Hans J. Morgenthau in Frankfurt: Ursprünge und Entwicklung der realistischen Denkschule in den IB

Informationen zur Veranstaltung

Dozent: Alexander Reichwein (Dipl.-Pol.)
Veranstaltungsart: Proseminar
Semester: SoSe 2014
Fachbereich / Institut: Gesellschaftswissenschaften (FB 03), Institut für Politikwissenschaft
Seminarplan: Download [PDF]

Worum geht es?

Die realistische Denkschule in den IB gilt als eine amerikanische Denktradition, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden sei und sich im Kontext des Kalten Krieges entwickelt habe. Es hat sich zudem die gängige Lesart etabliert, dass es den Vertretern dieser Denkschule ausschließlich um Machtfragen geht. Der Realismus erschöpfe sich in der Kategorie des „nationalen Interesse“ und in Ideen über geostrategische Außenpolitik, schreibe Moral, Recht sowie der inneren Verfasstheit von Staaten keinerlei Bedeutung zu und sei der Antipode des Idealismus/Liberalismus.

Ihr Begründer Hans J. Morgenthau (1904-1980) wird als konservativer amerikanischer Politikwissenschaftler und Machttheoretiker ausgewiesen. Seine  Kritik am US-Interventionismus, seine Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg und seine Israel-Position sprechen allerdings eine ganz andere Sprache: sie weisen auf die Bedeutung hin, die Morgenthau dem Recht, der Moral und der demokratischen Verfassung eines Staates offensichtlich zuschreibt.

Zudem finden sich in Morgenthaus Arbeiten zahlreiche Bezüge auf die Ursprünge seines Denkens, das in den 1920er und 1930er Jahren in Frankfurt und im Genfer Exil entstanden ist. In seinen Arbeiten verbinden sich ein „ziemlich deutscher“ (Golo Mann) und ein amerikanischer zu einem ganz spezifischen Denkstil. Dieser ist typisch für jene Wissenschaftsemigranten, die sich in der neuen Welt in einem neuen Denkkollektiv zurecht finden und etablieren mussten, aber dabei ihre vertrauten Sichtweisen und Überzeugungen nicht aufgeben wollten.

Will man Morgenthaus realistisches Denken verstehen, dann ist es angebracht, sich mit seinem deutschen Erfahrungshintergrund auseinanderzusetzen. Dazu zählen der historische Kontext, die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie die persönlichen und sozialen Milieus, in denen der Völkerrechtler sozialisiert wurde beziehungsweise unter denen er lebte und arbeitete. Hinzu kommen die intellektuellen Einflüsse jener Personen, die sein Denken prägten.

Methodisches Vorgehen

In diesem Proseminar, dem die konstruktivistische These zugrunde liegt, dass das politische und sozialwissenschaftliche Denken einer Person immer im Kontext zu betrachten ist, gehen wir in drei Schritten vor:

  1. Zunächst rekapitulieren wir Morgenthaus Kritik an der US-Außenpolitik.
  2. Anschließend erarbeiten wir uns sein Verständnis von Macht, Moral, Recht und Demokratie/Staat. 
  3. Abschließend interpretieren wir Morgenthaus Denken im Lichte seines Erfahrungshintergrundes unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeit an der Frankfurter Universität.

Die Lehrveranstaltung ist Teil des Projektes „Universität Studieren / Studieren erforschen“ zum 100-jährigen Jubiläum der Goethe-Universität und richtet sich an Studierende der Gesellschafts-, Rechts- und Geschichtswissenschaften sowie alle Interessierten.

 

 

Einführende Literatur

  • Behr, Hartmut/Roesch, Felix 2013: Hans J. Morgenthau: The Concept of the Political. Houndmills: Palgrave Macmillan.
  • Fleck, Ludwig 1994 (1936): Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. 3. Auflage, hrsg. m.e. Einleitung von Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Frei, Christoph 1994: Hans J. Morgenthau – Eine intellektuelle Biographie. Bern: Haupt.
  • Jütersonke, Oliver 2010: Morgenthau, International Law, and Realism. Oxford: University Press.
  • Krell, Gert 2009: Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen. 4. überarb. und akt. Aufl. Baden Baden: Nomos.
  • Lebow, Richard Ned 2011: German Jews and American Realism, in: Constellations 18: 4, 545-566.
  • Menzel, Ulrich 2001: Zwischen Idealismus und Realismus: die Lehre von den internationalen Beziehungen. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Mannheim, Karl 1965 (1929): Der soziologische Begriff des Denkens, in: Ideologie und Utopie. 4. Auflage. Frankfurt: Schulte-Bulmke, 3-47.
  • Neumann, Franz L. 1969: The Social Sciences, in: Fleming, Donald/Bailyn, Bernard (eds.), The Intellectual Migration: Europe and America, 1930-1960. Cambridge: Harvard University Press, 4-26.
  • Radkau, Joachim 1971: Konservative Tendenzen in der Emigration, in: Die deutsche Emigration in den USA: Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik 1933-1945. Düsseldorf: Bertelsmann Universitäts-Verlag, 214-222.
  • Reichwein, Alexander 2013: Hans J. Morgenthau und die Twenty Years‘ Crisis. Eine kontextualisierte Interpretation des realistischen Denkens in den IB. Frankfurt: Dissertation.
  • Rohde, Christoph 2004: Hans J. Morgenthau und der Weltpolitische Realismus. Wiesbaden: VS.
  • Scheuerman, William E. 2009: Morgenthau – Realism and Beyond. Cambridge: Polity Press.
  • Schmidt, Brian C. 1998: The political discourse of anarchy: a disciplinary history of international relations. Albany: State University of New York Press.
  • Söllner, Alfons 1988: Vom Völkerrecht zur Science of International Relations. Vier typische Vertreter der politikwissenschaftlichen Emigration, in: Ilja Srubar (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945. Frankfurt: Suhrkamp, 164-180.
  • Toje, Asle/Kunz, Barbara (eds.) 2012: Neoclassical Realism: Bringing Power Back In. Manchester/New York: Manchester University Press/Palgrave Macmillan.
  • Williams, Michael C. (ed.) 2007 Realism Reconsidered. The Legacy of Hans J. Morgenthau in International Relations. Oxford: University Press.