„Aus Soldaten denkende Menschen machen“. Die Lageruniversität im amerikanischen Kriegsgefangenenlager „Camp Como“

von Mareike Luft

 

Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg ist ein Massenphänomen. Rund 35 Millionen Menschen gerieten im „totalen Krieg“ weltweit in Kriegsgefangenschaft, darunter rund 11 Millionen Deutsche. Über mehrere Jahre hinweg verbrachten viele die Zeit fernab ihrer Familie und oft auch in einem anderen Land. Sie waren gefangen in Unsicherheit über die Zukunft und konnten nur abwarten. Aus diesem Grund gelten die Gefangenenjahre auch als verlorene Lebenszeit.[1] Doch war das wirklich der Fall?

Einer dieser Kriegsgefangenen war der Juraprofessor und spätere Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Walter Hallstein.[2] Er geriet 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde im US-Gefangenenlager „Camp Como“ im Bundesstaat Mississippi interniert. Während seines einjährigen Lageraufenthalts engagierte er sich im besonderen Maße für den Aufbau eines universitären Betriebs. Unter seiner Leitung entstand die sogenannte Lageruniversität.

Die vorliegende Arbeit fragt nach Hallsteins Intention beim Aufbau der Lageruniversität und nach deren Besonderheiten. Außerdem wird Hallsteins Funktion als Mittler zwischen dem vergangenen Kriegsgeschehen und dem zukünftigen Neubeginn in einer freiheitlichen und friedlichen Welt diskutiert. Hierbei stehen folgende Aspekte im Mittelpunkt: Welche Ziele verfolgte Hallstein mit der Lagerfakultät? Welche Schwierigkeiten gab es beim Aufbau des Lehrbetriebs?

In der Forschung haben Lageruniversitäten insgesamt nur wenig Beachtung gefunden, nicht zuletzt aufgrund des geringen Quellenbestands. Vor diesem Hintergrund kommt den Unterlagen Hallsteins besonderes Gewicht zu. In seinem Nachlass im Bundesarchiv Koblenz sind vor allem die Eröffnungsrede in „Como“[3], Hallsteins eigene Beschreibungen in seinem Lebenslauf[4] sowie der Zustandsbericht des Lagers von Hans-Wolfgang Bucherer[5], der ebenfalls Kriegsgefangener in „Como“ war, von Bedeutung. Aber auch Hallsteins Engagement nach seiner Heimkehr und vor allem als erster, frei gewählter Rektor der Goethe Universität Frankfurt nach dem Krieg, ist nicht zu vernachlässigen. Beispielsweise setzte er sich für die Anrechnung der Studienleistungen im Rechtsstudium in Kriegsgefangenenlagern ein.[6]

Wie viele Lageruniversitäten insgesamt existierten und wie diese genau aussahen, ist unbekannt. Auffällig ist, dass sich die Forschung erst in den 1970er Jahren und damit ziemlich spät mit dem Thema beschäftigt hat. Den Anfang machte Hermann Jung mit der Monographie „Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand“[7], die das Thema Bildung in Kriegsgefangenschaft anspricht. Erst ab den 1990er Jahren beziehungsweise Mitte der 2000er folgen weitere Werke, beispielsweise von Matthias Schönwald[8] oder Laura Hannemann[9]. Ein Grund für die späte Auseinandersetzung kann in der gesellschaftlichen Empfindung der Nutzlosigkeit dieser Jahre gesehen werden.

 

Die Lageruniversität

Um dem monotonen Lageralltag und einem drohenden Lagerkoller entgegenzuwirken, organisierten Kriegsgefangene in den Lagern recht bald Kurse, Lehrgänge und Lagerschulen.[10] In manchen Lagern, wie beispielsweise in den USA im „Camp Como“ oder auch in Deutschland im „Camp Oflag XVII A Edelbach“[11], wurden zudem Lageruniversitäten aufgebaut.[12] Insgesamt gab es rund 104 Lageruniversitäten für deutsche Kriegsgefangene, die meisten in den USA und in Großbritannien.[13] Diese entstanden vor allem in Offizierslagern, denn für Offiziere bestand nach der Haager Landkriegsordnung[14] keine Arbeitspflicht, sodass sie mehr Zeit und auch die Kraft zum Lehren und Lernen hatten. Außerdem befand sich unter ihnen eine relativ große Anzahl an akademisch qualifizierten Gefangenen, die als potentielle Lehrkräfte agieren konnten. In der Sowjetunion, die die allgemeinen Kriegsgefangenen-Konventionen oftmals außer Acht ließ, waren solche Bildungseinrichtungen in Kriegsgefangenenlagern eine Seltenheit und größtenteils undenkbar.

Den Lehrbetrieb innerhalb der Lager machte das in den Genfer Konventionen[15] festgeschriebene Prinzip der Gegenseitigkeit überhaupt möglich. Der darin enthaltene Artikel 17 legte fest, dass „Die Kriegsführenden […] die von den Kriegsgefangenen eingerichteten geistigen und sportlichen Zerstreuungen möglichst unterstützen [sollen].“ Daneben lässt sich das Interesse, die Insassen „ruhig“ zu halten, als ein weiterer Grund der Unterstützung von Seiten der Gewahrsamsmächte anführen.[16] Rund 20.000 bis 30.000 Lagerstudenten nahmen weltweit solche Angebote wahr. Die Auswahl der Fächer und somit die Entscheidung, was man studieren konnte, war allerdings auf die Experten innerhalb des Lagers begrenzt. Papier- und Lehrmaterialmangel schränkten den universitären Betrieb zusätzlich ein. Nur wenige Lager hatten die Gelegenheit, auf eine Bibliothek zugreifen zu können oder Lehrmaterial von Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz zu erhalten. Auch die Beschaffenheit der Räumlichkeiten stellte eine besondere Situation dar. Meist fand der Unterricht in Baracken oder manchmal auch in multifunktionell verwendeten Waschküchen statt, in denen das Wasser von den über den Studenten aufgehängten Kleidern heruntertropfte.[17]

 

 

„Aus Soldaten Studenten machen“

Als einer von fast 400.000 deutschen Kriegsgefangenen, die in die Vereinigten Staaten gebracht wurden, engagierte sich Walter Hallstein mit dem Aufbau der Lagerfakultät dafür, das nationalsozialistische Denken hin zur  Demokratie zu verändern.

In dem zu Beginn als „ausgesprochenes Nazi-Lager“[18] geltenden Camp Como im Bundesstaat Mississippi nahm der Rechtsprofessor die Möglichkeiten der Benutzung einer Lagerbibliothek und der damit verbundenen geistigen Förderung in Anspruch.[19] Er machte sich mit dem amerikanischen Rechtssystem vertraut[20] und nahm seine Tätigkeit als Hochschullehrer, in einer von ihm aufgebauten „Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Lagerfakultät“ im „Camp Como“ wieder auf. Die Amerikaner genehmigten diesen Lehrbetrieb, den Hallstein zwei Semester und zwei Zwischensemester lang leitete und bei dem er auch selbst bis zum Sommer 1945 Einführungsvorlesungen hielt. Dabei gehörten die Themen „Einführung in das Privatrecht“, „Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts“ und in englischer Sprache „Outlines of Anglo-American Private Law“, Anti-Trust-Law“, „American Law“ und mehrere rechtsvergleichende Seminare, sowie eine juristische Arbeitsgemeinschaft zum Lehrplan.[21] Aus einer Aufzeichnung Hallsteins aus dem zweiten Zwischensemester vom 2. Juli bis zum 22. September 1945 geht hervor, dass in diesem Semester rund vierzehn Kurse für  die Lagerstudenten angeboten wurden. Diese fanden verteilt über die ganze Woche, außer sonntags, entweder morgens oder spät abends ab 20:45 Uhr bis teilweise 23:00 Uhr, statt. Hallstein gab in diesem Zwischensemester die meisten Kurse, insgesamt drei der vierzehn Seminare wurden von ihm angeboten.[22] Von den insgesamt 1000 Insassen in „Como“ besuchten rund 400 Offiziere die Kurse der Lageruniversität in Unterrichtsbaracken.[23]

Schwierigkeiten gab es insbesondere bei der Beschaffung von Lehrmaterialien. In der kleinen Lagerbibliothek ließen sich nicht ausreichend Bücher finden, die für die juristischen Vorlesungen und Seminare benötigt wurden. Nicht einmal ein Exemplar des Bürgerlichen Gesetzbuchs war vorhanden.[24] Abhilfe schuf die University of Chicago Law School.[25] Mit Max Rheinstein und Friedrich Kessel, die Hallstein aus der Zeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 1927 in Berlin kannte, traf er auf alte Bekannte an der Universität Chicago, die ihn mit einer juristischen Fachbibliothek ausstatteten.[26] Weiterhin erschwerten die Lücken in der Allgemeinbildung und die kaum vorhandene Übung im Diskutieren einen universitären Arbeitsalltag.[27] Man musste sich in vielen Dingen auf eine ganz neue Herausforderung vorbereiten und Probleme, die aus den kriegs- und nationalideologisch geprägten Ereignissen entstanden waren, überwinden. Dies wird beispielsweise anhand der Aussagen des Insassen Hans-Wolfgang Bucherers, eines Gegners des Nationalsozialismus, in „Como“ deutlich: „bedrückt und geistig unfrei“[28] nennt er das Leben im Camp. „Wir sind nicht Gefangene der Amerikaner, sondern der eigenen Landsleute“,[29] schreibt Bucherer. Diese Aussage resultiert zudem daraus, dass das Lager zwar unter der Oberleitung einer amerikanischen Lagerkommandantur stand, das Camp selbst jedoch weitgehend unter deutscher Selbstverwaltung stand, die noch während des Krieges nationalsozialistisch dominiert war. Auch Hallstein berichtet in ähnlicher Weise über seine Anfänge in „Como“: „Ich selbst wurde, […] von meinem Kompanieführer veranlaßt, mich mit meinen gleichgesinnten Kameraden eine Zeitlang nachts in meinem Schlafraum zu verbarrikadieren.“[30] Das alles ermöglichte in den Anfängen zunächst nur einen mehr schulischen als wissenschaftlich orientierten Universitätsbetrieb.[31]

In seiner Rede zur Eröffnung der Lagerfakultät im „Camp Como“ am 15. Oktober 1944, sprach Hallstein über „die soziale und politische Verantwortung der deutschen Hochschulen“.[32] Darin bezeichnete er es als die Aufgabe, „den Bann des politischen Dogmas zu brechen“ und „aus Soldaten, […], Studenten und, wenn möglich, denkende Menschen zu machen.“[33] Er zeigt die Schwierigkeiten auf und nennt Probleme neuer Art, darunter überwiegend psychologische. Es gelte durch Aufklärung, die Prägung durch die NS-Ideologie und die hieraus erwachsenen Vorurteile zu beseitigen. Das Ziel der deutschen Universitäten, eine „Erziehung zur Wahrheitsliebe“[34], könne nur durch die „freie, auf Gründe gestützte und in freiem Meinungsaustausch immer wieder geprüfte und bewährte Ueberzeugung“[35] erreicht werden. Fertig präsentierte Wahrheiten müssten daher abgelehnt werden, denn das „Gesetz der Wissenschaft ist das Gesetz der Wahrheit“[36]  und die Wahrheit sei autoritativen Weisheiten nicht zugänglich. Vielmehr habe die Erkenntnis aus Gründen Priorität. Der Zweck der Wissenschaft liege in dieser selbst. Hallstein forderte weiterhin eine uneingeschränkte Hingabe an die Sache, kompromisslose Wahrheitsliebe, harte und klare Sachlichkeit, Mut auch unangenehme Erkenntnisse anzuerkennen, Freude an der Auseinandersetzung und die Achtung der Meinung anderer als Voraussetzung eines universitären Betriebs.[37]

Zum Abschluss der Eröffnungsrede verweist Hallstein außerdem in zweierlei Hinsicht auf die Verantwortung der deutschen Hochschulen: Die soziale Verantwortung bestehe darin, dass jeder unabhängig von Geburt, Rasse oder sozialer Herkunft zum Studium zugelassen werden müsste, solange er die geistige Eignung dafür besitze. Zum anderen gäbe es die politische Verantwortung, mit der die Universität in ihrer Wissenschaftlichkeit gleichzeitig auch zu Toleranz erziehe. Denn „alle Tugenden, die die wissenschaftliche Haltung ausmachen, sind zugleich auch politische Tugenden.“[38]

Mit diesem Plädoyer für Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen setzte Hallstein ein deutliches Zeichen gegen den Nationalsozialismus und für einen Neubeginn. Im Oktober 1944 und damit ein halbes Jahr vor Kriegsende, erkannte er bereits die Notwendigkeit, an ein Leben nach dem Krieg und nach dem Nationalsozialismus zu denken. Dass er sich mit diesen Aussagen im mehrheitlich nationalsozialistisch geprägten Lager in Lebensgefahr brachte, nahm er dabei in Kauf.

 

 

Die Lageruniversität als Transitort mit Hilfe zur Selbsthilfe

„Die klösterliche Abtrennung von allen ablenkenden Einflüssen, das Fehlen eines Zwangs zu körperlicher Arbeit bei guter Ernährung, das dadurch gesteigerte Bedürfnis nach geistiger Betätigung, ein bemerkenswerter Reichtum an kulturellen Veranstaltungen überhaupt (Theater, Musik, sogar Ausstellungen von Werken bildender Kunst, die im Lager entstanden waren, Vorträge aus allen Wissensgebieten), gleichartige Lehrgänge oder Vorlesungen aus den Fachgebieten anderer Fakultäten (besonders Geschichte, Kunstgeschichte, Philologie, Geographie, Naturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, intensive Sprachlehrgänge) – all das schuf eine Aufnahmebereitschaft und eine Atmosphäre geistigen Lebens, die dem Studium günstig waren - gleichgültig übrigens, von welcher politischen Färbung die deutsche Lagerführung war.“[39]

Nach dem Kriegsende 1945 und der Repatriierung der Kriegsgefangenen nach Deutschland zeichnete Hallstein rückblickend ein sehr positives Bild der Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Für ihn herrschten an Orten abseits von Kriegsschauplätzen im Vergleich zu heimischen Universitäten gute Bedingungen für geistige und kulturelle Tätigkeiten. Die Motivation der Offiziere sich zu bilden und auf einen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland vorzubereiten war vorhanden und konnte unter einem anti-militärischen Ablauf vollzogen werden. Es entwickelten sich kameradschaftliche Verhältnisse und Arbeitsgemeinschaften unter den Studierenden, wobei jeder einem anderen half.[40] Diese Eindrücke Hallsteins stehen im Kontrast zu den negativen Erlebnissen im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Zwar war Hallstein durch die Amerikaner in gewisser Weise geschützt, doch im Camp musste er sich trotzdem nachts verbarrikadieren, um sich vor nationalsozialistischen Mitgefangenen zu schützen.[41]

Das neu vermittelte Wissen und die neuen Eindrücke zumal in einem anderen Land führten zu einer Erweiterung des Horizonts vieler Kriegsgefangenen.[42] Hierbei kann die Lageruniversität durchaus als eine Art Transitort gesehen werden, der zwischen den Kriegs- und Diktaturerfahrungen der Gefangenen und der bevorstehenden Rückkehr in die Heimat und dem damit verbundenen Neubeginn stand. In diesem Bereich der Ungewissheit, was passieren und wann man nach Hause zurückkehren und vor allem, wie die Zukunft aussehen würde, nahm Hallstein eine Schlüsselposition ein und versuchte, durch Bildung den Offizieren eine Perspektive zu geben. Hallstein stellte sich dabei in die Tradition des klassischen Bildungsbegriffs, der die Emanzipation aus der Fremdbestimmung mit den Begriffen Freiheit, Autonomie, Mündigkeit, Vernunft, Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit, beschreibt.[43] Die Kriegsgefangenen sollen sich dabei, nicht in historischer Rückwendung, sondern in der Orientierung auf Möglichkeiten und Aufgaben humanitären Fortschritts entwickeln.[44]

Ein wichtiger Bestandteil dieser Entwicklung von gehorchenden Soldaten hin zu selbständig denkenden Studenten war für Hallstein deshalb auch die Anerkennung der erbrachten Studienleistungen in den Kriegsgefangenenlagern.[45] Er erarbeitete einheitliche Richtlinien und Kriterien, nach denen in den westlichen Besatzungszonen dann auch vorgegangen wurde.[46] Da eine Verallgemeinerung aufgrund der unterschiedlichen Intensität und Qualität schwierig war, sollte bei der Anrechnung der Studienleistungen insbesondere auf die Qualität der Lehrer, den Vorlesungsplan, die Ordnung des Vorlesungsbetriebs, die Dauer des Semesters und die Stundenzahl der Vorlesungen, das Maß der verfügbaren Gesetzestexte und Literatur sowie das Maß der Kontrolle des Fleißes der Hörer, geachtet werden. Für die im „Camp Como“ erbrachten Leistungen empfahl Hallstein eine Anrechnung von zwei Semestern.[47] Auf diese Weise verhalf er vielen ehemaligen Lagerinsassen zu einem schnelleren Studienabschluss in der Nachkriegszeit und damit einem zügigeren Einstieg in den Beruf.

Hallstein erteilte damit Hilfe zur Selbsthilfe, die einen zentralen Aspekt seiner Intention bei der Eröffnung der Lageruniversität einnahm. Er wollte durch seine akademische Ausbildung auch anderen die Gelegenheit geben, sich in der Kriegsgefangenschaft weiterzubilden, um zukünftig selbstbestimmt agieren zu können. Dabei sollte die Lageruniversität eine Art neutraler Raum für die Insassen sein, in dem Herkunft und Vergangenheit keine Rolle spielten. Sie sollten sich stattdessen auf das hier und jetzt konzentrieren. Dank Hallstein konnten viele Kriegsgefangene leichter das Schicksal der Gefangenschaft ertragen und sich indessen auf ein späteres berufliches Fortkommen durch eine Grundbildung im Camp konzentrieren.[48] Neben dem inhaltlichen Gewinn ermöglichte die Lageruniversität vielen Studenten auch eine charakterliche Weiterentwicklung.

 

 

Fazit

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Funktionen der Lageruniversität und die Intentionen Hallsteins speziell im „Camp Como“ vielfältig waren, aber grundlegend in dem Punkt der Entwicklung eines Demokratieverständnisses über den Aspekt der Bildung und Wissensvermittlung zusammentrafen. „There is only one way to democraty: that is, through democracy“, so Hallstein.[49] Damit bestätigte er seine Grundüberzeugung der Gleichberechtigung, die er im Betrieb seiner eigens aufgebauten Lagerfakultät umzusetzen versuchte. Der Aufbau dieses Lehrbetriebs brachte viele Schwierigkeiten, unter anderem in der Lehrmaterialbeschaffung mit sich. Es wurde vielfach improvisiert. Hallsteins Ziel, die Offiziere zu emanzipierten Menschen unabhängig von Fremdbestimmung zu erziehen, stellte ihn vor die Aufgabe, die Kompetenz der Wissenschaft im Kampf gegen die Indoktrination durch die nationalistische Ideologie herauszustellen.[50] Hilfreich für das Erreichen dieses Zieles war auch, dass sich das Lager in den USA und damit in einem demokratischen Land befand. Die Gefangenen nahmen viele Eindrücke aus Amerika mit in ihr Heimatland, weshalb man sie als Träger eines Kulturtransfers betrachten kann, die zur „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ im Nachkriegsdeutschland beitrugen.[51] Das Bestreben der Amerikaner mit der Genehmigung der Lehrbetriebe war es, dass die Kriegsgefangenen Demokratie, Toleranz und Meinungspluralismus kennenlernen sollten. Damit sollten Sie nach ihrer Heimkehr „als eine Art demokratischer Sauerteig“[52] agieren und zum demokratischen Wiederaufbau Deutschlands beitragen.

Die Lageruniversität im „Camp Como“ kann damit, begünstigt durch die Entfernung zu den Kriegsschauplätzen, als eine Art Zwischenstation zwischen der Welt des Krieges und der neuen, freien Welt bezeichnet werden. Der Ort der Kriegsgefangenschaft fungierte als neutraler Raum, den Hallstein nutzte, um durch Bildung seinen Mitgefangenen, aber auch sich selbst Mut und Motivation für eine Veränderung hin zu einer besseren Zukunft zu geben. Die Tätigkeit in der Lageruniversität wirkte damit einer „intellektuellen Sklerose“ der Gefangenen entgegen und sicherte obendrein das kulturelle Überleben.[53]


[1] Bischof, Günther; Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Babara: Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme - Lagerbildung - Rückkehr, Wien 2005, S. 9-11.

[2] Vgl. Piela, Ingrid: Walter Hallstein (1901 - 1982). Leben und Wirken eines Juristen und Europäers der ersten Stunde. Vortrag am Institut für Europäische Verfassungswissenschaften vom 1. Februar 2010, Hagen 2010.

[3] Walter Hallstein, soziale und politische Verantwortung der deutschen Hocschulen, BArch Bestand N 1266/271.

[4] Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Lebenslauf, persönlich verfasst zwischen Herbst 1945 und vor der Aufnahme seines Amtes als Rektor der Goethe-Universitä Frankfurt 1946, BArch Bestand N 1266/271.

[5] Walter Hallstein (1901-1982), Äußerung über den ehemaligen Ersten Staatsanwalt Hiltmann von Hans-Wolfgang Bucherer, BArch Bestand N 1266/417.

[6] Hallstein, Walter: Rechtsstudium in Kriegsgefangenenlagern, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Jg.1, 7 (1946), S. 186-188.

[7] Jung: Die deutschen Kriegsgefagenen in amerikanischer Hand (1972).

[8] Schönwald, Matthias: Hinter Stacheldraht - vor Studenten. Die "amerikanischen Jahre" Walter Hallsteins 1944 - 1949, in: Ralph Dietl und Franz Knipping (Hrs.): Begegnung zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg, Trier 199, S. 31-54.

[9] Hannemann, LAura: Gesandte in Fesseln? Kulturtransfer in Kriegsgefagenenlagern des Zweiten Weltkriegs, in: Comparativ, Jg. 16, 4 (2006), S. 176-199.

[10] Jung: Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand (1972), S. 101.

[11] Kusternig, Andreas: Zwischen "Lageruniversität" und Widerstand. Französische Kriegefangene Offiziere im Oflag XVII AEdelbach, in: Günter Bischof, Stafan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme -  Lagerleben - Rückkehr, Wien 2005, S. 352-397.

[12] Bischof, Karner, Stelzl-Marx: Kriegefangene des Zweiten Weltkrieges (2005), S. 10-11.

[13] Billig: Weltkriesgefangene studierten in Lagerunis, in: Berliner Zeitung, 05.01.2011, http://www.berliner-zeitung.de/weltkriegsgefangene-studierten-in-lagerunis---ein-lange-unbeachtetes-kapitel-der-bildungshistorie-seminar-im-bombentrichter-14996626. Die 104 Lageruniversitäten für deutsche Kriegsgefangene verteilten sich wie folgt: USA (30), Großbritianien (24), Frankreich (18), Kanada (neun), Französisch-Nordafrika (acht), Australien, Ägypten, Sowjetunion (je drei), Südafrikanische Union, Italien (je zwei) sowie Jugoslawien und Belgien (je eine).

[14] Siehe dazu: Laun, Rudolf: Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges; Textausgabe mit einer Einführung, 5. Auflage, Hannover 1950. Die Haager Landkriegsordnung ist ein Vertrag zwischen vielen Staaten, in dem genau festgelegt ist, welche  Regeln im Kriegsfall für alle Beteiligten gelten. Das Abkommen besteht aus mehreren völkerrechtlichen Verträgen und ist nach der Stadt Den Haag benannt, weil es dort abgeschlossen wurde. Die ersten Verträge, die "Haager Landkriegsordnung" genannt werden, stamen von 1899 und 1907.

[15] Jung: Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand (1972), S. 94.

[16] Billig, Michael: Weltkriegsgefangene studierten in Lagerunis - ein lange unbeachtetes Kapitel, in: Berliner Zeitung, 05.01.2011, http://www.berliner-zeitung.de/weltkriegsgefangene-studierten-in-lagerunis---ein-lange-unbeachtetes-kapitel-der-bildungshistorie-seminar-im-bombentrichter-14996626.

[17] Kusternig: Zwischen "Lageruniversität" und Widerstand (2005), S. 360.

[18] Ebd.

[19] Schönwald: Hinter Stacheldraht - vor Studenten (1999), S. 34-36.

[20] Hannemann: Gesandte in Fesseln? (2006), S. 192.

[21] Schönwald: Hinter Stacheldraht - vor Studenten (1999), S. 37.

[22] Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), 2. Zwischenkurs von 2. Juli bis 22. September 1945, BArch Bestand N 1266/1620.

[23] Walter Hallstein, Lebenslauf, Barch Bestand N 1266/271.

[24] Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Hallstein an den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Chicago, BArch Bestand N 1266/1620.

[25] Walter Hallstein, Lebenslauf, BArch Bestand N 1266/271.

[26] Schönwald: Hinter Stacheldraht - vor Studenten (1999), S. 37-38.

[27] Hallstein, Walter: Juristische Fakultäten und amerikanische Militärregierung. Bericht über eine Konferenz in Wiesbaden, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Jg. 3, 4 (1948), S. 216.

[28] Walter Hallstein, Äußerung über Hiltmann, BArch Bestand N 1266/417.

[29] Ebd.

[30] Walter Hallstein, Lebenslauf, BArch Bestand N 1266/271.

[31] Walter Hallstein, soziale und politische Verantwortung der deutschen Hochschulen, BArch Bestand N 1266/271.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Walter Hallstein, soziale und politische Verantwortung der deutschen Hochschulen, BArch Bestand N 1266/271.

[38] Ebd.

[39] Hallstein: Rechtsstudium in Kriegsgefangenenlagern (1946), S. 187.

[40] Ebd.

[41] Walter Hallstein, Lebenslauf, BArch Bestand N 1266/271.

[42] Hannemann: Gesandte in Fesseln? (2006), S. 197.

[43] Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 6. Auflage, Weinheim und Basel 2007.

[44] Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik (2007), S. 19-25.

[45] Vgl. Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982),  die Hochschul-Rektorenkonferenz der amerikanischen Zone zur Anrechnung von Studien im Gefangenenlager, BArch Bestand N1266/1860.

[46] Jung: Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand (1972), S. 108-109.

[47] Hallstein: Rechtsstudium in Kriegsgefangenenlagern (1946), S. 186-188.

[48] Jung: Die deutschen Kriegefangenen in amerikanischer Hand (1972), S. 108.

[49] Schönwald: Hinter Stacheldraht - vor Studenten (1999), S. 42.

[50] Walter Hallstein, soziale und politische Verantwortung der deutschen Hochschulen, BArch Bestand N 1266/271.

[51] Hannemann: Gesandt in Fesseln? (2006), S. 179.

[52] Jung: Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand (1972), S. 208.

[53] Kusternig: Zwischen "Lageruniversität" und Widerstand (2005), S. 360.


 

 

Literaturverzeichnis:

Billig, Michael: Weltkriegsgefangene studierten in Lagerunis – ein lange unbeachtetes Kapitel in: Berliner Zeitung, 05.01.2011, www.berliner-zeitung.de/weltkriegsgefangene-studierten-in-lagerunis---ein-lange-unbeachtetes-kapitel-der-bildungshistorie-seminar-im-bombentrichter-14996626.


Bischof, Günter; Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barbara: Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr, Wien 2005.


Hammerstein, Noktar: Walter Hallstein. Mitbegründer und Vorfechter einer demokratischen Universitätslandschaft in der Bundesrepublik, in: Forschung Frankfurt 19 (2001), S. 65-67.


Hannemann, Laura: Gesandte in Fesseln? Kulturtransfer in Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs, in: Comparativ, Jg. 16, 4 (2006), S.179-199.


Jung, Hermann: Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand. USA, Bd. X/1: Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, München 1972.


Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 6. Auflage, Weinheim und Basel 2007.


Kusternig, Andreas: Zwischen „Lageruniversität“ und Widerstand. Französische Kriegsgefangene Offiziere im Oflag XVII A Edelbach, in: Günter Bischof, Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr, Wien 2005, S.352-397.


Laun, Rudolf: Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs; Textausgabe mit einer Einführung, 5. Auflage, Hannover 1950. Overmans, Rüdiger: „Lessons to be learned?“ Erfahrungen des ersten Weltkrieges, in: Günter Bischof, Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr, Wien 2005, S. 48-61.


Piela, Ingrid: Walter Hallstein (1901 – 1982). Leben und Wirken eines Juristen und Europäers der ersten Stunde. Vortrag am Institut für Europäische Verfassungswissenschaften vom 1. Februar 2010, Hagen 2010.


Robin, Ron Theodore: The barbed-wire college: reeducating German POWs in the United States during World War II, Princeton 1995.


Schönwald, Matthias: Hinter Stacheldraht – vor Studenten. Die „amerikanischen Jahre“ Walter Hallsteins 1944 – 1949, in: Ralph Dietl und Franz Knipping (Hrsg.): Begegnung zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg, Trier 1999, S. 31-54.


Sommer, Jörg: Das Recht der Kriegsgefangenen in modernen bewaffneten Konflikten, Frankfurt 2013.
Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, hrsg. von Michael Petschenig; Franz Skutsch; Josef M. Stowasser, Wien 2003.

Wolbring, Barbara: "Erziehung zu unablässiger Kritik und verantwortlichem Nach-Denken der überkommenen Gedanken". Neubeginn nach Diktatur und Krieg – Rektor Walter Hallstein und sein Plädoyer für eine freie Universität, Goethe-Universität Frankfurt am Main: Hochschulpublikationen, 2014, S. 144-146.

 

 

Quellenverzeichnis:

Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Lebenslauf, persönlich verfasst zwischen Herbst 1945 und vor der Aufnahme seines Amtes als Rektor der Goethe-Universität Frankfurt 1946, BArch Bestand N 1266/271.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Über die soziale und politische Verantwortung der deutschen Hochschulen, BArch Bestand N 1266/271.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), POW-Ausweis Nr. 31-G-40509, BArch Bestand N 1266/417.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Äußerung über den ehemaligen Ersten Staatsanwalt Hiltmann von Hans-Wolfgang Bucherer, BArch Bestand N 1266/417.

Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), 2. Zwischenkurs von 2. Juli bis 22. September 1945, BArch Bestand N 1266/1620.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Hallstein an den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Chicago, BArch Bestand N 1266/1620.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), Ansprache zur Schlussfeier des 11. Lehrgangs am 28.3.46 in Fort Eustis, BArch Bestand N 1266/1860.


Bundesarchiv, Nachlass Walter Hallstein (1901-1982), die Hochschul-Rektorenkonferenz der amerikanischen Zone zur Anrechnung von Studien im Gefangenenlager, BArch Bestand N 1266/1860.


Hallstein, Walter: Rechtsstudium in Kriegsgefangenenlagern, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Jg.1, 7 (1946), S. 186–188.


Hallstein, Walter: Juristische Fakultäten und amerikanische Militärregierung. Bericht über eine Konferenz in Wiesbaden, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Jg. 3, 4 (1948), S. 215–217.


Empfohlene Zitierweise:

Mareike Luft, „Aus Soldaten denkende Menschen machen“. Die Lageruniversität im amerikanischen Kriegsgefangenenlager „Camp Como“, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 30.05.2018, URL: https://use.uni-frankfurt.de/hallstein/campcomo.