Geniza heute
von Tatjana Meisler
Abstract
Seit Jahrhunderten werden in jüdischen Gemeinden Schriften, welche den Gottesnamen enthalten (können) und deshalb nach religiöser Vorschrift nicht vernichtet werden dürfen, in einem speziell dafür vorgesehenen Ort, einer sogenannten Geniza (dt. Lager, Versteck) gesammelt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Das religiöse Gebot sieht vor, dass die Schriftstücke aufbewahrt werden. Häufig werden sie anschließend begraben. Historische Funde belegen, dass dieses Gebot mindestens seit dem Frühmittelalter – nachweislich seit dem 9. Jh. (frühste Datierung der Funde aus der Kairoer Geniza) – von den Gemeinden befolgt wurde, indem solche Schriften in der Synagoge in einem speziellen Raum abgelegt wurden. Diese sogenannten Genizot existieren bis heute in vielen Synagogen. Heute gibt es jedoch unterschiedliche Formen von Genizot: während ältere Synagogen häufig immer noch über eine separate Kammer verfügen, benutzen moderne Gebetshäuser eine Truhe oder eine andere Art der Ablage als Geniza, welche alle paar Jahre geleert und deren Inhalt anschließend am örtlichen jüdischen Friedhof begraben wird. In Israel finden sich zahlreiche öffentliche Genizot in Form von entsprechend ausgezeichneten Containern, welche eine vorschriftsmäßige Entsorgung von veralteten oder unbrauchbar gewordenen religiösen Schriften und rituellen Gegenständen ermöglichen. Dieser Beitrag erläutert das religiöse Gebot einer Geniza und veranschaulicht an verschiedenen Beispielen seine Umsetzung in unserer heutigen Zeit, insbesondere in Deutschland.
Allgemein
Nicht mehr benutzte Schriften und Bücher, die den Gottesnamen enthalten, werden im Judentum in eine Geniza – also eine Art Zwischenlager – abgelegt, um sie zu einem späteren Zeitpunkt gesammelt zu begraben. Dieser in der jüdischen Kultur verankerte Brauch basiert auf dem dritten der Zehn Gebote, nämlich: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“ (Ex 20:7). Das Gebot, den Namen des Herrn respektvoll zu behandeln, erstreckt sich sowohl auf den Umgang mit der Heiligen Schrift, also der Torah, als auch auf die angemessene Entsorgung von Schriftstücken, in welchen der Gottesname in irgendeiner Form Erwähnung findet. Im Talmud (dem zentralen Schriftwerk des rabbinischen Judentums und Teil der sogenannten Mündlichen Torah) finden sich verschiedene Passagen, welche die Handhabung solch heiliger Schriften erwähnen. Spätere Werke, etwa die Gesetzessammlung Mishne Torah des jüdischen Gelehrten Moshe ben Maimon, präzisieren den Umgang mit heiligen Texten und machen ihn z.B. abhängig von ihrer Herkunft und ihrem Schreiber (vgl. Mishne Torah, Yesodei haTorah, 6:8). Der Brauch, ebensolche Schriftstücke in eine Geniza abzulegen, ist bis ins 9. Jh. nachweisbar. Womöglich wurde er bereits früher praktiziert, doch die Forschung muss sich bei Datierungen auf tatsächliche Geniza-Funde berufen, deren Alter sich nicht immer genau bestimmen lässt. Denn die abgelegten Bücher und Schriftrollen wurden für gewöhnlich nach einem bestimmten Zeitraum begraben und sind damit dem natürlichen Zersetzungsprozess überlassen worden. Der Forschung dienen daher die erhaltenen Schriften, deren Alter sich durch Vergleichswerke sowie Erwähnungen und Verweise in anderen überlieferten und bekannten Texten eingrenzen lässt, um den ungefähren Zeitraum der Nutzung der jeweiligen Geniza zu bestimmen. Die Schriften in der bisher ältesten gefundenen Geniza, der sogenannte Kairoer Geniza, werden zwischen das 9. und 19. Jh. datiert.
Religiöser Hintergrund
Es gibt in der rabbinischen Literatur keine Diskussion, die sich direkt auf die Geniza als Kammer zur Ablage nicht mehr gebrauchter heiliger Schriften und die damit verbundenen Regeln bezieht. Es gibt jedoch Textstellen, in denen die Handhabung mit bestimmten heiligen Texten näher beschrieben wird. Sie erheben u.a. die Bewahrung heiliger Schriften zur religiösen Pflicht und sind daher relevant. Ebenfalls finden sich zahlreiche Beispiele, in denen Rabbinen oder andere Personen dieser Pflicht nachkommen (vgl. z.B. im Babylonischen Talmud, Ordnung Moed, Traktat Shabbat, fol. 13b, 30b, 115a sowie Traktat Pesaḥim, fol. 62, 118b). An dieser Stelle soll beispielhaft eine Passage aus dem Babylonischen Talmud im Traktat Shabbat (bShab 115a) in Ausschnitten aus dem Hebräisch-Aramäischen übersetzt und erläutert werden. Der Kontext ist ein Streit zwischen Rav Huna und Rav Ḥisda, welche Bücher man am Shabbat vor dem Feuer retten darf. Der Ausgangspunkt dieser Diskussion ist die entsprechende Passage in der Mishna (mShab 16,1).
Talmud Bavli, Ordnung Moed, Traktat Shabbat, fol. 115a
Übersetzung | Hebräisch-Aramäisches Original |
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[Mishna] Alle heiligen Schriften muss man vor dem Feuer retten, ob man sie liest oder ob man sie nicht liest. Und selbst, wenn sie in einer anderen Sprache geschrieben sind, [so] müssen sie [dennoch] versteckt werden. Und weshalb liest man manche [heiligen Schriften] nicht? Wegen [potentieller] Vernachlässigung des Bet HaMidrash (dt. des Lehrhauses). | משנה כל כתבי הקדש מצילין אותן מפני הדליקה בין שקורין בהן ובין שאין קורין בהן אף על פי שכתובים בכל לשון טעונים גניזה ומפני מה אין קורין בהם מפני ביטול בית המדרש: |
[Gemara] Es wurde gesagt: Wenn sie geschrieben sind in Targum (Aramäisch) oder in irgendeiner [anderen] Sprache. Rav Huna sagte: „Man muss sie nicht vor dem Feuer retten“, [während] Rav Ḥisda sagte: „Man muss sie vor dem Feuer retten“. [...] Wir lernten [aus der Mishna]: Alle heiligen Schriften muss man vor dem Feuer retten, ob man sie liest oder ob man sie nicht liest, und selbst, wenn sie in einer anderen Sprache geschrieben sind. Was [bedeutet das]? [Bedeutet es] nicht, dass [mit der Aussage] „ob man sie liest“ die Propheten [gemeint sind] und [mit der Aussage] „oder ob man sie nicht liest“ die Schriften? [Und bedeutet die Aussage] „und selbst, wenn sie in einer anderen Sprache geschrieben sind“ nicht, dass man sie nicht liest? Und [trotzdem] lehrt er, dass „man sie retten muss“. […] Rav Huna könnte dir sagen: Ist das [wirklich] deine Ansicht? Wie ist [dann] der Schluss [der Mishna] „sie müssen versteckt werden“ [zu verstehen]? Wenn man sie sogar retten muss, um wie viel mehr muss man sie [dann] verstecken! […] Rav Huna erklärt [die Mishna] in Übereinstimmung mit seiner Aussage: „Ob man sie liest“ [meint] die Propheten, „ob man sie nicht liest“ [meint] die Schriften. Dies [trifft also nur dann zu], wenn sie in der heiligen Sprache [Hebräisch] geschrieben sind, aber wenn sie in einer anderen Sprache [geschrieben sind], muss man sie nicht retten, trotzdem müssen sie versteckt werden. Rav Ḥisda erklärt [die Mishna] in Übereinstimmung mit seiner Aussage: […] Und [selbst] ihr wurmzerfressenes Material muss man verstecken. | גמרא איתמר היו כתובים תרגום או בכל לשון רב הונא אמר אין מצילין אותן מפני הדליקה ורב חסדא אמר מצילין אותן מפני הדליקה […] תנן כל כתבי הקדש מצילין אותן מפני הדליקה בין שקורין בהן בין שאין קורין בהן אע"פ שכתובין בכל לשון מאי לאו שקורין בהן נביאים ושאין קורין בהן כתובים אע"פ שכתובין בכל לשון דלא ניתנו לקרות בהן וקתני מצילין […] אמר לך רב הונא ותסברא אימא סיפא טעונין גניזה השתא אצולי מצילינן גניזה מיבעי […] רב הונא מתרץ לטעמיה בין שקורין בהם נביאים ובין שאין קורין בהם כתובים במה דברים אמורים שכתובין בלשון הקדש אבל בכל לשון אין מצילין ואפילו הכי גניזה בעו רב חסדא מתרץ לטעמיה […] והכי קאמר ומקק שלהן טעונין גניזה . |
Erläuterung:
Die Vorschrift, bestimmte religiöse Texte zu retten bzw. zu verstecken (hebr. g-n-z), wird hier auf verschiedene Art und Weise erläutert und präzisiert. Bereits zu Beginn wird eine Konkretisierung vorgenommen: nicht irgendwelche Texte, sondern „alle heiligen Schriften“. Eine umfassende Auslegung von heilig findet dabei nicht statt. Man kann an dieser Stelle lediglich ableiten, dass mindestens Teile der Bibel gemeint sind, die neben der Torah (Fünf Bücher Mose) die Propheten und die Schriften umfasst (hebr. Ketuvim, wozu z.B. die Psalmen, aber auch die fünf Buchrollen gehören, die bestimmten jüdischen Festen zugeordnet sind, z.B. Ester für Purim). Letztere werden explizit erwähnt. Die erste Anweisung lautet, die Schriftstücke sollen „vor dem Feuer“ gerettet werden. Dies bezieht sich auf ein Feuer, welches am Shabbat ausbricht und droht, die heiligen Texte zu beschädigen.
Die Aussage „ob man sie liest oder ob man sie nicht liest“ ist mehrdeutig. Sie kann sich zum einen auf die Parashot (dt. Wochenabschnitte), also Leseabschnitte der Torah, und die zugehörige Prophetenlesung (Haftara) beziehen, die nach einer bestimmten Ordnung während des Synagogengottesdienstes laut verlesen werden. Eine andere Interpretation bietet Rashi (Rabbi Shlomo ben Yiṣḥaq), einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten und Bibelexegeten des europäischen Mittelalters. In seinem Kommentar zum Babylonischen Talmud erläutert er, dass die Schriften am Shabbat nicht privat gelesen wurden, da man an diesem Tag bereits an öffentlichen Vorträgen teilnahm. Daher, so argumentiert Rashi, blieb für den einzelnen Gläubigen keine Zeit, die Schriften zusätzlich noch zu Hause zu lesen, weswegen man sie also am Shabbat „nicht liest“.
Spannend ist der Zusatz „selbst, wenn sie in einer anderen Sprache geschrieben sind“, denn diese Differenzierung ist der eigentliche Ausgangspunkt des Streitgesprächs zwischen Rav Huna und Rav Ḥisda Während Rav Ḥisda dafür plädiert, dass man auch fremdsprachige Bücher vor dem Feuer am Shabbat rettet, spricht sich Rav Huna gegen eine Rettung nicht-hebräischer Bücher aus. Lediglich über die Rettung hebräisch-sprachiger Bücher sind sich beide Rabbinen einig. Interessant ist, dass hier das entscheidende Kriterium die Sprache ist. So wird das oben erwähnte religiöse Gebot, Texte mit dem Gottesnamen zu ehren und nicht der Zerstörung preiszugeben, in dieser Talmudstelle nicht explizit behandelt. Der Gottesname wird nicht einmal erwähnt. Es geht vielmehr um die Unterscheidung zwischen der heiligen Sprache Hebräisch und anderen, nicht heiligen Sprachen. An einer anderen Stelle, die kurz nach dem hier aufgeführten Beispiel folgt, wird sogar beschrieben, unter welchen Umständen Schriften trotz der Erwähnung Gottes verbrannt werden können, nämlich wenn es sich um Bücher von Ketzern (hebr. Minim) handelt (vgl. bShab 116a, hebr. und engl.). Diese Differenzierung nach Kriterien außerhalb des Textinhalts finden sich auch bei Maimonides in seiner erwähnten Gesetzessammlung Mishne Torah. Auch hier werden Texte nach Herkunft und Autorintention unterschieden: Texte, die von Nichtjuden (in heiliger Absicht) geschrieben wurden, werden begraben. Texte jüdischer Häretiker hingegen werden als unwürdig befunden, begraben zu werden, da die nicht heilige Absicht beim Schreiben auch die Heiligkeit der Texte bzw. sogar des Gottesnamen untergräbt (vgl. Mishne Torah, Yesodei ha Torah, 6:8, hebr. und engl.).
In der Diskussion in bShab 115a zum Unterschied im Umgang mit hebräischen und nicht-hebräischen Texten gilt das besondere Augenmerk der Differenzierung zwischen „retten“ und „verstecken“. Obwohl die beiden Rabbinen bezüglich der Rettung fremdsprachiger Bücher vor dem Feuer am Shabbat eine unterschiedliche Meinung haben, sind sie sich zumindest darüber einig, dass beide Sorten von Büchern (hebräische und anderssprachige) versteckt werden sollen. Das Verstecken bezieht sich an dieser Stelle jedoch nicht auf den diskutierten Kontext eines ausbrechenden Feuers am Shabbat. Vielmehr wird das Verstecken von Schriften als Vergleichsumstand herangezogen und als analogisches Argument verwendet: wenn bestimmte Texte in einer Gefahrensituation wie einem ausbrechenden Feuer gerettet werden müssen, dann muss man sie doch erst recht vor anderweitiger Zerstörung durch Verstecken bewahren. So argumentiert Rav Huna, wenn er dafür plädiert, fremdsprachige Bücher nicht vor dem Feuer am Shabbat zu retten: „Wenn man sie sogar retten muss, um wie viel mehr muss man sie [dann] verstecken". Würde die Mishna die Rettung dieser Bücher einschließen, wäre die Erwähnung des Versteckens unnötig. Daraus folgert Rav Huna, dass die Mishna nur hebräische Bücher meint. Das Verstecken ist als Abstufung zum Retten zu verstehen; beide Textsorten (hebräische und nicht-hebräische) müssen versteckt werden, aber bei Ausbruch eines Feuers am Shabbat sollen nur die hebräischen Bücher auf jeden Fall gerettet werden. Das Retten anderssprachiger Bücher ist umstritten und wird daraufhin zum Mittelpunkt der hiesigen Diskussion (vgl. bShab 115a, hebr. und engl.).
Auch wenn der ursprüngliche Kontext der Diskussion der Rabbinen ein Feuer am Shabbat ist, sind ihre Auslegungen für den Umgang mit einer modernen Geniza relevant. Das Streitgespräch zwischen Rav Huna und Rav Ḥisda veranschaulicht, dass über den Umgang mit heiligen Texten keineswegs Konsens herrschte. Die Differenzierung zwischen „retten“ und „verstecken“ ist deshalb interessant, weil sie impliziert, dass heilige Texte unterschiedlich gehandhabt werden sollen. Die Auffassungen der Rabbinen im Talmud machen deutlich, dass neben dem Gottesnamen auch die Sprache (Hebräisch oder nicht) und die Herkunft der Texte Kriterien waren, die sich auf die Geniza übertragen lassen. So weiß die Forschung aus aktuellen und vergangenen Geniza-Funden, dass bereits früh neben heiligen Texten auf Hebräisch auch Schriften auf Aramäisch, Jiddisch oder den Landessprachen in einer Geniza aufbewahrt wurden. Hinzu kommt, dass es in der Praxis mitnichten immerzu heilige Schriften im engeren Sinne waren, die abgelegt wurden, sondern auch Populärliteratur (z.B. Rittergeschichten), Moralliteratur (Fabeln, Märchen), aber auch Zeitungsausschnitte, handschriftliche Notizen, Briefe, Verträge, Kalender und vieles mehr.
Bemerkenswert ist die Ausführung von Rabbi Ḥisda, die besagt: „Und [selbst] ihr wurmzerfressenes Material muss man verstecken“. Dies kann zum einen dahin gedeutet werden, dass Schriftstücke unabhängig von dem Grad ihrer Beschädigung versteckt, also in eine Geniza abgelegt werden sollen, oder – eine Deutung, welche durch diverse Geniza-Funde ihre Bestätigung findet – dass auch aus dem Gebrauch gekommene rituelle Gegenstände, etwa Mappot (dt. Torawimpel) oder religiöse Kleidungsstücke ebenfalls wie die heiligen Schriftstücke versteckt werden sollen.
Geniza heute
Allgemein
Es gibt keine expliziten rituellen Vorgaben für das Begraben eines Geniza-Inhaltes. Nichtsdestotrotz leeren moderne Gemeinden ihre Genizot heutzutage regelmäßig, um sie an einem bestimmten Platz auf einem jüdischen Friedhof zu begraben. Die bisherigen Funde alter Genizot und deren jahrhundertealte Inhalte lassen jedoch darauf schließen, dass die Vorschrift zum Schützen und Bewahren von heiligen Texten in früheren Zeiten sehr wörtlich aufgefasst und befolgt wurde. Für die Wissenschaft ist dieses Vorgehen natürlich vorteilhaft, da auf diese Weise mehr Texte erhalten bleiben, die unter historischen Geschichtspunkten untersucht und ausgewertet werden können. Das Nichtbegraben stellt, religiös betrachtet, keinen Verstoß gegen die Vorschrift dar, denn der Sinn und Zweck hinter dem Ablegen, nämlich die Bewahrung und der Schutz der Texte, wurde durch das bloße Ablegen bereits erfüllt und konnte über einen sehr langen Zeitraum gewährleistet werden. Warum Schriftstücke in den vergangenen Jahrhunderten seltener begraben wurden als heute und dadurch länger in einer Geniza verweilten, lässt sich möglicherweise schlichtweg mit dem beschränkten Platz in einer Geniza erklären. Seit der Erfindung des Buchdrucks ist die Menge der zu entsorgenden Schriftstücke über die Jahrhunderte bis heute stark gestiegen und zahlreiche abgelegte Texte (seien es gedruckte Bücher oder Computerausdrucke bzw. Kopien) erfordern bereits aus pragmatischen Gründen eine regelmäßige Leerung, besonders wenn es sich um Geniza mit beschränktem Platz handelt (z.B. die Geniza in Köln, vgl. Abb. 1).
USA
Da sich die jüdischen Gemeindehäuser in den USA häufig in modernen Bauten befinden, gibt es nur sehr selten Synagogen mit einer Geniza im ursprünglichen Sinne, nämlich einem separaten Raum innerhalb der Synagoge, speziell zur Aufbewahrung veralteter heiliger Texte. Stattdessen wird heutzutage oft ein Kasten oder eine Kommode bereit gestellt, in welche die Gemeindemitglieder ihre alten Gebetbücher oder andere Schriften sowie abgenutzte rituelle Kleidungsstücke (z.B. Kippot, die Kopfbedeckung jüdischer Männer) und rituelle Gegenstände ablegen können.
Alle paar Jahre werden die Genizot geleert und ihr Inhalt auf dem lokalen jüdischen Friedhof an einer dafür vorgesehenen (und manchmal mit einem entsprechenden Grabstein ausgezeichneten, vgl. Bildergalerie, Abb. 6 u. 8) Stelle begraben. Wenn eine Torahrolle begraben wird, so gilt es als ein Zeichen des Respekts, wenn sie in der Nähe eines großen Gelehrten beigesetzt wird. Dies beruht auf dem antiken Brauch, einen Toten zu ehren, indem man heilige Texte mit ihm begräbt. Die Texte werden hierzu in einen Stoff gewickelt (z.B. Baumwolle) und darin beerdigt. Bisweilen finden größere Geniza-Beerdigungen statt, welche aufgrund ihrer seltenen Erscheinung in den Fokus der Medien gelangen.
Da es in Amerika viele verschiedene Glaubensrichtungen im Judentum gibt, wäre eine pauschale Aussage für die generelle Handhabung mit Genizot an dieser Stelle unzureichend. Stattdessen soll betont werden, dass das Befolgen dieser Vorschrift an sich bereits ein Bindeglied innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Amerika darstellt. Eine an dieser Stelle besonders erwähnenswerte Einrichtung befindet sich in Monroe, nur 45 Meilen von New York City entfernt: dort wurde nämlich eine eigene Geniza-Begräbnis-Stelle, die Beth Genizah Home, begründet, welche das ganze Jahr über Material für das korrekte Begräbnis von Schriften entgegen nimmt. Beth Genizah Home wird unter rabbinischer Aufsicht geführt und befindet sich in unmittelbarer Friedhofsnähe, so dass ein Begräbnis der geschickten oder vorbei gebrachten heiligen Altschriften zeitnah erfolgen kann.
Links zu den oben erwähnten Orten sowie Zeitungsartikeln:
Pressemitteilung zu größeren Geniza-Begräbnissen sowie den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten innerhalb der Gemeinden:
Artikel in The Jerusalem Post - "Iraqi Jews bury sacred texts in NYC cemetery"
Artikel in Tablet - "God's Garbage in New Jersey"
Homepage und Selbstdarstellung - Beth Genizah Home
Israel
In Israel sind auf der einen Seite die Gemeinden für das adäquate Sammeln und Ablegen von veralteten heiligen Texten verantwortlich. Auf der anderen Seite unterscheidet sich Israel von anderen Ländern mit jüdischer Bevölkerung dadurch, dass dem hohen Bedarf an Genizot durch öffentlich zugängliche Container (dem Altpapier-Container in Deutschland nicht unähnlich) Rechnung getragen wird. Meistens finden sich auf den Container explizite Informationen darüber, welche Textarten hier abgelegt werden können (vgl. Abb. 2). Diese Container werden regelmäßig geleert und ermöglichen somit eine unaufwendige, aber religiös korrekte Entsorgung der ausgedienten Texte (vgl. Container-Beispiele in der Bildergalerie, Abb. 3, 4 und 9). Es gibt unterschiedliche Genizot-Container, manche sind ausschließlich für Texte, manche speziell für rituelle Gegenstände, z.B. Gebetsriemen (vgl. Abb. 5). Diese pragmatische Institutionalisierung einer religiösen Vorschrift beruht darauf, dass Israel als jüdischer Staat gewährleisten muss, dass ihr Befolgen von allen Bürgern jederzeit möglich ist.
Deutschland
In Deutschland hängt die Form und Nutz-Frequenz einer Geniza zum einen von der Größe der Gemeinde und zum anderen von der praktischen Umsetzbarkeit der religiösen Vorschriften ab. In großen und alten Gemeinden (wie Berlin, Frankfurt, Hamburg, Köln, München) existiert bis heute eine Geniza, auch wenn diese innerhalb der Städte bisweilen unterschiedlich sein kann. Üblicherweise werden die alten Bücher oder Texte entweder direkt in die Synagoge gebracht und dort in einem dafür vorgesehenen Behälter abgelegt (Köln) oder der Rabbiner kümmert sich um die ordnungsgemäße Einhaltung der Vorschrift und bringt die Geniza sogar nach Israel (Hamburg). In anderen Städten obliegt die Verwaltung der Genizot dem Friedhofsverwalter, der sich um das Begräbnis kümmert (Frankfurt). Andere Gemeinden wiederum überlassen die korrekte Entsorgung heiliger Schriften dem privaten Ermessen des jeweiligen Gemeindemitglieds. In nahezu allen Gemeinden, die sich in einer Stadt mit jüdischem Friedhof befinden, existiert eine entsprechende Stelle oder Ecke auf dem Friedhof, die (ursprünglich oder bis heute) für das Beerdigen von Geniza-Texten gedacht ist. Durch Umstrukturierungen innerhalb der Gemeinden (etwa, wenn der Rabbiner verstirbt und es noch keinen Nachfolger gibt, wie z.B. aktuell in Darmstadt) kann eine konkrete Regelung hinsichtlich einer Geniza vorübergehend ungeklärt bleiben, jedoch besteht für die jeweiligen Gemeindemitglieder in benachbarten Gemeinden die Möglichkeit, sich ihrer Schriftstücke zu entledigen. Manche bevorzugen es jedoch, die zu entsorgenden Bücher und Texte auf ihren Reisen nach Israel mitzunehmen, um sie dort in die oben erwähnten Geniza-Container abzulegen.
Frankfurt
In Frankfurt, wo es verschiedene jüdische Gemeinden gibt, erfolgt die Verwaltung der Genizot hauptsächlich direkt über die Friedhofsverwaltung. In der größten Synagoge Frankfurts, der Westend-Synagoge, existiert, laut dem Friedhofsverwalter Majer Szanckower, kein separates Zimmer in der Synagoge als Geniza. Eventuell gab es einst ein solches, doch wenn es noch existiere, so würde es definitiv nicht mehr benutzt werden. Stattdessen werden alte Schriften einfach direkt zum Friedhof gebracht, wo sie dann bis zur nächsten Beerdigung gelagert werden. Herr Szanckower, der sein Amt seit vierzehn Jahren ausübt, erzählt, dass das typische Geniza-Material alte Siddurim (Gebetbücher) sind. Vereinzelt kommen aber auch rituelle Gegenstände wie Kippot, Tefilin (Gebetsriemen), Torawimpel oder Gebetsmäntel vor. Manchmal stammen die Materialien aus einem Nachlass, manchmal direkt aus der Synagoge als Sammelabgabe. Obwohl es zum Großteil Privatpersonen sind, die ihre alten Sachen zum Friedhof bringen, werden, so Herr Szanckower, manchmal auch Materialien aus kulturellen Institutionen, z.B. dem Jüdischen Museum in Frankfurt, vorbei gebracht. Die übliche Vorgehensweise in Frankfurt ist es, bei der nächsten Bestattung das Grab tiefer zu legen, um dann die Geniza mit dem Verstorbenen gemeinsam zu beerdigen.
Köln
In Köln, einer der ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands, wird die Vorschrift, religiöse Texte vorschriftsmäßig zu begraben, bis heute ebenfalls vor Ort befolgt. Eine Geniza als solche existiert zum Beispiel in der kleinen Wochentags-Synagoge (vgl. Abb. 1). Der Behälter wird nach Bedarf geleert und zum Begraben auf den jüdischen Friedhof gebracht. Es gibt jedoch auch die Option, dass die Gemeindemitglieder ihre Geniza selbst direkt zum Friedhof bringen. Der Friedhofsverwalter Daniel Lemberg nimmt die Materialien dann entgegen. Teilweise wird der Papier-Bestand zusammen mit weiteren rituellen Gegenständen bei Beisetzungen mitbeerdigt. Größere Mengen werden nach Bedarf auch separat an einer speziellen Stelle auf dem Friedhof beerdigt.
Hamburg
In der Jüdischen Gemeinde Hamburg wurden unbrauchbar gewordene heilige Schriften bis ins 20. Jh. auf dem Dachboden der Synagoge aufbewahrt. Ein Protokoll des damaligen Oberrabbiners Joseph Carlebach aus dem Jahre 1936 belegt, dass Geniza-Bestattungen öffentlich vollzogen wurden. Unter reger Anteilnahme der Gemeindemitglieder wurden die alten Schriften (in diesem Fall zerschlissene Torahrollen) in Tonröhren luftdicht verschlossen und begraben. Das Begräbnis wurde mit dem Zitieren einiger Pslam-Verse abgeschlossen (vgl. Protokoll in der Bildergalerie, Abb. 7). Auf dem Friedhof Hamburg-Altona markiert ein Grabstein (vgl. Abb. 6) die Stelle, an der Material aus der Geniza begraben wurde. Torahrollen erfahren dabei eine spezielle Form des rituellen Begräbnisses: sie werden nicht zusammen mit den Siddurim oder anderen Schriften in Holzkästen, sondern in Tongefäßen beerdigt.
Der jetzige Landesrabbiner der jüdischen Gemeinde Hamburg, Shlomo Bistritzky, hat bei seinem Amtsantritt jedoch festgestellt, dass der Brauch, eine Geniza anzulegen, mit den Jahren zurück gegangen ist. Dies liege unter anderem daran, dass ein Brand den Dachboden der ursprünglichen Synagoge zerstört hat und dieser daher als Ablage für Schriften nicht mehr als geeignet befunden wird. Rabbiner Bistritzky ist allerdings bestrebt, wieder eine eigene Geniza anzulegen, um der orthodoxen Gemeinde die Möglichkeit zu bieten, heilige Texte nach der Vorschrift im Talmud zu bewahren. In der Zwischenzeit nimmt er alte heilige Schriften bisweilen selbst mit nach Israel, wenn er dorthin reist, und lässt sie dort vorschriftsgemäß begraben.
Bildergalerie zu "Geniza heute"
Literatur
- Talmud Bavli, Massekhet Shabbat, Bd. 2, hrsg. von Adin Steinsaltz, Jerusalem 1969.
- Soncino Babylonian Talmud, Translated into English with notes, glossary and indices, hrsg. von Isidore Epstein, 35 Bde., London 1935–1952 [Nachdruck in 18 Bänden London 1961].
- Beit-Arié, Malachit, „Genizot. Depositories of Consumed Books as Disposing Procedure in Jewish Society“, in: Scriptorium 50,2 (1996), S. 407-414.
- Bistritzky, Shlomo (2014): Geniza in der Jüdischen Gemeinde Hamburg heute. Gesprächsnotiz basierend auf einem Telefonat, geführt von Tatjana Meisler. Frankfurt, 20. Mai 2014.
- Edelmann, Martina, „Geschichte(n) vom Dachboden. Genisa-Funde aus fränkischen Synagogen“, in: Weiss, Carina/ Simon, Erika (Hrsg.), Folia in memoriam Ruth Lindner collecta, Dettelbach 2010, S. 199-208.
- Habermann, Abraham Meir, "Genizah", in: Encyclopaedia Judaica, ed. Michael Berenbaum and Fred Skolnik, 2nd ed., Vol. 7, Detroit: Macmillan Reference USA, 2007, pp. 460.
- Hüttenmeister, Frowald G., „Die Genisot als Geschichtsquelle“, in: Richarz, Monika/ Rürup, Reinhard (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande, Tübingen 1997, S. 207-218.
- Lemberg, Daniel (2014): Geniza in der Jüdischen Gemeinde Köln heute. Interview basierend auf E-Mail-Korrespondenz, geführt von Tatjana Meisler. Frankfurt, 13. Mai 2014.
- Moshe ben Maimon, Mishne Torah, Vol. 2, o.O. 1953. (Quelle: http://www.hebrewbooks.org/9714)
- Szanckower, Majer (2014): Geniza in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt heute. Gesprächsnotiz basierend auf einem Telefonat, geführt von Tatjana Meisler. Frankfurt, 08. Mai 2014.
Tatjana Meisler, Geniza heute, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 07.07.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/geniza/meisler.