Mergell und Frankreich – eine Liebes- und Lebensbeziehung

Bodo Mergells wissenschaftliche Publikationen haben zum Großteil die französisch-deutschen Literaturbeziehungen zum Gegenstand. Schon in seinen beiden Qualifikationsarbeiten beschäftigte er sich ausführlich – zu ausführlich, wie ein Gutachter meinte [1] – mit den französischen Quellen von Wolframs von Eschenbach ,Willehalm‘ und ,Parzival‘; insbesondere die Geschichte des Grals behandelte er in den folgenden Jahren mehrfach. Diese Vorliebe für die französische Kultur scheint sich aber nicht nur auf seine wissenschaftliche Arbeit beschränkt zu haben; noch im Sommersemester 1953 machte er eine für sein Arbeitsgebiet eigentlich fachfremde universitäre Exkursion zu den französischen Kathedralen, auf der er den Studierenden von seiner Leidenschaft für „La France éternelle“ Zeugnis gab.[2] Ob nun die Liebe zu Frankreich Grund war für die Wahl des Studiums der Germanistik und Romanistik und für ein frühes Auslandssemester in Montpellier, oder ob eher dort diese Liebe erst entstand, kann heute nicht mehr festgestellt werden; es versteht sich allerdings von selbst, daß es damit im nationalsozialistisch ausgerichteten Deutschland nach 1933 Probleme geben mußte, insbesondere dann, wenn man wie Mergell 1933 umgehend in die SA eingetreten war. Mergell half sich, indem er bei entsprechender Gelegenheit behauptete, er habe in Frankreich zur politischen und kulturellen Propaganda im deutschen Sinne gewirkt.[3]

Als besonderes Glück muß es deshalb Mergell empfunden haben, als er nach Kriegsausbruch zur Wehrmacht eingezogen und nach einjähriger Ausbildung zum Funker als Dolmetscher 1941 in das besetzte Paris abkommandiert wurde. Am 5. Mai des Jahres erhielt das Kuratorium der Universität Frankfurt von ihm eine Feldpostkarte, wo er in schwärmerischen Ton von seinem dortigen Einsatz berichtet: „Interessante Tätigkeit, günstige äußere Lebensbedingungen, ausreichend bemessene Freizeit – alles wirkt zusammen, daß ich mich hier in dem neuen Lebenskreis in Paris schnell einlebe.“ [4] Mergell hatte es also gut getroffen; wie er 1946 in einem Fragebogen für die anstehende Berufung nach Mainz schreibt, habe er zwischen 1941 und 1944 „mehrfach [...] vor den Soldaten der Wehrmacht“ Vorträge gehalten über Die Malerei des französischen Impressionismus und über Die Kathedralen Frankreichs.“ [5] Noch am 31. Juli 1944, also knapp zwei Wochen vor der Befreiung von Paris, referierte Mergell im Deutschen Historischen Institut Paris zu Parzival et le Graal. Wolfram von Eschenbach et l’épopée chevaleresque du moyen âge.[6]

Mergell wirkte so während seines ,Aufenthaltes‘ in Paris in beide Richtungen: im Rahmen der Mittwochsvorträge des Kommandanten von Groß-Paris, die neben dem Soldatendampfer Touriste II, dem Soldatenchor des Kommandanten von Gross-Paris und dem Referat Kunst und Kultur zu den ,Besonderen Einrichtungen des Kommandanten von Gross-Paris‘ gehörten, um die Soldaten zu unterhalten und die Moral der Truppe zu festigen (und wohl auch: um sie von den Versuchungen des Pariser Nachtlebens fernzuhalten [7]); hier konnte Mergell den deutschen Besatzern die Schönheiten der französischen Kultur nahebringen. Auf der anderen Seite suchte er den Kontakt zu den französischen Kollegen an der Sorbonne, um die schon bestehenden Beziehungen zwischen der damaligen deutschen und der französischen Germanistik zu pflegen und in Vorträgen über seine Arbeit zu berichten. Nach eigener Aussage hatte er dort auch enge Beziehungen zu Maurice Boucher aufgenommen,[8] der von 1935 bis 1957 am dortigen ,Institut d’Études Germaniques‘ tätig war, zuerst als Maitre de conférence, ab 1938 als Professor, 1942 bis 1944 auch als Leiter des Instituts.[9] Es ist nicht auszuschließen, daß Boucher diese letzte Stellung seiner Nähe zur Besatzungsmacht verdankte; schon 1936 und 1937 hatte er zwei Rundreisen nach Deutschland unternommen, um „garder le contact avec l’Allemagne nouvelle“,[10] seit 1940 gehörte er auch (als einziger Germanist, aber zusammen unter anderem mit dem Schriftsteller und Mitglied der faschistischen ,Parti populaire français‘ Drieu La Rochelle) einem vom ,Deutschen Institut zu Paris‘ eingerichteten Ausschuß an, der eine Liste von Werken der „neuen“ deutschen Literatur erstellen sollte, die jetzt bevorzugt und unterstützt etwa durch die Zuteilung von Druckpapier übersetzt und veröffentlicht werden sollte.[11]

Mergell hatte erneut Glück, als er kurz nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie und damit noch vor der Befreiung von Paris und dem Rückzug der deutschen Truppen am 15. Juni 1944 unverletzt aus der Wehrmacht entlassen wurde. Grund dafür war nach einem Bericht Mergells vom 7. Dezember 1944 „ein geheime[r] Führerbefehl[] zur Sicherung des Hochschullehrernachwuchses“, der es ihm erlaubte, zum Wintersemester 1944/45 wieder an die Universität Frankfurt zurückzukehren; die von Mergell genannten Einzelheiten lassen dabei den Eindruck entstehen, daß dieser ,Führerbefehl‘ ad personam zum Wohle Mergells alleine erlassen worden sei.[12] Tatsächlich handelte es sich wohl um den Führererlaß ,Sonderelbe Wissenschaft‘ vom 6. Mai 1944, der in Erweiterung eines vorherigen Erlasses ,Sonderelbe‘ vom 30. Mai 1941, in dem es darum ging, „Fachkräfte für wichtigste Sonderfertigung der Rüstungsindustrie“ sofort aus dem Heeresdienst abzuziehen und der Rüstungsindustrie zur Verfügung zu stellen,[13] auf Anregung des Reichssicherheitshauptamtes dies nun auch auf die Geisteswissenschaften ausdehnte, damit diese ihren Beitrag zur politischen Kriegsführung an der Heimatfront leisten konnten. Weder der Erlaß noch die Liste der freigestellten Personen ist erhalten;[14] profitiert haben aber bekanntermaßen Benno von Wiese, der bis 1943 eine außerordentliche Professur in Erlangen inne hatte und nach dem Krieg in Münster und Bonn zu einem der renommiertesten Neugermanisten  wurde, sowie Heinz Otto Burger, der 1944 auf die Nachfolge von Wieses nach Erlangen berufen wurde und seit 1961 Professor für Neuere deutsche Philologie in Frankfurt war.[15]

Da für die Freistellung vom Heeresdienst aufgrund dieses Erlasses von den jeweiligen Universitäten „nur Gelehrte ersten Ranges genannt“ werden durften,[16] und da etwa von Benno von Wiese bekannt ist, wie intensiv er sich bei seiner Universität, seiner Division und in der NSDAP um diese Freistellung bemühen mußte,[17] verwundert es sehr, daß auch Mergell, der zu dieser Zeit gerade seine Dozenturprobe abgelegt hatte und kaum außerhalb Frankfurts bekannt war, ebenfalls in den Genuß dieser Freistellung kam. Er muß jedenfalls, nach den anderen bekannten Fällen zu schließen, hohe Fürsprecher in der Partei, in der Wehrmacht und in der Wissenschaft gehabt haben, und vor allem: die entscheidenden Stellen mußten davon überzeugt sein, daß auch Mergell zuhause in Frankfurt als Geisteswissenschaftler Entscheidendes für die politische Kriegsführung zu leisten vermochte.

Nach dem Krieg mußte das natürlich alles anders aussehen. Wie sein renommierter Doktorvater Julius Schwietering, der weitgehend problemlos nach 1945 wieder seine Frankfurter Professur antreten konnte, aber anders als sein Habilitationsgutachter Hennig Brinkmann, der wegen seines nationalsozialistischen Engagements zuerst im Schuldienst unterkommen mußte, ehe er 1957 dann endlich einen Ruf nach Münster erhielt, wurde Mergell schon 1946 auf eine außerordentliche Professor der Germanistik an die neugegründete Universität Mainz berufen. Alles, was Mergell vor 1945 als Beweis für seine systemtreue Haltung vorgebracht hatte, wurde nun im Licht der neuen Zeit umgedeutet. Dies war vor allem seine Liebe zu Frankreich; anläßlich der Prüfung des Lehrkörpers im Jahre 1945 durch die Universität Frankfurt war es sein Lehrer Erhard Lommatzsch, der genau dies zur Entlastung vorbrachte: „Der geistigen Annäherung Frankreichs und Deutschlands im Sinne einer fruncht[sic]bringenden Verständigung der beiden Nachbarstaaten dienten auch seine späteren germanistischen und romanistischen Studien, hauptsächlich auf dem Gebiete der mittelalterlichen Literaturgeschichte, seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Wolfram und sein französischen Quellen sowie die Vorträge über Wechselbeziehung [sic] zwischen deutscher und französischer Musik, über impressionistische Malerei in Frankreich und über französische Kathedralen, die er teils als Student in Monpellier, teils später zur Truppenbetreuung der Wehrmacht gehalten hat.“ [18] Daß dies knapp vier Jahre zuvor von dem Dekan der philosophischen Fakultät, Hans Glunz, der sich als Anglist sicherlich auf das Urteil des Romanisten Lommatzsch gestützt hatte, noch ganz anders gesehen wurde, daß nämlich Mergell „die starke Unabhängigkeit des deutschen Epos von Chrétien de Troyes und der französischen Epik nach [weise]. Es scheint wichtig, dass in diesem Augenblick der stark bewegten Diskussion zwischen deutschen und französischen Gelehrten über den zeitlichen und künstlerischen Vorrang der Dichtung beider Länder ein so solid gearbeitetes Buch den deutschen Standpunkt stützt“,[19] interessierte jetzt niemanden mehr. Mergell konnte nun wieder unbeschwert an die Stätte seines Parisaufenthaltes von 1941 bis 1944 zurückkehren, wo er dann 1953 auf besagter Exkursion „vor jedem beleuchteten Monument kluge Hymnen“ ausstieß.[20]

Frank Fürbeth



[1] „Sie [sc. die Habilitationsschrift] hat eine übermäßige Breite, die den Zugang unnötig erschwert. Schuld daran ist einmal das Bestreben des Verf., die Dichtungen selbst im Wortlaut reden zu lassen.“ Gutachten von Hennig Brinkmann zur Habilitationsarbeit Mergells, 14. September 1939, S. 4 (Frankfurt a. M., Universitätsarchiv [UAF], Abt. 134, 367, Nr. 33).

[2] Kurt Flasch berichtet in seinen frühen Lebenserinnerungen über diese Exkursion, an der er als Gaststudent teilnahm. Zu einem Eklat kam es, als die Studierenden gegen den Willen Mergells nicht eine weitere Kathedrale besichtigen, sondern einen Abstecher an den Atlantik machen wollten. Kurt Flasch, Über die Brücke. Mainzer Kindheit 1930–1949. Mainz 2002 (Kleine Mainzer Bücherei 18), S. 127–129, hier S. 128.

[3] Vgl. den Beitrag zu → Mergell als Student.

[4] UAF, Abt. 134, 367, Nr. 76.

[5] Mainz, Universitätsarchiv [UAM], 64, S 15, Nr. 3, Anlage („Anhang zum Fragebogen von Dr. Bodo Mergell, Dozent an der Universität Frankfurt“, ohne Datum). Der Fragebogen wurde Mergell am 2. April 1946 zugesandt.

[6] Ebd.

[7] Vgl. dazu Alan Riding, And the Show went on. Cultural Life in Nazi-Occupied Paris. London, New York 2012.

[8] In der Begründung des Rektors der Universität Mainz vom 26. April 1946, gerade Mergell berufen zu wollen, heißt es, Mergell habe eine „gute romanist. Grundlage. Freundschaftliche Beziehungen zu M. Boucher v. d. Sorbonne u. a. Gute Arbeit, Wolfram von Eschenbach u. seine franz. Quellen. I. Teil. Wolframs Parzival II. Teil. Persönlicher Eindruck: lebendig, eifriger Vertreter seines Faches.“ (UAM, Best. 64, Nr. 7).

[9] Michel Espagne, Les germanistes de l’Ecole normale supérieure de 1935 à 1955. In: Patricia Oster u. Hans-Jürgen Lüsebrink (Hgg.), Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – Zur Dynamik eines ,transnationalen‘ kulturellen Feldes. Bielefeld 2008, S. 49–62.

[10] Boucher in einem Brief an den Institutsleiter, wo er um die Vermittlung von Kontakten für die geplante Reise 1937 bittet. Zit n. Michel Espagne u. Michael Werner (Hgg.), Histoire des études germaniques en France (1900–1970). Paris 1994, S. 259.

[11] Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1993, S. 221–239, zu Boucher S. 221.

[12] UAF, Abt. 4, 1506: Eigenhändiger Brief Mergells vom 7. Dezember 1944, in dem er über seine Entlassung berichtet. Danach sei dieser geheime Führerbefehl „auf Grund einer Vereinbarung zwischen Reichserziehungsministerium, Parteikanzlei, Reichsdozentenbund und Universität“ erfolgt; „er erging in Form einer Verfügung des OKW an meine frühere Einheit (Feldp.Nr 36065). Aktenzeichen laut Wehrpaßnotiz: Verfg. OKW/jk35 A.H.A Ag/E (Va) 860/41 geh. Nach einer Bestimmung dieses Führerbefehls hatte ich mich nach meiner Entlassung sofort im Reichserziehungsministerium in Berlin zu melden. Dort erklärte der zuständige Referent, Herr Prof. Hoffmann, den Sinn dieser unbefristeten Maßnahme als Freistellung zur Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses, angesichts der hohen Verluste von Nachwuchskräften gerade innerhalb der geisteswissenschaftlichen Fächer.“

[13] Ludwig Jäger, Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München 1998, S. 327, mit Anm. 272.

[14] Jäger (Anm. 13), S. 327, Anm. 273.

[15] Zu von Wieses und Burgers Begünstigung durch den Führererlaß ,Sonderelbe‘ vgl. Jäger (Anm. 13), S. 327.f.

[16] Jäger (Anm. 13), S. 328, Anm. 278.

[17] Jäger (Anm. 13), S. 328, Anm. 279.

[18]  E. Lommatzsch, Gutachten anläßlich der Prüfungen des Lehrkörpers durch die Philosophische Fakultät der Universität Frankfurt im Jahr 1945 (UAF, Abt. 134, 367, Nr. 9).

[19] Dringlichkeitsbescheinigung des Dekans der Philosophischen Fakultät, Hans Glunz, an die Wirtschaftsstelle des Deutschen Buchhandels wegen des Papierverbrauchs beim Druck der Habilitationsarbeit vom 4. September 1941 (UAF, Abt. 134, 367, Nr. 11).

[20] Flasch (Anm. 2), S. 127.