Gumbels Forschung zu Kolbenheyer

Von Kolbenheyer und anderen „objektiven Geist[ern]“ [1]

Zu Hermann Gumbels Forschungsschwerpunkten gehörten neben dem „Schrifttum des 16. Jh., [der] Klassik [und der] Romantik“ auch die Dichtung Ernst Guido Kolbenheyers und die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“. [2] Um einen kleinen Einblick in die Forschungstätigkeiten Gumbels zu gewähren, sollen im Folgenden zwei Aufsätze vorgestellt werden, die seine Interessensschwerpunkte und Ansätze exemplarisch darlegen. Hierbei handelt es sich zum einen um eine längere Ausarbeitung über den Zusammenhang zwischen deutscher Dichtung und Volkstum und zum anderen um einen Aufsatz über Ernst Guido Kolbenheyer.

 

Über den vermeintlich gemeinsamen Nenner

„Der Rassencharakter bestimmt zweifellos aufs stärkste die Eigenart einer Dichtung wie eines Volkstums. Wer unvoreingenommen ist, muß zugeben, daß hier größte Vorsicht geboten ist und daß die Rassenkunde erst am Anfang ihrer wissenschaftlichen Konsolidierung steht. Es gibt ja keine reinen Rassen, keine reinrassigen Völker heute in Europa, wir müssen durchweg mit Mischungen rechnen.“ [3]

Eine Forschungsfrage, die für Gumbel in vielen seiner Aufsätze und Schriften höchste Priorität zu haben scheint, ist die nach dem Verhältnis von Dichtung und Volkstum. Fast akribisch könnte man seine Arbeiten bezeichnen, die mit Überschriften wie „Das Schwäbische in der schwäbischen Dichtung“ oder „Deutsche Ordensdichtung und ostpreußischer Geist“ überschrieben sind und dabei immer das Verhältnis von Dichtung und Volkstum fokussieren. [4] In einem Aufsatz mit dem Titel „Dichtung und Volkstum“ versucht er, „das Verhältnis der Tatbestände, welche durch jene zwei Worte bezeichnet sind, allgemein und grundsätzlich“ zu umreißen“. [5] Volkstum – darunter versteht Gumbel eine Art „objektiven Geist“ oder „die Seele des 'Reiches'“, die den gemeinsamen Nenner zwischen den Individuen knüpfen. [6] Ist ein solcher 'Geist' ausgebildet, ermöglicht er, so meint Gumbel, dem „Einzelnen nicht nur seine Eingliederung in die Harmonie des Volkes, sondern zugleich die Erfüllung seiner menschlichen Bestimmtheit“. [7] In der Dichtung sieht Gumbel einen Faktor, in dem dieser „objektive[] Geist“ einen „Ausdruck“ und seine „Erscheinung“ erhält, „zugleich [ist sie] aber auch Bedingung und Voraussetzung des Volkstums“. [8] Nach den ausführlichen Definitionen beider Begrifflichkeiten betrachtet Gumbel einzelne Gesichtspunkte, die er für mögliche beeinflussende Faktoren der Dichtung hält, wie beispielsweise, um nur einige zu nennen: „Dichtung und Landschaft“, „Dichtung und Stammestum“ oder „Dichtung und Rasse“. [9] Die eingangs zitierte Passage bezieht sich auf den zuletzt genannten Aspekt, in welchem Gumbel, wie der Auszug schon vermuten lässt, den Einfluss des „Rassencharakter[s]“ auf die Dichtung zu analysieren versucht. Gumbel räumt hier mit Blick auf die historischen Entwicklungen sehr deutlich ein, dass man 'heute' weder germanisch ist  noch werden kann und dass solche „Bestrebungen […] abseitig und etwas weltfremd erscheinen“. [10] Die „Zurückführung der Dichtung […] auf die rassische Eigenart“ hält er dementsprechend für schwierig und fordert „höchste Vorsicht [und] größte Vorurteilslosigkeit“ für die Beurteilung eines solchen Verhältnisses. [11] Zugleich erkennt er in der Dichtung aber ein Medium, welches „in die Bildung von Rassenidealen [eingreifen]“ kann und verweist an dieser Stelle auf die Gedichte Ernst Bertrams. [12] Was auch an dieser Arbeit Gumbels ersichtlich wird, ist, dass er um einen aktuellen Bezug bemüht war und damit auch einen geisteswissenschaftlichen Beitrag zur damals bestehenden Ordnung geleistet hat.

 

Betrachtungen über einen Schriftsteller aus der 'Gottbegnadetenliste'

„In der Tat war es die entscheidende Wendung Kolbenheyers, daß er nicht fragte: Was sagt das Bewusstsein? Was ist der Sinn des Ich? Sondern daß er fragte: W o   w i r d   B e w u ß t s e i n   u n d   I n d i v i d u a t i o n  l e b e n s n o t w e n d i g ?“ [13]

 Ebenso wie Gumbel ist auch Erwin Guido Kolbenheyer heute nur noch den wenigsten Menschen ein Begriff, was erstaunlich ist, zählte er doch in der Zeit des Nationalsozialismus zu den bedeutendsten Schriftstellern seiner Zeit. Vielfach ausgezeichnet und von Hitler auf die 'Gottbegnadetenliste' gesetzt, gehörte er mit seiner Dichtung auch zu den aktuellsten Themen der germanistischen Literaturwissenschaft. [14] Dass Gumbel sich auch mit Kolbenheyer beschäftigt hat, zeigt seine Bemühungen, möglichst aktuellen Fragestellungen nachzugehen, auch wenn, wie bereits angeklungen ist, die Möglichkeiten einen anderen Forschungsweg einzuschlagen entsprechend begrenzt waren. Neben einer Einführung in Kolbenheyers „Weltanschauung und Dichtung“, so der Untertitel der Monographie, schrieb Gumbel auch einen Aufsatz mit dem Titel „Betrachtungen über Kolbenheyer, seinen Geschichtsroman und seine Philosophie“, auf den hier eingegangen werden soll.

Was Gumbel an Kolbenheyer für eine nationalsozialistische Germanistik interessiert, ist dessen gesamte Weltanschauung, die ihm „[w]ie alles Bedeutende […] was Kolbenheyer sagen und lehren will, im Grunde ganz einfach“ erscheint. [15] Dieser Satz mag angesichts der Schreibart Kolbenheyers fast ironisch wirken, denn wer Gelegenheit dazu gehabt hat, einmal einen Blick in dessen Dichtung zu werfen, wird um den prätentiösen Schreibstil des Autors wissen. [16] Gumbel macht es sich daher in seinem Aufsatz und seiner Einführung auch zur Aufgabe, Kolbenheyers umständliche und verworrene Formulierungen auszulegen und diese gut verständlich zu erklären. So schreibt er beispielsweise über die Weltanschauung Kolbenheyers, dass sie vom ersten Grundsatz Descartes vollständig geschieden sei und erklärt dazu weiter:

 „Cogito ergo ego sum et teutonicus – so würde e[s] kolbenheyerisch lauten müssen. Wie ich Bewusstsein habe, bin ich ein Ich und bin ich volksgebunden. […] Das Leben ist das Erste, das Fraglose. Kolbenheyer sieht es als plasmatische Lebenskraft. Bewusstsein und Individualität sind nur Funktionsformen in der Anpassungsentwicklung dieses Lebens.“ [17]

Mit der Entstehung des Ich-Bewusstseins in der Kindheit, so versucht Gumbel Kolbenheyer zu erklären, „beginnt Spannung und Gegensatz im und zum Welterleben“. [18] Die Triebe der Menschen seien dann, so schlussfolgert Gumbel mit Kolbenheyer, nur dadurch zu stillen, indem sich „das eben entstehende Ich bewußt der ihm neu und neuartig gegebenen Welt […] anpaßt, Zusammenhang gewinnt mit dem Überindividuellen“. [19] Inwiefern die Triebe dadurch tatsächlich gestillt werden können, erklärt Gumbel nicht und scheint dies vielmehr unkritisch von Kolbenheyer zu übernehmen. Wichtig scheint für ihn in diesem Zusammenhang aber, dass durch diese ambitionierte Anpassung des Individuums an die gegebenen Umweltbedingungen „der übergeordnete Zusammenhang in den Blick des Einzelnen“ gerate und damit der Grundstein für eine Zugehörigkeit zum „Volk [als] überindividuelle[r] Verband“ gesetzt sei. [20] Damit wird der „Egoismus der modernen Einzelpersönlichkeit“ kritisiert, weil es, folgt man Gumbel, in der Anpassung an die gegebenen Lebensbedingungen eigentlich nur darum gehe, „das Gesetz [des] Anderen zu erfahren und ihm gerecht zu werden“. [21] Worum es Kolbenheyer geht und was Gumbel deutlich zu machen versucht, ist unter anderem, durch pseudopsychologische Triebtheorien die Repression individueller Bedürfnisse zu rechtfertigen und damit die Anpassung zur (damals) bestehenden (politischen) Ordnung zu legitimieren. In der Beschäftigung Gumbels mit der Weltanschauung und 'Philosophie' eines zur NS-Zeit wichtigen Schriftstellers ist schlussendlich auch sein geisteswissenschaftlicher Beitrag für das NS-System zu sehen, auch wenn dies, wie bereits mehrfach erwähnt wurde, keine Frage der freien Entscheidung war. Die Unterdrückung individueller (Forschungs-)Bedürfnisse und Anpassung an die politischen Gegebenheiten, wie auch Kolbenheyer sie einfordert, so ließe sich vielleicht abschließend etwas spekulativ festhalten, war von Gumbel offensichtlich schon lange akzeptiert und internalisiert worden.

 

Victoria Pluschke

 

 


[1] Hermann Gumbel, Dichtung und Volkstum. In: Emil Ermatinger (Hg.): Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930, 43-92, hier S. 44.

[2] Red., [Art.] Gumbel, Hermann. In: Internationales Germanistenlexikon. 1800–1950. Hrsg. von Christoph König, bearb. von Birgit Wägenbaur, Bd. 1. Berlin, New York 2003, S. 637–638, hier S. 637.

[3] Dichtung und Volkstum (Anm. 1), S. 59.

[4] Vgl. von ihm: Das Schwäbische in der schwäbischen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 9 (1931), S. 504-533.; Deutsche Ordensdichtung und ostpreußischer Geist. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 13 (1937), S. 186-195.; Von elsässischer Dichtung. In: Christian Hallier (Hg.): Das Elsaß. Deutsches Kern- und Grenzland. Frankfurt am Main 1941, S. 145-162.

[5] Dichtung und Volkstum (Anm. 1), S. 43.

[6] Ebd., S. 44.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 53.

[9] Ebd., S. 62, 71, 59.

[10] Ebd., S. 62.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Hermann Gumbel, Betrachtungen über Kolbenheyer, seinen Geschichtsroman und seine Philosophie. In: Dichtung und Volkstum 36 (1935), S. 437.

[14] Ernst Klee, [Art.] Kolbenheyer, Ernst Guido. In: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2009, S. 295.

[15] Hermann Gumbel: E. G. Kolbenheyer. Weltanschauung und Dichtung. Eine Einführung. Stuttgart/Berlin 1938, S. 26.

[16] Um den Stil Kolbenheyers zu veranschaulichen, möge das folgende Zitat dienen: „Mit einem Gebete sollte beginnen und sollte mit einem Gebete endigen, was hier untersucht und versucht werden muß, um einer ringenden Zeit zu helfen. Wir wollen aber die Transzendenz eines solchen Ein- und Ausganges meiden. Sie entspräche nicht dem inneren Entwicklungszustande unseres Volkes. – Nicht daß Gebete, in denen sich die Menschenseele dem Unendlichen hingibt, um ihre Spannungen auszuschwingen und eine Wegkraft in Zuversicht und Verlaß zu gewinnen, überlebt seien, nicht daß es eitel wäre in einer hochbewußten Zeit der metaphysischen Bindung des jenseitigen ein Letztes und Tiefstes der Menschenbrust anheimzugeben (auch heute noch lebt diese Bindung und sie galt vor kurzem noch als das Fundament des Lebens) – ein Gebet am Ein- und Ausgang dieser Untersuchung würde Voreingenommenheit schaffen. Die Gottesfrommen suchten dann nicht über ihre Frömmigkeit hinauszublicken, und die Verstandeskühlen schreckten zurück, als sollte hier Überwundenes zu neuer Qual des Geistes berufen sein.“  Ernst Guido Kolbenheyer: Neuland. Zwei Abhandlungen. München 1934, S. 9.

[17] Gumbel, Betrachtungen über Kolbenheyer (Anm. 13), S. 436.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Gumbel, E.G. Kolbenheyer (Anm. 15), S. 30f..