Genizot als Geschichtsquelle

Fragmentstücke

Informationen zur Veranstaltung

Leitung: Prof. Dr. Rebekka Voß / Rebecca Sebbagh M.A.
Veranstaltungsart: Übung
Semester: WiSe 2013/14
Fachbereich / Institut: Sprach- und Kulturwissenschaften (FB 09), Institut für Judaistik

Jüdische Kultur & Geschichte in Frankfurt – Judaistik an der GU

Jüdische Geschichte und Kultur hat in der Stadt Frankfurt eine lange Tradition. Seit dem Mittelalter war die Frankfurter jüdische Gemeinde eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden im deutschen Sprach- und Kulturraum; heute ist sie nach Berlin, München und Düsseldorf wieder die viertgrößte jüdische Gemeinde in der Bundesrepublik. Wichtige kulturelle Institutionen in Frankfurt, wie etwa die Goethe-Universität, gehen auf jüdische Stiftungen zurück. 

Jüdische Geschichte, Religion und Kultur sowie jüdische Sprachen und Literatur kann man an der Goethe-Universität am Seminar für Judaistik seit 1969 studieren, als hier der dritte Lehrstuhl für Judaistik an einer deutschen Universität etabliert wurde. Einen Einblick in verschiedene Facetten jüdischer Kultur und Religion bietet die praxisorientierte Lehrveranstaltung zu „Genizot als Geschichtsquelle“.

Fragmentstücke

Worum geht es?

Das Projektseminar führt in die Quellengattung der Geniza-Fragmente ein. Dies sind unbrauchbar gewordene jüdische Schriften, die nach religiöser Vorschrift nicht vernichtet werden dürfen, wenn sie den Gottesnamen enthalten, und daher in einem speziellen Lager (hebräisch geniza) abgelegt werden. In diesen Genizot, die in vielen Synagogen bis heute existieren - so auch in Frankfurt - haben auf diesem Wege liturgische und andere religiöse, aber auch profane Texte, wie Märchen und historische Darstellungen, private Dokumente sowie Kultgegenstände und Textilien, wie etwa Gebetsriemen, Torawimpel und Gebetsmäntel, überlebt. Warum nicht wenige Fragmente den Gottesnamen gar nicht enthalten, ist nur zu vermuten. Ein Bezug zu Religion und Ritus im weitesten Sinne oder allein die Tatsache, dass ein Text in den Buchstaben der heiligen Sprache, Hebräisch geschrieben war, mögen ausschlaggebend für die Ablage gewesen sein. Wahrscheinlich brachte man außerdem eher zu viel als zu wenig in die Geniza, um nicht versehentlich den Namen Gottes zu verunglimpfen.

Die Fragmente datieren aus dem 15. bis 20. Jahrhundert. Genizafunde sind in den letzten Jahren vor allem im süddeutschen Raum in ehemaligen Synagogengebäuden auf dem Land geborgen worden und stellen eine wichtige Quelle für die Geschichte und Kultur des ländlichen Judentums dar. Trotz ihrer Bedeutsamkeit wird diese Quellengattung immer noch weitgehend vernachlässigt und zahlreiche Genizafunde sind bislang (nicht zuletzt aufgrund fehlender Finanzierung) unbearbeitet geblieben.

Fragmentstücke

Was machen wir und warum?

Neben einer theoretischen Einführung bildet die praktische Forschungsarbeit mit Geniza-Fragmenten den Schwerpunkt der Übung. Die Studierenden bearbeiten Originale aus zwei Genizot: der Geniza Altenschönbach, die im Jüdischen Kulturmuseum Veitshöchheim lagert, sowie der jüngst auf einer Exkursion von Frankfurter Judaistikstudierenden entdeckten Geniza der Gießener Wohra-Synagoge. Die inzwischen abgetragene und nach Gießen translozierte Synagoge der Gemeinde Wohra befand sich ehemals auf der Biegenstraße im heutigen Ortsteil Wohra der Gemeinde Wohratal, Kreis Marburg-Biedenkopf. Die Geniza ist Eigentum der Jüdischen Gemeinde Gießen und wird zur Zeit als freundliche Leihgabe im Seminar für Judaistik der Goethe-Universtät Frankfurt am Main aufbewahrt. Bei den Fragmenten handelt es sich um Texte in hebräischer, jiddischer und deutscher Sprache unterschiedlicher Gattungen - von Gebetsliteratur über Briefe, Zeitungen und Kalender bis zu handschriftlichen Schreibübungen und Strafarbeiten von Schülern.

Gruppenbild vom Workshop

Während Genizot aufgrund ihrer großen Fülle unterschiedlicher Materialien einen einzigartigen Einblick in jüdische Kultur-, Religion- und Alltagsgeschichte erlauben, bietet die Übung mit Forschungscharakter gleichzeitig die im universitären Lehrbetrieb eher seltene Gelegenheit, das Handwerkszeug wissenschaftlichen Arbeitens anhand konkreter archivarischer Quellen selbst anzuwenden und so praktisch zu vertiefen.

Während Hausarbeiten die Anwendung der Techniken wissenschaftlichen Arbeitens überwiegend am edierten Text einüben, führt die Arbeit an Genizafragmenten in die Archivarbeit ein und vermittelt die Faszination und Herausforderung, die die „Feldarbeit“ an der unbekannten und unbearbeiteten Quelle für den Wissenschaftler darstellt. Zudem bietet die Übung den Studierenden bereits im Studium einen praktischen und konkreten Einblick in mögliche Berufsfelder für Judaisten (und kann damit auch als Einstieg in das zu absolvierende Pflichtpraktikum im BA dienen).

Geniza-Workshop

Am 26.-27. November 2013 fand ein zweitägiger Praxis-Workshop im Jüdischen Kulturmuseum Veitshöchheim (bei Würzburg) statt, das die Geniza-Arbeitsstelle Veitshöchheim beheimatet. Die Veitshöchheimer Geniza ist die umfangreichste ihrer Art, die bislang im deutschsprachigen Raum entdeckt wurde, und entsprechend die am besten dokumentierte... [Weiterlesen]

Gruppenbild der Exkursion

Studentische Arbeiten: Fragmente und Themen

Die Studierenden haben im Verlauf des Semesters selbständig ausgewählte Beispiele von Genizafragmenten aus Wohra und Altenschönbach bearbeitet. Dabei handelt es sich ausschließlich um unbearbeitete und unpublizierte Texte, die die Studierenden sachkundig identifiziert sowie judaistisch und historisch-kulturwissenschaftlich eingeordnet haben.

Zusätzlich haben sich zwei Studentinnen mit grundlegenden Themen der Genizaforschung auseinandergesetzt:

Ausgewählte Ergebnisse wurden zudem als Poster auf dem Studienkongress UNIversal am 15. Juli 2014 präsentiert.

Fragmente (Foto: Sebbagh)

Genizafunde in Deutschland
von Anett Gottschalk

In der heutigen Zeit werden immer häufiger Genizot geborgen. Es wird bei Restaurierungen genauer darauf geachtet, dass nicht versehentlich etwas vernichtet wird. Auf diese Weise entstand ein großer Fundkomplex, dem im Moment noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet werden kann. Wo sind in Deutschland Genizot gefunden worden und welche Bedeutung haben diese Funde? [Weiterlesen]

Fragmente (Foto: Sebbagh)

Geniza heute
von Tatjana Meisler

Seit Jahrhunderten werden in jüdischen Gemeinden Schriften, welche den Gottesnamen enthalten (können) und deshalb nach religiöser Vorschrift nicht vernichtet werden dürfen, in einem speziell dafür vorgesehenen Ort, einer sogenannten Geniza (dt. Lager, Versteck) gesammelt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Das religiöse Gebot sieht vor, dass die Schriftstücke aufbewahrt werden. Heute gibt es unterschiedliche Formen von Genizot: während ältere Synagogen häufig immer noch über eine separate Kammer verfügen, benutzen moderne Gebetshäuser eine Truhe oder eine andere Art der Ablage als Geniza, welche alle paar Jahre geleert und deren Inhalt anschließend am örtlichen jüdischen Friedhof begraben wird. In Israel finden sich zahlreiche öffentliche Genizot in Form von entsprechend ausgezeichneten Containern, welche eine vorschriftsmäßige Entsorgung von veralteten oder unbrauchbar gewordenen religiösen Schriften und rituellen Gegenständen ermöglichen. Dieser Beitrag erläutert das religiöse Gebot einer Geniza und veranschaulicht an verschiedenen Beispielen seine Umsetzung in unserer heutigen Zeit, insbesondere in Deutschland. [Weiterlesen]

Fragmente (Foto: Sebbagh)

Geniza-Fragmente

Die Studierenden haben im Verlauf des Semesters selbständig ausgewählte Beispiele von Genizafragmenten aus Wohra und Altenschönbach bearbeitet. Dabei handelt es sich ausschließlich um unbearbeitete und unpublizierte Texte, die die Studierenden sachkundig identifiziert sowie judaistisch und historisch-kulturwissenschaftlich eingeordnet haben:

Gebetsliteratur

Musar

Bucheinband

Kalender

Handschriften

Briefe

Deutsche Zeitung


Einführende Literatur

  • Beit-Arié, Malachi, „Genizot. Depositories of Consumed Books as Disposing Procedure in Jewish Society“, in: Scriptorium 50,2 (1996), S. 407-414.
  • Edelmann, Martina, „Geschichte(n) vom Dachboden. Genisa-Funde aus fränkischen Synagogen“, in: Weiss, Carina/ Simon, Erika (Hrsg.), Folia in memoriam Ruth Lindner collecta, Dettelbach 2010, S. 199-208.
  • Hüttenmeister, Frowald G., „Die Genisot als Geschichtsquelle“, in: Richarz, Monika/ Rürup, Reinhard (Hrsg.): Jüdisches Leben auf dem Lande, Tübingen 1997, S. 207-218.
  • Singer, Elisabeth/ Weinhold, Beate, „Die Genisa von Bayreuth: Entdeckung und Bergung“, in: Mayer, Bernd/ Piontek, Frank (Hrsg.), Jüdisches Bayreuth, Bayreuth 2010, S. 43-56.
  • Singer, Elisabeth, „Sulzbacher Drucke in süddeutschen Genisafunden“, in: Hartmann, Johannes (Hrsg.), Ehemalige Synagoge Sulzbach. Festschrift zur Eröffnung am 31. Januar 2013, Sulzbach/ Rosenberg 2013, S. 193-201.
  • Timm, Erika, Yiddish Literature in a Franconian Genizah, Jerusalem 1988.
  • Weber, Anette/ Friedlander, Evelyn, Mappot – gesegnet, der da kommt. Das Band jüdischer Tradition. Ausstellungskatalog, Osnabrück 1997.
  • Wiesemann, Falk (Hrsg.), Genisa. Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden. Ausstellungskatalog, München 1992.
  • Ders. (Hrsg.): Zeugnisse jüdischen Lebens in Niederzissen. Genisa-Funde in der ehemaligen Synagoge, Niederzissen 2012.
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Alle Fotos: Rebecca Sebbagh (Seminar für Judaistik)