Warum sind Tondokumente ein wichtiger Zugang zur Geschichte?

von Jan de Fijter

Ohne genaue Kenntnis seiner Vergangenheit fehlt dem Menschen etwas Wesentliches in seinem Selbstverständnis. Die Erforschung seiner eigenen Geschichte ist also unabdingbar, wenn der Mensch sich selbst begreifen möchte. Daher nimmt die Beschäftigung mit der Geschichte in den Etats der westlichen Zivilisationen eine bedeutende Position ein. Der Zugang zum Studium der Geschichte erfolgt im Wesentlichen über Text- und Bildquellen. Dass auditive Quellen bisher fast völlig ausgeblendet wurden, ist umso bemerkenswerter, wenn man die Tatsache bedenkt, dass der noch werdende Mensch die Welt im Mutterleib zuerst über das Ohr wahrnimmt.

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Quelle: von A2569875 (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Ein Ton ist etwas Flüchtiges. Er verfliegt meist mit dem gleichen Atemzug, in dem er gesprochen oder gesungen wurde. Auch musikalische Klänge verhallen kurze Zeit, nachdem sie angeschlagen oder gespielt wurden. Daher können wir die Geschichte in einem gewissen Sinn nicht hören. Das erkenntnistheoretische Problem der Unhörbarkeit der Vergangenheit wird in den Einführungen in das Studium der Geschichte selten thematisiert. Häufig werden akustische Quellen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer Geschichte des Hörens nicht einmal erwähnt. Methodisch gesehen gibt es jedoch zwei Wege, über die wir zumindest in Auszügen einen akustischen Zugang zur Vergangenheit erhalten: erstens über aufgezeichnete und wieder abspielbare Tondokumente und zweitens über schriftlich festgehaltene Tonzeichen. Letztere ermöglichen es uns bis heute, Werke großer Komponisten immer wieder neu aufzuführen – selbst wenn die einzelnen Interpretationen mit einem jeweils eigenen Klangkolorit gefärbt sind. Aufgezeichnete Tondokumente, die eine Rede oder ein musikalisches Stück im Originalton wiedergeben, gibt es erst seit dem Jahr 1860. Dies erklärt, weshalb Historiker sich in ihrer Rekonstruktion der Vergangenheit hauptsächlich auf Text- und Bildquellen gestützt haben.

Die Lautsphäre

Blendet ein Historiker in der Rekonstruktion der Vergangenheit die akustische Ebene völlig aus, geht etwas Wesentliches verloren. Hören ist eine Fähigkeit, die bei fast allen alltäglichen Handlungen zum Einsatz kommt. Hörerlebnisse prägen die Erfahrung entscheidend. Beispielsweise konnte ein Reisender im Mittelalter an Hand bestimmter Vogelstimmen erkennen, ob Gefahr in Form von Räubern im Anzug war. Erst das Hören ermöglicht eine um-fassende alltägliche Gesprächskommunikation. Beim schnellen Sprechen setzt der Informationssender unbewusst voraus, dass der Empfänger die akustischen Signale auditiv wahrnehmen und entschlüsseln kann. Im Gegensatz zum Auge ist das Ohr immer offen. Selbst das Nicht-Hören von Geräuschen kann eine gehaltvolle Information übermitteln. Nehmen Menschen beispielsweise die Abwesenheit von Fluglärm wahr, folgern sie daraus, dass etwas passiert sein muss, wie etwa bei einer Vielzahl von Amerikanern am 11. September 2001.

Das Hören liefert also eine Information. Diese Information kann sehr vielfältig sein, so dass sie dem Hörenden ermöglicht, sich nicht nur im physikalischen Raum, sondern auch im sozialen, politischen und kulturellen Raum zurechtzufinden. Jedem dieser Räume ist eine bestimmte Lautsphäre eigen, die historischem Wandel unterliegt. Diese Lautsphäre ist die deutsche Übersetzung der englischen Neuschöpfung Soundscape, die nach R. Murray Schafer, einem kanadischen Komponisten und Lautforscher, in Analogie zu dem Begriff Landscape ein Ensemble von Geräuschen bezeichnet, das an einem bestimmten Ort zu hören ist. Hören schafft also Orientierung und es ist Aufgabe des Historikers, den Wechsel in der Zeit der verschiedenen Lautsphären nicht zu vernachlässigen, sondern zu analysieren.

Der Klang der Geschichte

Fast alle zuvor von Menschen erzeugten akustischen Erscheinungen sind unwiederbringlich verloren. Fast alle – denn es gibt originale Klänge, beispielsweise. die von Instrumenten aus der Vergangenheit, die beim heutigen Bespielen noch klingen wie vor Hunderten von Jahren. Auch Kirchenglocken, die im Hochmittelalter eingebaut wurden und heute noch erhalten sind, helfen dem Historiker, Töne aus der Vergangenheit zu reproduzieren. Wolfgang Welsch ist nicht der einzige, der die Auffassung vertritt, dass die abendländische Kultur ursprünglich nicht eine Kultur des Sehens, sondern eine des Hörens gewesen ist. Zugang zu den Wurzeln der abendländischen Kultur haben wir aber fast ausschließlich über Schrift- und Bildquellen, was selbstverständlich zu Verschiebungen zwischen dem rekonstruierten, historischen Bild und der damaligen realen Situation führt. Daher ist es Aufgabe des Historikers, wenigstens die vorhandenen akustischen Quellen mit größter Sorgfalt zu beachten, sie in sein Rekonstruieren der Vergangenheit mit einzubeziehen und somit zu einem umfassenderen Bild der Vergangenheit zu gelangen.

Das Gebiet der Sound History steht in Deutschland erst am Anfang seiner Erforschung. Es können zwar mehrere wissenschaftliche Aufsätze und Vorträge nachgewiesen werden, Gerhart Paul und Ralph Schock sind jedoch die ersten Historiker, die mit ihrem 2013 erschienenen Werk Sound des Jahrhunderts eine umfassendere Arbeit veröffentlicht haben. Der Sammelband, an dem eine Vielzahl an Autoren beteiligt waren, rekonstruiert und analysiert die unterschiedlichen Klangwelten zwischen den Medienrevolutionen des beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts.

Methodische Zugänge zum Klang der Geschichte

Historiker von heute haben es in der Hand, ob das Bild, das sie von der Geschichte zeichnen, stumm bleibt oder ob der Klang der Geschichte wenigstens ansatzweise in den Rekonstruktionen der Vergangenheit neu erklingt. Konkret können sich Historiker zu Beginn eines Forschungsprojektes die Frage stellen, welche Tondokumente es aus der zu untersuchenden Epoche geben kann. Dabei ist zu beachten, dass es erst seit 1860 Tondokumente gibt und dass in den Funkhäusern die Tonaufzeichnungstechnik erst im Mai 1929 in Betrieb genommen wurde. Anschließend besteht die Möglichkeit, online über das Portal des Deutschen Rundfunkarchivs in verschiedenen Datenbanken und Dokumentationen zu recherchieren oder aber eine Anfrage mit einer präzisen Beschreibung des Forschungsprojektes und der gesuchten Tondokumente an die Institution zu richten.

Es ist sicher kein Fehler, wenn ein Historiker in der öffentlich zugänglichen audiovisuellen Datenbank von www.youtube.com gezielt nach Klängen seines zu erforschenden Zeitabschnitts sucht. Bei der Analyse der Tondokumente ist dann zu klären, wann das Dokument unter welchen Bedingungen aufgezeichnet wurde, ob es eine Textfassung gibt und ob Abweichungen zwischen dieser und der Aufnahme zu verzeichnen sind. Des Weiteren ist die Frage zu klären, in welchem Zusammenhang die Aufnahme entstand (spontan, geplant, wussten die Aufgenommenen vor der Aufnahme Bescheid?) und welche technisch bedingten Verzerrungen möglicherweise aufgetreten sind.

Jan de Fijter, Warum sind Tondokumente ein wichtiger Zugang zur Geschichte?, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 14.08.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/ton/defijter/.

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