Frankfurter Judentum im ausgehenden 19. Jahrhundert

von Pascal Balló

Angesichts der aufgestellten These ist es notwendig, Überlegungen anzustellen, wie das Frankfurter Judentum im ausgehenden 19. Jahrhundert zu definieren ist. Hierzu ist es angebracht, den Emanzipationsprozess der Juden in Frankfurt in seinen wesentlichen Zügen nachzuzeichnen. [Anm. 1]

Shulamit Volkov legt plausibel dar, dass eine Definition der Juden in Deutschland, und somit auch in Frankfurt, Ende des 18. Jahrhunderts anhand gewisser Kriterien aufgestellt werden kann. Die jüdischen Ghettos seien eines der Kriterien, mussten doch fast alle sich zum Judentum bekennenden Menschen in solchen Ghettos leben. Die Definition der Juden in Deutschland vor Ende des 18. Jahrhunderts ist insbesondere insofern vergleichsweise einfach darzustellen, als zu dieser Zeit eine an der Halacha orientierte Lebensweise der Juden festzustellen ist. Zudem unterschieden sich die Juden von den Christen u. a. hinsichtlich der Sprache, der Kleidung und dem äußeren Erscheinungsbild. [Anm. 2] Auch die sehr geringen Mischehen, die aus dem jüdischen Selbstverständnis der Exklusivität, aber auch aus der Ablehnung der Christen resultierten, sind ein hilfreicher Indikator zur Bestimmung einer Definition der Juden in Deutschland. [Anm. 3]

Mit Beginn der jüdischen Aufklärung, der sog. Haskala, setzte der Emanzipationsprozess ein, der mit fortschreitender Zeit eine weiterhin eindeutige Zuordnung der Juden in Frankfurt unmöglich machte. Zumal die Ansichten des führenden Vertreter der Haskala, Moses Mendelssohn, bei der jüdischen Frankfurter Gemeinde – abgesehen von einer orthodoxen Minderheit – auf hohe Resonanz stießen. [Anm. 4] Die hohe Resonanz der jüdischen Gemeinde manifestierte sich u. a. in der Erziehung und Bildung der jüdischen Kinder, deren Eltern ihnen zunehmend eine säkularisierte Bildung zukommen lassen wollten. Die seit 1801 geplante und 1804 eröffnete jüdische Schule, das Philanthropin, „strebte eine natur- und vernunftsgemäße Erziehung an[Anm. 5] und keinen am Talmud ausgerichteten Unterricht. Das Philanthropin wurde bezeichnenderweise der intellektuelle Hort der reformorientierten Juden in Frankfurt und sollte somit für den Integrationsprozess der dort lebenden Juden entscheidend sein. [Anm. 6] Auch hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbild und ihrer Sprache integrierten sich die Frankfurter Juden – gemäß des Tenors der Haskala, „sei draußen ein Mensch und zu Hause ein Jude [Anm. 7] – sukzessive in die Gepflogenheiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft. [Anm. 8]

Im Zuge der französischen Revolution 1789 wurde den Frankfurter Juden, gegen den Widerstand der Frankfurter Bürgerschaft und gegen eine stattliche Zahlung in Höhe von 440.000 Gulden, 1811 das Bürgerrecht und somit die rechtliche Gleichstellung verliehen. Mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches wurde ihnen das Bürgerrecht jedoch wieder aberkannt. [Anm. 9] Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die französischen Revolutionskriege und die sich daran anschließenden napoleonischen Kriege den Frankfurter Juden den Weg aus dem rechtlichen Status des „Stättigkeitsjuden“ ermöglichten. Denn der rechtliche Gleichstellungsprozess konnte nicht komplett revidiert werden, sodass im Vergleich zur Zeit vor 1811 in jedem Fall eine Verbesserung der rechtlichen Stellung in der nun Freien Stadt Frankfurt festzustellen war. Fortan (1824) waren sie zumindest „israelitische Bürger“ Frankfurts. [Anm. 10] Dieser erkämpfte Bürgerstatus durch ein immer selbstbewussteres jüdisches Bürgertum ist auch auf die Anfang des 19. Jahrhunderts begonnene kulturelle Assimilation der Frankfurter Juden zurückzuführen. [Anm. 11]

Der Beitritt Frankfurts zum Zollverein 1836 steigerte die Bedeutung des Großhandels und des Bankenwesen, was wiederum die Integration der Juden, insbesondere in die Frankfurter Wirtschaft, vorantrieb. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Bankwesen angesichts der restriktiven Berufsgesetzgebung eine traditionell jüdische Domäne. [Anm. 12] Auf dem weiteren Weg zur vollen rechtlichen Gleichstellung der Juden in Frankfurt wurde ihnen 1853 das „aktive und passive Wahlrecht zur Gesetzgebenden Versammlung“ sowie das Recht auf Bekleidung öffentlicher Ämter zuerkannt [Anm. 13], das als weiterer „wichtiger Schritt im Emanzipations- und Integrationsprozeß“ der Juden in Frankfurt bezeichnet werden kann. [Anm. 14] Im Jahr 1864 gewährten der Frankfurter Senat und die Gesetzgebende Versammlung den Frankfurter Juden die volle rechtliche Gleichberechtigung. [Anm. 15]

Mit der Einführung der preußischen Verwaltung 1867 fielen weiterhin viele Einschränkungen und Verbote für die Juden der ehemals Freien Stadt weg. [Anm. 16] Einhergehend mit der im Jahr 1864 erlassenen Gewerbefreiheit wirkte sich das auf den Integrationsprozess der Juden, insbesondere den wirtschaftlichen tätigen, fördernd aus. Den Frankfurter Juden gelang es, sich den ändernden wirtschaftlichen und politischen Zeiten anzupassen. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht profitierten die Frankfurter Juden durch den politischen und wirtschaftlichen Umbruch. [Anm. 17]

Demnach ist festzuhalten, dass eine „wirtschaftliche Konstituierung des jüdischen Bürgertums[Anm. 18] gelang. Von einer vollumfänglichen Integration des jüdischen Frankfurter Bürgertums kann indes nicht die Rede sein. [Anm. 19] Diese gescheiterte weiter gehende Integration ist jedoch nicht auf die Integrationsunwilligkeit der Frankfurter Juden zurückzuführen, sondern vielmehr auf den Antisemitismus. [Anm. 20] Als maßgebliche Ursachen für das Scheitern der vollständigen Integration sind die „Krise des Liberalismus und die ansteigende Welle des Judenhasses“ zu nennen, die „zu einer Rückbesinnung auf spezifische Anliegen der jüdischen Minderheit und zu einer Tendenz des Ausscherens aus der bürgerlichen Einheit“ führte. [Anm. 21]

Angesichts dieses Emanzipationsprozesses ergeben sich für Volkov, aber auch für die vorliegende Arbeit, folgende Fragen: „Sollten die vollständig akkulturierten Juden, die ihrem angeblichen Jüdischsein keine Bedeutung mehr zumaßen und nichts mit ihr zu tun haben wollten, dennoch in die deutsch-jüdische Geschichte einbezogen werden? (…) Und die Getauften, von denen sich einige am Ende weder hier noch dort wiederfanden – sollen wir sie einschließen oder ausschließen?[Anm. 22]

Die knappe Skizzierung des Emanzipationsprozesses der Juden in Frankfurt dürfte deutlich gemacht haben, dass die Fragen nicht allgemeingültig beantwortet werden können. Dafür waren die Assimilationsgrade zu unterschiedlich. Zudem ist die Quellenlage zu dem Frankfurter Judentum im ausgehenden 19. Jahrhundert so dürftig, dass nur zu den exponierten Vertretern dieser Minderheit ausführlichere Nachforschungen möglich sind. [Anm. 23] Daher sollte die Formulierung „Stifter jüdischer Herkunft“ verwendet werden, um auf die Weise den Assimilationsprozess bei vielen der in Frankfurt lebenden Juden zu berücksichtigen. [Anm. 24]

[1] Unter Emanzipationsprozess ist insbesondere die rechtliche, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung der Juden gemeint. Diese vier wesentlichen Faktoren sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern korrelieren miteinander.

[2] Vgl. Volkov, Juden in Deutschland, S. 5ff; vgl. auch Toch, Juden, S. 34ff.

[3] Vgl. ebd., S. 2f.

[4] Vgl. Arnsberg, Frankfurter Juden. Bd. I, S. 206.

[5] Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 19.

[6] Vgl. ebd., S. 18f, S. 41, S. 46ff. Zur Bedeutung des Philanthropins für den Emanzipationsprozess der Juden in Frankfurt, vgl. Griemert, Bürgerliche Bildung.

[7] Zitiert nach Volkov, Jüdische Assimilation, S. 137.

[8] Vgl. Roth, Stadt und Bürgertum, S. 404; vgl. auch Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 41. Die reformfreudigen Juden, die sich zunehmend integrierten, sich der deutschen Nation zugehörig fühlten und das Judentum lediglich als Konfession verstanden wissen wollten, mussten sich jedoch eingestehen, dass sie von der christlichen Mehrheitsgesellschaft – trotz ihrer teilweisen Assimilation – nach wie vor dem orthodoxen Judentum zugerechnet wurden. Dieses orthodoxe Judentum war in der christlichen Gesellschaft negativ konnotiert. Daher wollten sich die reformfreudigen Frankfurter Juden noch stärker assimilieren und integrieren, womit sie aber zwangsläufig mit den orthodoxen Juden in Konflikt geraten mussten. Vgl. hierzu Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 46ff; vgl. auch Roth, Stadt und Bürgertum, S. 406f.

[9] Vgl. R. Heilbrunn, Emanzipation, S. 19; vgl. ebenso Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 31. Eine ausführlichere Darstellung der Frankfurter Juden im Primitialstaat findet sich bei Arnsberg, Frankfurter Juden. Bd. I, S. 139-282. Die Ursache für die Zurücknahme der rechtlichen Gleichstellung 1815 dürfte vor allem in der fehlenden Akzeptanz der Frankfurter Juden in der Bürgerschaft liegen. Es fehlte den Juden die gesellschaftliche Anerkennung. Vgl. hierzu Roth, Stadt und Bürgertum, S. 199f.

[10] Vgl. ebd., S. 242f; vgl. auch Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 37f.

[11] Zur zeitgenössischen Rezeption des Begriffes „Assimilation“ im ausgehenden 19. Jahrhundert und zur Bedeutung desselben, vgl. Volkov,> Jüdische Assimilation, S. 132ff.

[12] Vgl. Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 54.

[13] Die Verleihung des aktiven und passiven Wahlrechts wurde aber insofern beschränkt, als „nicht mehr als vier Juden zugleich Mitglieder der Versammlung sein dürften.“ Vgl. Roth, Stadt und Bürgertum, S. 473.

[14] Vgl. ebd., S. 473f.

[15] Vgl. Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto….“, S. 66. Die rechtliche Gleichstellung der Frankfurter Juden fiel im Gegensatz zu 1811 nicht auf einen vehementen Widerstand der nichtjüdischen Frankfurter Bürgerschaft, da die Vereinsaktivitäten der Frankfurter Juden die gesellschaftliche Anerkennung in der nichtjüdischen Gesellschaft darstellte, die für die rechtliche Emanzipation unabdingbar war. Vgl. Roth, Stadt und Bürgertum, S. 339ff; vgl. auch Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 128. Eine konträre Darstellung dagegen findet sich bei Heuberger/Krohn, „Hinaus aus dem Ghetto…“, S. 50-52.

[16] Vgl. ebd., S. 85.

[17] Arnsberg, Frankfurter Juden. Bd. I, S. 727.

[18] Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 298.

[19] Vgl. Arnsberg, Frankfurter Juden. Bd. III, S. 9; vgl. auch Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 298. Eine These, die im Übrigen auch auf die übrigen jüdischen Gemeinden im Kaiserreich zutraf. Vgl. Volkov, Jüdische Assimilation, S. 133-137.

[20] Vgl. Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 298.

[21] Vgl. ebd., S. 298. Diese These, so Hopp, manifestiert sich auch in der Gründung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Vgl. ebd., S. 298. Ein Befund, der ebenso auf das übrige Reich zutraf. Vgl. Volkov, Jüdische Assimilation, S. 134.

[22] Volkov, Juden in Deutschland, S. 84f.

[23] Zur Quellenlage des Frankfurter Judentums im ausgehenden 19. Jahrhundert, vgl. Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 12f; vgl. auch Kluke, Stiftungsuniversität, S. 53.

[24] Zum besseren Lesefluss soll jedoch in der Regel weiterhin von jüdischen Stiftern die Rede sein.

Pascal Balló, Frankfurter Judentum im ausgehenden 19. Jahrhundert [Teilabschnitt aus: Pascal Balló, Die Gründung der Universität Frankfurt und ihre Stifter jüdischer Herkunft], in: USE: Universität Studieren / Studieren Erforschen, 15.08.2014, URL: http://use.uni-frankfurt.de/36stifter/ballo/einleitung/frankfurterjudentum/.

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