Methodisches Vorgehen im Umgang mit historischen Tondokumenten

von Dr. Muriel Favre 

 

Die Freude, zwei von der Forschung bisher außer Acht gelassene Tondokumente wiederentdeckt zu haben, wich schnell einer tiefen Ernüchterung: Wie sollte man diese Tondokumente handhaben? Klänge und Töne sind omnipräsente Elemente unserer sinnlichen Umwelt. Meist fehlt jedoch in der traditionell auf schriftliche Quellen fixierten historischen Forschung das Bewusstsein für die Relevanz der Akustik und des Hörsinns. Für die Geschichte des 20. Jahrhunderts heißt dies vor allem, dass Audioquellen, obwohl zahlreich vorhanden, in wissenschaftlichen Arbeiten nur wenig herangezogen werden.

Sinn und Zweck der im Wintersemester 2013/14 angebotenen Lehrveranstaltung „Der Ton als Zugang zur Geschichte der Goethe-Universität im Dritten Reich“ war es, anhand beider Reden Ernst Kriecks den Umgang mit historischen Tondokumenten zu üben. In einer ersten Etappe wurde herausgearbeitet, welche quellenkritischen Herangehensweisen anzuwenden sind. Wie auch bei schriftlichen oder bildlichen Quellen muss zunächst eine sachliche Beschreibung erfolgen, bei der man sich an den bekannten W-Fragen orientieren sollte: Wer spricht? Für wen? Wann? Wo? Warum? Worüber? Der Rückgriff auf die einschlägige Sekundärliteratur erlaubt es dann, sich über den historischen Zusammenhang klarzuwerden.

Nachdem man sich mit dem Inhalt beschäftigt hat, muss man sich mit dem Tonträger auseinandersetzen. Dabei sollten die Entstehungs- und die Überlieferungsgeschichte rekonstruiert werden. Bei der ersteren muss vor allem gefragt werden, mit welcher Absicht die Tonaufnahme entstanden ist: Wurde sie für die Nachwelt oder für den zeitgenössischen Gebrauch angefertigt? Letztere soll einem helfen klarzustellen, womit man es bei dem untersuchten Tondokument zu tun hat: Handelt es sich um die ursprünglich archivierte Aufnahme oder lediglich um ein Fragment?

In einer zweiten Etappe wurde erprobt, wie aus einer Audioquelle ein wissenschaftlicher Ertrag gezogen werden kann. Tonaufzeichnungen von Rundfunkreden können nach einem dokumentarischen Modell ausgewertet werden: Das Tondokument wird mit der Druckfassung verglichen – und zwar mit dem Ziel, abweichende Stellen herauszufinden. Während  stilistische Abweichungen nicht gravierend sind, weisen inhaltliche Abweichungen darauf hin, dass die tatsächlich gehaltene Rede überarbeitet wurde und dass die Zeitgenossen im Rundfunk etwas anderes gehört haben als das, was später als offizielle Version verbreitet wurde.

Dies ist bei Ernst Kriecks Rektoratsrede nicht der Fall. Folglich lag der Schwerpunkt der Übung auf der Untersuchung der sprachlichen und performativen Ausgestaltung der Reden Kriecks. Die Analyse des Textes – Thesen, Argumente, Aufbau usw. – stellt einen ersten Schritt dar. Man sollte sich jedoch nicht damit begnügen, das Auffällige wiederzugeben. Vielmehr muss versucht werden, weniger Auffälliges, Verborgenes, ja dem Autor (bzw. dem Sprecher) selbst Unbewusstes ans Licht zu bringen. Hierfür bieten sich semantische Analysen an, die sich auf die Terminologie konzentrieren oder die auf die Stellung eines Wortes in einem Wortfeld achten und daraus seine Bedeutung ableiten.

Allerdings sind Reden keine rein schriftlichen, sondern naturgemäß zugleich vorgetragene Texte. Mit anderen Worten: „Ob eine Rede gelungen ist, hängt nicht nur von der schriftlichen Gestalt ihres Textes ab, sondern auch von der rednerischen Realisierung, dem Vortrag des Textes“ (Hans-Jürgen Pandel, S. 6). Nur Tonquellen informieren über die konkrete Performanz. Mit ihrer Hilfe kann die Stimme, können prosodische Parameter wie die Tonhöhe, die Lautheit, die Sprechgeschwindigkeit, die Betonung und die Intonation untersucht werden. Ziel ist es herauszuarbeiten, ob diese Parameter mit dem Inhalt des Textes übereinstimmen oder ob sie ihn unterminieren.

Muriel Favre, Methodisches Vorgehen im Umgang mit historischen Tondokumenten, in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 14.08.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/ton/favre/.

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