Max Kommerells Zeit im George-Kreis

Am 17. Oktober 1919 schließt Kommerell das humanistische Gymnasium in Cannstatt mit der Gesamtnote „Gut“ ab [1] und beginnt im kommenden Semester sein Studium an der Universität Tübingen. Doch bereits im Sommersemester 1920 wechselt er an die Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, wo er Deutsch und Griechisch im Hauptfach und Philosophie und Französisch im Nebenfach studiert. [2]

Mit seinem Wechsel nach Heidelberg beginnt Kommerell, sich auch langsam dem George-Kreis zu nähern; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Heidelberg ein zentraler Ort des geistigen Lebens, in dem es in der intellektuellen Atmosphäre zu Überschneidungen zwischen wissenschaftlichen und dichterischen Kreisen kommt. [3] So gibt es neben dem wissenschaftlich geprägten Kreis des Soziologen Max Weber auch den Dichterkreis um Stefan George. [4] Kommerell freundet sich mit Walter Elze an, der bereits ein Mitglied des George-Kreises ist. Elze ist Assistent des Marburger Historikers und Georgianers Friedrich Wolters, den Kommerell durch Elze kennen lernt. [5] Über Wolters, der ihm Stefan George vorstellt und ihn in den nächsten Jahren betreuen wird, schreibt Kommerell: „Wolters ist ein wahrer König und vater [sic!] der menschen [sic!].“ [6] Mit dem Eintritt in den George-Kreis muss sich Kommerell allerdings von alten Freunden, die keine Mitglieder sind, distanzieren, da die Abläufe innerhalb des George-Kreises streng geheim sind. Auch von seiner Jugendliebe Else Eichler muss er sich zurückziehen und schreibt ihr in einem Brief vom 21. September 1921: „Ich darf keine Worte der Leidenschaft zu dir mehr in den Mund nehmen und was ich nicht anders bannen kann, verschweige ich“. [7] Der Lyriker Stefan George versammelt um sich einen Kreis von Männer unterschiedlicher Generationen.[8] Die Tatsache, dass George innerhalb seines Kreises als „Meister“ und die Mitglieder als „Jünger“ bezeichnet werden, verstärkt den Eindruck, dass es sich bei dem George-Kreis weniger um einen Dichterkreis handelt als vielmehr um eine Sekte. Auch die von George reglementierte Lektüreauswahl [9] unterstützt diesen Eindruck. Kommerell steigt innerhalb des George-Kreises schnell auf und wird zu dessen Lieblingsjünger. [10] Im Jahr 1923 beginnt Kommerell mit der Arbeit an seiner Dissertation mit dem Titel „Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau“. [11] Bereits Anfang des Jahres 1924 reicht Kommerell seine Dissertation bei dem Marburger Germanisten Ernst Elster ein, welche noch im selben Jahr in Elsters Reihe „Beyträge zur deutschen Literaturwissenschaft“ als Band 23 veröffentlicht wird. [12] Sofort nach der Promotion beginnt Kommerell Vorbereitungen für seine Habilitation zu treffen. Dabei werden seine Bestrebungen durch Stefan George und seine Verbindungen zum akademischen Universitätsbetrieb großzügig unterstützt, auch wenn George Kommerell lieber als einen unabhängigen Dichter sehen würde. [13] So entsteht in der Zeit von Januar 1927 bis September 1928 Kommerells Studie „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin“. [14] Im Jahr 1929 veröffentlicht Kommerell sein Werk „Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt“, welches mit einer Auflage von 300 Stück erscheint. [15] Darüber hinaus arbeitet er in der Zeit zwischen 1927 und 1929 an den Vorbereitungen für seine Habilitation. [16] Dafür schreibt er zunächst eine Rezension über Versverwendung bei Klopstock. [17] Anschließend „folgen Diskussionen mit dem Schweizer Germanisten Andreas Heusler über das Verständnis der deutschen Tonkunst.“ [18] Daher beginnt Kommerell sich auch mit Heuslers „Deutscher Versgeschichte“ von 1927 auseinander zu setzen, die den früh- und neuhochdeutschen Vers behandelt. [19]

Stefan George verfolgt die wissenschaftlichen Arbeiten seines Lieblingsjüngers mit teilweise skeptischem Blick und rügt sein wissenschaftliches Engagement in einem Brief von 1929: „Daß sie mit solchem eifer in die altgermanischen bereiche steigen ist mir um die verwendung Ihrer kräfte fast leid aber ich denke Ihr geist wird aus jeder turnerischen übung heil hervorgehen.“ [20] Umso „konkreter [Kommerells] Pläne zur Habilitation werden, desto schneller vollzieht sich der Ablösungsprozeß von George“ [21], konstatiert Christian Weber in seiner Kommerell-Biographie. Um seinen Lieblingsjünger halten zu können, bietet Stefan George Kommerell einen Platz im Stiftungsrat in der von George selbst initiierten „Stiftung zur Fortführung des Werkes von Stefan George“ an. Doch „Kommerell, der schon mit dem George-Kreis abgeschlossen hat“, [22] lehnt ab, womit die Trennung zwischen Kommerell und seinem ehemaligen „Meister“ endgültig vollzogen wird. Mit seinem Brief vom 5. August 1930 an Stefan George zeigt Kommerell deutlich, wie sehr er sich von seinem Dichter-Kreis distanzieren möchte:

Lieber Meister: zu der verabredeten frist teile ich mit, daß ich die geäußerte bitte wiederhole: bei der einsetzung des stiftungsrates von mir abzusehn.

In Frankfurt wickelte sich alles richtig ab. Meine venia legendi lautet auf ‘Germanische Philologie‘ was nur durch eine größere arbeit zu erreichen war.

Helmut [Strebel] hat sein Halbjahr mit bedeutendem ergebnis beschlossen und bleibt noch einige Zeit in München. Hans hoffe ich in diesem Monat zu sehen.

Meine Antrittsvorlesung setzte ich auf 1. November 12 Uhr fest. Gegenstand: Hoffmannsthal.

Ich danke dem M.[eister] nocheinmal für die gütige Aufnahme in K.[önigstein im Taunus] und bitte zu grüßen, wer meiner gedenken mag. Meine Anschrift bleibt: Cannstatt.

 

5. August 30                      Herzlichst Maxim [23]

 

 

Christian Weber bezeichnet diesen in Telegramstil verfassten Brief als „radikale Abrechnung mit George, der rücksichtslos degradiert wird.“ [24] In seinem Tagebuch reflektiert Kommerell über die Gründe der Trennung:

„Das ganze Umeinander wie es sich herausgebildet hatte, beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühls, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich nennen kann. […] Ich war 28 Jahre alt und der Entschluß, von niemandem, sei er so groß er sei, meine Selbstachtung antasten zu lassen, wurde aller Hemmungen Herr.“ [25]

 

Manuel Raab

 

 



[1] Vgl. Christian Weber, Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie. Berlin, New York 2011, S. 31.

[2] Vgl. Karl-Gustav Gerold, In memoriam Max Kommerell. In: Alma Mater Philippina (SoSe 1972). S. 14-16, hier S. 14.

[3] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 49.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. ebd.

[6] Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944. Aus dem Nachlass hrsg. v. Inge Jens. Olten 1967. S. 105.

[7] Brief Kommerells an Else Eichler vom 21.09.1921. Zitiert nach Joachim Storck, Max Kommerell 1902-1944. Marbach 1985, S. 10.

[8] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 53.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. ebd. S. 54.

[11] Vgl. ebd.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. ebd. S. 55.

[14] Vgl. Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 6), S. 138.

[15] Vgl. Max Kommerell, Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt. Berlin 1929. Zitiert n. Weber (anm. 1), S. 57.

[16] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 58.

[17] vgl. Max Kommerell, [Rez. zu] G. C. L. Schuchard, Studien zur Verskunst des jungen Klopstock. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 46 (1927), S. 163-164.

[18] Weber (Anm. 1), S. 58.

[19] Vgl. ebd.

[20] Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 6), S. 161.

[21] Weber (Anm. 1). S. 59.

[22] Ebd., S. 60f.

[23] Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 6), S. 174.

[24] Weber (Anm. 1), S. 62.

[25] Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 6), S. 182.

[26] Weber (Anm. 1), S. 64.