als Vereinszweck gab er entsprechend rein karitative Arbeit an; die „Erlangung wirtschaftlicher Hilfe jeder Art auf dem Wege über das Rote Kreuz“ für bedürftige und notleidende Studierende. Einen politischen Charakter habe die Gruppe nicht, betonte er angesichts strenger alliierter Auflagen im Zulassungsantrag. [Anm. 23]

In ihrer Satzung stellte sich die Rotkreuz-Studentengruppe die Kernaufgabe, dem „Geist des Roten Kreuzes“ entsprechend „im Dienst am Nächsten zur Verhütung und Linderung gesundheitlicher, sozialer und sittlicher Not“ zu arbeiten. [Anm. 24] Leitender Gedanke war, Hilfe von Studierenden für Studierende zu leisten. Unabhängig von Weltanschauung, politischer Überzeugung, Konfession etc. stand die Gruppe allen Studierenden offen. Damit legten sie den Grundstein für eine neue Art von studentischer Gemeinschaft: Im Gegensatz zu den alten Korporationen stand hier nicht die Zugehörigkeit zu einem exklusiven Kreis und das Zusammenleben nach festgelegten Sitten und Formen im Vordergrund, sondern die vorbehaltlose Hilfe am Nächsten. Nicht nur im Vergleich zu den traditionellen Studentenverbindungen stellte die Rotkreuz-Studentengruppe damit eine Besonderheit dar, auch im Vergleich mit studentischen Neugründungen an anderen Universitäten nimmt sie eine Sonderstellung ein. Die meisten Neugründungen hatten kulturelle oder allgemeinbildende Ziele, etwa als Debattierclubs. Dem Prinzip der traditionellen studentischen Korporationen folgend, dabei allerdings auf der Suche nach neuen Formen, versuchten die meisten Neugründungen, Formen akademischer Geselligkeit oder sogar neue Formen des Gemeinschaftslebens als Arbeits-, Lebens- und Selbsterziehungsgemeinschaft zu etablieren. Solche Elemente blieben der Rotkreuz-Studentengruppe fremd. Ein Gemeinschaftsleben jenseits der Arbeitstreffen gab es nicht. [Anm. 25] Insofern war die Rotkreuz-Studentengruppe nicht nur als erste Neugründung, sondern auch in ihrem Programm und ihrer Zielsetzung eine Besonderheit der Goethe-Universität. Dazu gehört auch die Tatsache, dass sie sich an das Rote Kreuz als Träger anschloss.

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3.1 Die Aktivitäten der Rotkreuz-Studentengruppe

In zwei Hauptaufgabenfeldern verfolgte die Rotkreuz-Studentengruppe ihre Ziele. [Anm. 26] Sie sammelte Sach- und Geldspenden und verteilte diese Spenden. Daneben richtete die Gruppe eine Beratungssprechstunde für kranke und bedürftige Studierende ein, die sie erst einmal wöchentlich, dann zweimal wöchentlich abhielt. [Anm. 27]

Um Geldspenden zu erhalten, organisierte die Gruppe kulturelle Veranstaltungen, vor allem Konzerte, die als Benefizveranstaltungen zugunsten der notleidenden Studenten durchgeführt wurden. Höhepunkt war ein Konzert des weltberühmten Pianisten Walter Gieseking. [Anm. 28] Auch fand mindestens eine Listensammlung ausschließlich unter Universitätsangehörigen statt. Auch außerhalb solcher Sammlungen wurden Gelder angenommen, die aber nur einen kleinen Teil der Spenden ausmachten. Insgesamt nahm die Rotkreuz-Studentengruppe allein im Wintersemester 1947/1948 mehr als 10.000 Reichsmark an Spendengeldern ein. [Anm. 29]

Mit einem eigens eingerichteten Auslandsreferat versuchte die Gruppe zudem, Verbindung zu Kommilitonen in anderen Teilen der Welt herzustellen. Es gelang der Frankfurter Gruppe, Kontakt mit amerikanischen Red Cross College Units [Anm. 30] herzustellen. Von dort kamen dann regelmäßig Sachspenden. Unterstützung fand die Rotkreuz-Studentengruppe auch beim Internationalen Roten Kreuz in Genf, dem Kanadischen Roten Kreuz, dem Amerikanischen Roten Kreuz, der deutschen und amerikanischen Quäkergemeinde, dem American Friends Service Committee an der Yale Universität und der American Church of Christ. Die Gruppe konnte also ihren Anspruch, die „Erlangung wirtschaftlicher Hilfe jeder Art […] über das Rote Kreuz“ [Anm. 31] zu ermöglichen, tatsächlich umsetzen. Unterstützung und Spenden hat die Gruppe nicht nur in Frankfurt und Umgebung mobilisiert, sondern erfolgreich sogar internationale Quellen erschlossen.

Die Geld- und Sachspenden wurden während der Sprechstunden verteilt, in denen auch Beratung für Studierende in Notlagen angeboten wurde. Die Rotkreuz-Studentengruppe führte zudem Listen mit besonders bedürftigen Studierenden, denen sie Zuschüsse für Lebensmittelkäufe (die Lebensmittelkarten waren lediglich Kaufberechtigungen), Straßenbahnkarten und Miete gewährte. [Anm. 32] Körperlich Behinderten bzw. Kriegsversehrten wurden Begleiter vermittelt, finanziell bedürftigen Studenten nicht nur Gelder ausgehändigt, sondern auch Nebenerwerbsmöglichkeiten aufgezeigt – lange bevor der sog. Studentische Schnelldienst als Arbeitsvermittlung seinen Betrieb aufnahm. Kranke Studierende erhielten Lebensmittel, Kleidungsstücke und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs. Eltern erhielten für ihre Kinder Windeln, Wäsche, Schuhe u.ä. Allein im Wintersemester 1947/1948, also bereits kurz nach ihrer Gründung, erreichte die Rotkreuz-Studentengruppe so 1.200 Studierende und deren 150 Kleinkinder – das ist etwa ein Viertel der damals immatrikulierten Studierenden.

Mit den eingegangenen Geld- und Sachspenden wurde auch das Studentenwerk unterstützt. Damit versorgte es tuberkulosekranke Studierende und betrieb die Mensaküche sowie die Institutsbibliotheken. Ferner richtete die Rotkreuz-Studentengruppe eine ständige „Näh-, Strick- und Stopfbereitschaft“ ein. 15 Studentinnen trafen sich zweimal wöchentlich für zwei bis drei Stunden in einem Gebäude der Quäkergemeinde [Anm. 33], um Kleidung für alleinstehende Studenten auszubessern und neue Kleidung herzustellen. Eine Sanitätsdiensteinsatzbereitschaft wurde auf dem Universitätsgelände eingerichtet. Hierfür hatten Studenten Ersthelferkurse absolviert, um in Notfällen Erste Hilfe leisten zu können. [Anm. 34] Neben den an Frankfurter Studierende gerichteten Hilfsmaßnahmen entwickelte die Gruppe auch Angebote für Studenten oder Studierwillige, die in Kriegsgefangenenlagern in England oder Frankreich interniert waren. Sie ließ ihnen Informationen über Studienmöglichkeiten zukommen, vermittelte Korrespondenzpartner und ließ Skripte zu „deutsch- und geschichtskundlichen“ Themen zur Vorbereitung auf ein Studium ausarbeiten. [Anm. 35] Auch versorgte und beriet sie heimgekehrte Kriegsgefangene. [Anm. 36] Ein drängendes Problem der Gruppe war die Suche nach einem Raum für die Organisation und Administration ihrer Tätigkeiten und besonders für die Durchführung der Sprechstunde. Die Universität stellte keinen Raum zur Verfügung. Die Gruppe war daher auf die Gastfreundschaft von Frankfurter Bürgern angewiesen.

Die verschiedenen Aktivitäten bezeugen allgemeinen Weitblick, Einfallsreichtum und großen Einsatz beim Spendensammeln und bei der Linderung der vielen Alltagsnöte der Studierenden. Tatsächlich erreichte die Gruppe einen beträchtlichen Teil der Studierenden.

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3.2 Differenzen mit dem Träger

In der Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz als dem Träger traten bald Konflikte auf. Der Schatzmeister des Präsidiums des Roten Kreuzes Hessen, Lehmann [Anm. 37], warf der Rotkreuz-Studentengruppe ein undurchsichtiges Geschäftsgebaren vor, da sie nicht häufig genug Kassenberichte und Berichte über die eingegangenen Sachspenden und ihre Verwendung an ihn sende. [Anm. 38] Ferner kritisierte Lehmann, dass sie durch die Sammlung von Spenden ihre Kompetenzen überschreiten und damit eine „karitative Inflation“ herbeiführen würde. Dies laufe den Interessen des Roten Kreuzes zuwider, weil die Rotkreuz-Studentengruppe auf diese Weise die „Gebefreudigkeit der Bevölkerung“ überstrapazieren könne. Karitative Fürsorge solle sie dem AStA überlassen. [Anm. 39] Den Vorstand der Rotkreuz-Studentengruppe betrachte er als nicht „solide“ und nicht „ernst zu nehmen“, äußerte Lehmann in einem von Rektor Hallstein erbetenen Gutachten. [Anm. 40] Das Rektorat der Universität schickte daraufhin ein Mahnschreiben an die Rotkreuz-Studentengruppe, „um das Ansehen der Universität zu wahren“. [Anm. 41]

Auf diese Vorwürfe reagierte die Rotkreuz-Studentengruppe in ebenfalls scharfem Ton: Die Forderung nach vierteljährlichen Kassenberichten [Anm. 42] lehnte die Gruppe ab, denn sie habe nicht die personellen Kapazitäten, um „alle zwei Wochen“ ausführliche Kassenberichte erstellen zu können [Anm. 43]. Sie verwies stattdessen auf die mehrfach angebotene und mit Lehmann bereits vereinbarte Möglichkeit der Einsichtnahme in ihre Bücher, die transparent und genau geführt worden seien. [Anm. 44] Außerdem legte sie ausführlich dar, warum Lehmann mit seinem Vorwurf der Kompetenzüberschreitung Unrecht habe. Die von der Rotkreuz-Studentengruppe geleistete Hilfe könne in Form und Umfang weder vom AStA noch vom Studentenwerk geleistet werden. Auch fühle sich niemand für die notleidenden Studenten verantwortlich. [Anm. 45] Lehmann schlage einen viel zu scharfen Ton an, den die Rotkreuz-Studentengruppe mit ihrem Wirken nicht verdient habe, seine Äußerungen über ihren Vorstand verstehe man daher als „Affront“. [Anm. 46]

Diese Antwort steigerte die Spannungen zwischen der Rotkreuz-Studentengruppe und Lehmann. Er lehnte eine Antwort und Verständigung ab, da er nach einer „37-jährigen Beamtentätigkeit Belehrungen dieser Art“ unmöglich entgegennehmen könne. [Anm. 47] Die Flexibilität der Studierenden, mit der sie auf die Notlage reagierte, überforderte ganz offensichtlich die starre Struktur des Roten Kreuzes. Die Studenten waren erfüllt von ihrer karitativen Aufgabe, in administrativen und buchhalterischen Fragen hatten sie hingegen wenig Erfahrung und sahen die Notwendigkeit des geordneten Berichtswesens als weniger dringlich an. Der letzte Vorsitzende der Gruppe, Dieter Seige, klagte noch zuletzt, die Unterstützung durch das Rote Kreuz sei stets gering gewesen. [Anm. 48]

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3.3 Das Ende der Rotkreuz-Studentengruppe

Ende 1949 löste sich die Rotkreuz-Studentengruppe auf. Gegenüber dem Rektor der Universität nannte sie als wichtigste Gründe, dass Nachwuchs ausbleibe und dass die Hauptaufgabe der Gruppe durch die Auswirkungen der Währungsreform wegfalle. Das Ausbleiben von Nachwuchs überrascht, denn bis dahin konnte die Gruppe großen Zuwachs verzeichnen: Zwischen Februar und Mai 1947 stieg die Zahl der Mitglieder von 21 auf 71, im Januar 1949 gehörten der Gruppe 120 Mitglieder an. Auch ist schwer nachvollziehbar, dass die in der Satzung genannten Ziele einfach weggefallen sein sollen. Im Suspendierungsschreiben wird der Satzungszweck verkürzt auf Hilfe für Studierende durch „finanzielle, kleidungsmäßige und ernährungsmäßige Unterstützung“ [Anm. 49]. Diese Aufgabe entfiel größtenteils, als die Währungsreform ihre Wirkung entfaltete.

Wahrscheinlich konnten für die anderen in der Satzung angeführten Ziele, wie die Aufrechterhaltung von Bereitschaften zur ambulanten medizinischen Versorgung, weniger Freiwillige gewonnen werden. Die Gruppe hat zudem keine Aktivitäten jenseits der Arbeitssitzungen unternommen, keine Freizeitveranstaltungen, durch die tiefergehende Freundschaft, eine freundschaftliche Vernetzung der Gruppe hätte entstehen können. Ein weiterer wichtiger, wenn nicht sogar der ausschlaggebende Grund könnte darin liegen, dass 1949 diejenigen Gründungsmitglieder, die durch ihr Engagement und ihre Persönlichkeit die Gruppe zusammenhielten und führten, ihr Studium abschlossen. So erlahmte der Antrieb der Gruppe. [Anm. 50]

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4. Einordnung

Die Rotkreuz-Studentengruppe weist zwar einige typische Charakteristika von studentischen Gemeinschaften der Nachkriegszeit auf, sie setzt sich jedoch auch deutlich von diesen ab. Gemeinsam mit den studentischen Gemeinschaften neuen Typs der Nachkriegszeit hat sie zum einen den – im Vergleich zu Korporationen – lockeren Organisationsgrad und die Tatsache, dass sie den ersten Generationswechsel nicht überstand. Auch war der Altersdurchschnitt der Mitglieder mit 26 Jahren für die damaligen Jahre durchaus üblich. [Anm. 51]

Der rein karitative Zweck der Gruppe hebt sie aber deutlich von allen bislang bekannten studentischen Gemeinschaften ab. Dieses Alleinstellungsmerkmal ist angesichts der damals weit verbreiteten Not durchaus bemerkenswert. Auch die Trägerschaft durch das Rote Kreuz war in Deutschland einmalig. Zusätzlich kannte sie im Gegensatz zu anderen Gruppen kein Gemeinschaftsleben, man sah sich ausschließlich für Arbeitstreffen. Darüber hinaus sollte betont werden, dass die Rotkreuz-Studentengruppe auf die Initiative einiger Studierender um Hans Wilfred Sikorski zurückging, in einem Umfeld, in dem es keine anderen Gemeinschaften neuen Typs gab.

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1 Kleifeld, Wende, S. 13, 18, 19. Steffens, Hannover, S. 20 nennt als wichtigste Studien und Überblicksdarstellungen u.a. Rainer Maaß, Die Studentenschaft der Technischen Hochschule Braunschweig in der Nachkriegszeit, Husum 1998 und Uta Krukowska, Die Studierenden der Universität Hamburg in den Jahren 1945-1950, Hamburg 1993; Kleifeld, Wende, S. 18 nennt als „beispielhaft“ die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Horst Bernhardi, Neue studentische Gemeinschaften an der Universität Göttingen in den Jahren 1945-1950, in: Göttinger Jahrbuch 10 (1962), S. 159-172 und Walter Schmitthenner, Studentenschaft und Studentenvereinigungen nach 1945, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Das Zwanzigste Jahrhundert 1918-1985. Festschrift in sechs Bänden, Bd. III, hg. v. Wilhelm Doerr, Berlin et. al. 1986, S. 569-616.

2 Schmitthenner, Studentenschaft, S. 571.

3 Zum Verhältnis der Korporationen zur Weimarer Republik und insbesondere ihrer Abwendung von ebendieser siehe Stickler, Reich, S. 93-107; dort auch weitere Literatur. Zum Verhältnis der Korporationen zum Dritten Reich siehe Grüttner, Nationalsozialismus, S. 125-144.

4 Kontrollratsgesetz Nr. 2 v. 10. Oktober 1945.

5 Schmitthenner, Studentenschaft, S. 607-609.

6 Theodor Heuss am 16. Dezember 1949 zit. n.: Schmitthenner, Studentenschaft, S. 608.

7 Krönig / Müller, Nachkriegssemester, S. 256f.

8 In Frankfurt lag das Durchschnittsalter der Studierenden bei 26 Jahren. Siehe Timm, Bericht, S. 64.

9 Bendix, Hauptstadt, S. 87.

10 Krönig / Müller, Nachkriegssemester, S. 257. Das wurde von den Universitätsleitungen und den alliierten Militärregierungen durchaus begrüßt und sollte auch gefördert werden.

11 Hochschulkonferenz Heidelberg (25. – 27. 11. 1946), in: Heinemann (Hrsg.): Süddeutsche Hochschulkonferenzen 1945 – 1949, S. 118-120, S. 274; Department of State, Germany, S. 570f.

12 Bernhardi, Göttingen, S. 159.

13 Ebd., S. 162.

14 Schmitthenner, Studentenschaft, S. 609f.

15 Timm, Bericht, S. 65.

16 Walter Peter Hallstein (* am 17. November 1901, + am 29. März 1982) war Jurist, Hochschullehrer und CDU-Politiker. Er war vom 9. April 1946 bis 24. September 1948 Rektor der Goethe-Universität.

17 Sikorski, Schmerz, S. 74-76.

18 Hans Wilfred Sikorski in einem Telefongespräch am 9. März 2012.

19 Die folgenden Ausführungen zur Ernährungskrise in Frankfurt am Main nach Bendix, Hauptstadt, S. 82-89.

20 Bendix, Hauptstadt, S. 84f.

21 Ebd., S. 88.

22 Sikorski, Schmerz, S. 102.

23 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben von Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein vom 5. Februar 1947.

24 UAF Abt. 1 Nr. 158, dem Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein vom 16. April 1947 beigefügte Satzung der Rotkreuz-Studentengruppe.

25 Hans Wilfred Sikorski in einem Telefongespräch am 9. März 2012.

26 UAF Abt. 1 Nr. 158, Tätigkeitsbericht für den Monat Juli v. 30. Juli 1947, sowie Tätigkeitsbericht für das Wintersemester 1947/48, o.D., eingegangen am 2. Februar 1948.

27 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein v. 30. Juli 1947, S. 1 und Tätigkeitsbericht, eingegangen am 2. Februar 1948, S. 1.

28 Hans Wilfred Sikorski in einem Telefongespräch am 9. März 2012.

29 UAF Abt. 1 Nr. 158, Tätigkeitsbericht für das Wintersemester 1947/48, o.D., eingegangen am 2. Februar 1948, Anlage 1: Kassenbericht des Finanzreferenten.

30 Die Red Cross College Units sind von Studenten gebildete regionale Gruppen des amerikanischen Roten Kreuzes an Universitäten. Sie dienen dem Sammeln von Blutspenden, dem Katastrophenschutz und zur Unterstützung des amerikanischen Roten Kreuzes bei seinen karitativen Aufgaben. In der deutschen Forschung haben sie noch keine Beachtung gefunden; einschlägige Literatur, herausgegeben vom amerikanischen Roten Kreuz, befindet sich in den USA.

31 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein v. 5. Februar 1947.

32 Hans Wilfred Sikorski in einem Telefongespräch am 9. März 2012.

33 Ebd.

34 Ebd.

35 UAF Abt. 1 Nr. 158, Tätigkeitsbericht für das Wintersemester 1947/48, o.D., eingegangen am 2. Februar 1948., S. 2. Ob die Skripte tatsächlich versandt wurden und was genau unter „deutsch- und geschichtskundlichen Themen“ zu verstehen ist, geht aus den Akten nicht hervor. Ebenso wenig ließ sich Näheres zur Betreuung der Kriegsgefangenen in Erfahrung bringen.

36 UAF Abt. 1 Nr. 158, Tätigkeitsbericht für das Wintersemester 1947/48, o.D., eingegangen am 2. Februar 1948.

37 Der Vorname Lehmanns geht aus den Quellen nicht hervor.

38 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Dr. Lehmann an Prof. Dr. Franz Böhm vom 7. Januar 1949.

39 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Dr. Lehmann an Rektor Hallstein vom 5. Dezember 1947, S. 1.

40 Ebd., S. 3

41 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Rektor Hallstein an die Rotkreuz-Studentengruppe v. 9. Dezember 1947, sowie Schreiben von Prof. Dr. Franz Böhm an die Rotkreuz-Studentengruppe v. 13. Januar 1949. Der Konflikt war auch ein Jahr später noch nicht beendet, sodass ein zweites Mahnschreiben folgte.

42 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Dr. Lehmann an Prof. Dr. Franz Böhm v. 7. Januar 1949.

43 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein v. 17. November 1947, S. 2 rekto.

44 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski v. 17. Dezember 1947, S. 2 verso, sowie v. Seige an Prof. Dr. Franz Böhm v. 22. Januar 1949.

45 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Hans Wilfred Sikorski an Rektor Hallstein v. 17. Dezember 1947, S. 1 verso.

46 Ebd., S. 2 verso.

47 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Dr. Lehmann an Rektor Hallstein v. 12. Januar 1948.

48 UAF Abt. 1 Nr. 158, Schreiben v. Seige an Prof. Dr. Boris Rajewsky vom 7. Dezember 1949.

49 Ebd.

50 Hans Wilfred Sikorski in einem Telefongespräch am 9. März 2012.

51 Ebd.

  • Department of State, Germany 1947–1949. The Story in Documents, Washington D.C. 1950.
  • Kontrollratsgesetz Nr. 2: Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen vom 10. Oktober 1945.
  • Telefongespräch mit Hans Wilfred Sikorski v. 9. März 2012.
  • Timm, Edelgard, Bericht der Universität Frankfurt, in: Studium Generale 1 (1949), S. 62–66.
  • Universitätsarchiv Frankfurt (UAF), Abt. 1 Nr. 158.
  • Universitätsarchiv Frankfurt (UAF), Abt. 430 Nr. 5.
  • Bendix, Werner, Die Hauptstadt des Wirtschaftswunders. Frankfurt am Main 1945–1956 (= Studien zur Frankfurter Geschichte 49), Frankfurt am Main 2002.
  • Bernhardi, Horst, Neue studentische Gemeinschaften an der Universität Göttingen in den Jahren 1945 bis 1950, in: Göttinger Jahrbuch (10) 1962, S. 159–172.
  • Grüttner, Michael, Die Korporationen und der Nationalsozialismus, in: „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, hg. v. Harm-Hinrich Brandt und Matthias Stickler (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 8), Würzburg 1998, S. 125 -144.
  • Heinemann, Manfred (Hg.), Süddeutsche Hochschulkonferenzen 1945-1949 (= Edition Bildung und Wissenschaft 3), Berlin 1997.
  • Kleifeld, Helge, “Wende zum Geist”? Bildungs- und hochschulpolitische Aktivitäten der überkonfessionellen studentischen Korporationen an westdeutschen Hochschulen 1945-1961, Köln 2002.
  • Krönig, Waldemar / Müller, Klaus-Dieter, Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990.
  • Schmitthenner, Walter, Studentenschaft und Studentenvereinigungen nach 1945, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Das Zwanzigste Jahrhundert 1918-1985. Festschrift in sechs Bänden. Bd. III, hg. v. Wilhelm Doerr, Berlin u.a. 1986, S. 569-616.
  • Sikorski, Hans Wilfred, Schmerz, Familie, Geographie und tiefere Beleuchtung dreier Leben, Hamburg 2011 [unveröffentlichte Monographie].
  • Steffens, Frauke, Innerlich gesund an der Schwelle einer neuen Zeit. Die Technische Hochschule Hannover 1945-1956 (= Pallas Athene 37), Stuttgart 2011.
  • Stickler, Matthias, Zwischen Reich und Republik. Zur Geschichte der studentischen Verbindungen in der Weimarer Republik, in: „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, hg. v. Harm-Hinrich Brandt und Matthias Stickler (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 8), Würzburg 1998, S. 85–107.

Carsten Richter, Die Rotkreuz-Studentengruppe 1947-1949: Eine studentische Gemeinschaft in der Nachkriegszeit, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 25.10.2013, URL: http://use.uni-frankfurt.de/studieren-nachkriegszeit/richter.