Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust… Wolfgang Liepe zwischen Theater und akademischer Laufbahn

„Für die reiche vielseitige Begabung und die von inneren Spannungen erfüllte Natur Wolfgang Liepes war charakteristisch, daß es ihn schon früh zum Theater hinzog und die Bühne ihm zeitweilig verlockender erscheinen konnte als die wissenschaftliche Laufbahn des Gelehrten. Als er 1913 bei Aufführungen klassischer Dramen am Goethe-Theater in Bad Lauchstädt mitwirkte, kam es für kurze Zeit zu einer inneren Krise in der Frage, ob er sich für den Beruf des Dramaturgen und Schauspielers oder den des Literaturhistorikers entscheiden sollte“. [1] Die  Liebe Liepes zum Theater spiegelte sich auch in seinem weiteren Lebensweg wider und es kristallisierte sich recht schnell heraus, dass, auch wenn die Wahl letztendlich auf die akademische Karriere fiel, er nicht gänzlich aus dem „Rampenlicht“ treten musste.  So wirkte er neben seiner Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Universität in Halle a. d. Saale von 1919 bis 1928 am städtischen Theater als Dramaturg (Inszenierungen von Goethe, Hölderlin, Büchner, Hauptmann, Barlach, Kaiser). In dieser Eigenschaft setzte er sich zum Ziel, „nach der Revolution von 1918 in Deutschland einen gemeinsamen geistigen Raum zu schaffen“. [2] Bei der Verwirklichung dieser Maßgabe spielten Volkshochschulen und Volksbühnen für Liepe eine große Rolle; und so wurde er Mitbegründer der Volksbühne in Halle, welche bald über 20000 Mitglieder zählte.

1928 wurde Liepe als außerordentlicher Professor mit den Rechten eines persönlichen Ordinarius für Deutsche Literaturgeschichte mit besonderem Schwerpunkt der Theaterwissenschaft  an die Universität Kiel berufen, womit er Direktor des dortigen Literaturwissenschaftlichen Instituts wurde und in Personalunion auch das dortige Theatermuseum und das Hebbelmuseum leitete. Neben dem Ausbau der Sammlungen des Instituts und des Hebbelmuseums betrieb Liepe auch die Vermehrung der Exponate des Theatermuseums. Hierzu zählten „plastische Modelle von Inszenierungen des zeitgenössischen Theaters“, „orientalische Schattenspielfiguren“ und eine Vielzahl von „Schallplatten, auf denen Liepe die Sprechkunst des deutschen Theaters von den Meiningern über den Expressionismus bis hin zur neuen Sachlichkeit in Aufnahmen hervorragender Schauspieler und Rezitatoren festhielt“. [3] Regelmäßig gab es Tee-Abende mit Ausstellungen und Theaterdarbietungen von Studenten. Aus dem Institut wurden Aufführungen des ,theatrum academicum‘ als direkte Rundfunksendungen gesendet, und noch 1933 wurden  ein chinesisches Schauspiel und Goethes ,Satyros‘ übertragen. Bei beiden studentischen Aufführungen hatte Liepe Regie geführt.

 

Zwangsversetzung nach Frankfurt

 

Liepes Versetzung nach Frankfurt ging ein Konflikt mit einem Kollegen aus dem Germanistischen Seminar in Kiel, Professor Brüggemann, im März 1933 voraus. Liepe hatte Brüggemann im Verdacht, gegen ihn aus einem Gefühl der Zurücksetzung heraus zu intrigieren und zu verbreiten, dass die Studierenden Liepes Veranstaltungen aus „rassischen und nationalen Gründen“ mieden. In der Tat wurde Liepe auch von den Studenten angegriffen. Er wurde beschuldigt, „er wäre ein ‚Rasseschänder‘, da er mit seiner jüdischen Frau ‚deutsch-jüdische Bastarde‘ in die Welt gesetzt habe“. [4] In dieser Angelegenheit wurde auf Betreiben Liepes im Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Brüggemann eingeleitet, welches jedoch seine Vorwürfe als haltlos zurückwies und als Konsequenz nun ein Ermittlungsverfahren des Universitätsrats gegen Liepe nach sich zog. Das Ergebnis war die Einstufung Liepes als „politisch unzuverlässig“ und es wurde „gegen ihn der Vorwurf erhoben, er habe sich über die Wertung des Begriffs Rasse lustig gemacht“. Auszugehen ist davon, dass der Aufruf Liepes zur Wahl eines DVP-Kandidaten vor der ,Machtergreifung‘ tatsächlich ursächlich für die Beurteilung als politisch unzuverlässig war.

Tatsächlich war Liepe bereits im April vorläufig beurlaubt und damit von seinen amtlichen Pflichten entbunden worden. Dies wurde damit begründet, dass  er weder „rein-arisch“ sei noch im ersten Weltkrieg gedient habe. Im September wurde Liepe vom Reichsinnenministerium schließlich nicht mehr als jüdisch, jedoch aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin als  „jüdisch versippt“ eingestuft. Da dies zu dieser Zeit noch nicht, wie später durch die Nürnberger Rassegesetze verfügt, sanktionierbar war, man Liepe jedoch dennoch von seinem Lehrstuhl entfernen wollte, wurde der Beschluss gefasst, ihn nach § 5 Berufsbeamtengesetz an eine andere Universität (zwangs)zuversetzen.  Warum es sich dabei um die Universität Frankfurt handelte, kann nicht mit eindeutiger Sicherheit gesagt werden. Korrespondenzen mit Angehörigen der Universität deuten jedoch daraufhin, dass die Frankfurter Universität geschlossen werden sollte und deshalb eine Vielzahl jüdischer Professoren dorthin versetzt wurde. [5] 1936 wurde ihm in einem Schreiben des Reichserziehungsministeriums mitgeteilt, dass er zum 1. März 1936 zurück nach Kiel versetzt werde. Gleichzeitig wurde er, angeblich nach eigenen Antrag, „mit Wirkung vom 1.April 1936 unter gleichzeitiger Erteilung eines Forschungsauftrags von den amtlichen Pflichten entbunden“.

Eine mögliche Erklärung für die Rückversetzung nach Kiel ließe sich darin finden, dass man universitätsseitig aus der Befürchtung heraus, dass die Frankfurter Universität aufgrund der hohen Anzahl „nicht-arischer Mitarbeiter“ geschlossen werde, versuchte, die Professoren dazu zu bringen, sich entpflichten zu lassen. Durch diese Politik wären jedoch hohe Kosten durch die Emeritibezüge auf die Universität Frankfurt zugekommen, der sie durch Rückversetzungen zu entgehen versuchte.

 

Exil in den USA

 

Nach seiner Rückversetzung nach Kiel hatte Liepe, von der Lehre entbunden,  weiterhin seinen Wohnsitz in Frankfurt am Main und widmete sich einem Forschungsprojekt zu „Jean Jaques Rousseau im deutschen Geistesleben“. 1939, noch vor Kriegsbeginn, wurde Liepe, der bereits von 1929 bis 1930 als erster deutscher Visiting Professor nach dem ersten Weltkrieg an der Harvard-Universität gelehrt und dies mit einer Vortragsreise an mehrere Universitäten der Vereinigten Staaten verbunden hatte,  von der Carl-Schurz-Gesellschaft zu einer erneuten Vortragsreise in die USA eingeladen. Liepe kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern konnte mit Unterstützung des ,Ermergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars‘ eine Stelle am Yankton College in South-Dakota erhalten, [6] wo er deutsche Sprache und Literatur unterrichtete. [7] Es gelang ihm, seine Frau und Kinder nachreisen zu lassen, was in „letzter Stunde […] die Rettung und Zuflucht vor Verfolgung bedeutete“. [8] Seine in Frankfurt zurückgelassenen Besitztümer wurden von der NS-Regierung versteigert oder fielen wie das Rousseau-Manuskript den Bomben zum Opfer.  Während der ersten  Zeit in den USA beschäftigte er sich intensiv mit pietistischen Kirchengesangsbüchern von über Russland eingewanderten Schwaben.

Obwohl Liepe 1946 von Ernst Beutler für die Nachfolge Kommerells in Marburg vorgeschlagen worden war, [9] berief das Ministerium für Kultus und Unterricht in Wiesbaden Liepe nicht. So folgte er 1947 einem Ruf als Associate Professor of German an die Universität Chicago. Dortige Schüler berichten von einem sehr engagierten Unterricht Liepes, der unter anderem in seiner Privatwohnung dramatische Lesungen veranstaltete. [10]  Hier widmete er sich auch der Mitarbeit an ,German Books‘, einem Organ des Kreises deutscher Wissenschaftler, das erste geistige Brücken zwischen den in den USA lebenden Gelehrten und ihrer deutschen Heimat schlug.

 

Rückkehr nach Deutschland

 

Im Rahmen einer Forschungsreise kehrte Liepe 1952 erstmals nach dem Krieg wieder an seine ehemaligen Wirkungsstätten in Deutschland zurück. Nachdem er auf eigenen Wunsch als Emeritus wieder in das Vorlesungsverzeichnis der Universität Kiel aufgenommen werden war, hielt er dort und an der Freien Universität Berlin Gastvorlesungen. Auf der Germanistentagung in Münster stellte er  vor einem großen Fachpublikum die Ergebnisse seiner neuesten Hebbel-Forschung vor. Im Christian-Albrecht-Haus in Kiel versammelten sich ihm zu Ehren über fünfzig seiner ehemaligen Schüler und feierten seine Rückkehr.

Während seines Aufenthalts in Kiel stellte er einen Antrag auf Wiedergutmachung, dem stattgegeben wurde. Das Land Schleswig-Holstein  wurde verpflichtet, ihn als ordentlichen Professor wieder einzustellen oder ihn auf eigenen Wunsch zu emeritieren. Als das Kieler Ordinariat für neuere deutsche Literaturgeschichte  1953  erneut zu besetzen war, wurde Liepe auf seinen alten Lehrstuhl berufen. Ebenfalls nahm Liepe, der ohne Groll und Bitterkeit auf die Vergangenheit zurückblickte,  im geistig-kulturellen Leben des Landes Schleswig-Holstein sowie seiner Heimatstadt noch einmal eine bedeutende Rolle ein: Von 1954 bis 1959 übernahm er den Vorsitz der Hebbel-Gesellschaft, war zudem Mitglied des Kieler Kultursenats und Leiter der Kieler Goethe-Gesellschaft.  1960, zwei Jahre nach seiner Emeritierung, wurde er für seine Verdienste mit dem Kulturpreis der Stadt Kiel ausgezeichnet.

 

Janica Kuhr



[1] Friedrich Wilhelm Wodtke, Wolfgang Liepe (1888–1962). Zum 75. Geburtstag am 27. August 1963. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 4, 1963, S. 233–242, hier S. 234.

[2] Ebd., S. 235.

[3] Ebd., S. 236.

[4] Das Folgende nach Ralph Uhlig, Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933. Zur Geschichte der CAU im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation (Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte, 2). Frankfurt am Main [u. a.] 1991, S. 29–32.

[5] Zu der Gefahr der Schließung der Frankfurter Universität durch die neuen Machthaber vgl. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. I. 1914 bis 1950. Frankfurt a. M., S. 283–305.

[6] Stephen Duggan u. Betty Drury (Hgg.), The Rescue of Science and Learning. The Story of the Ermergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars. New York 1948, S. 206. Liepe wird hier als einer von 288 Exilanten genannt, die von dem Comittee unterstützt wurden.

[7] Robert B. August, der im Sommer 1943 an Liepes Deutschkurs in Yankton teilnahm, bei dem nur ein weiterer Teilnehmer eingeschrieben war, schildert Liepe als „sparkling, animated personality“. R.B.A. and the Navy. 1942 – 1946. Typoskript o. O. u. J., S. 4 (web.ccsu.edu/.../Robert_August_Memoir_of_naval_career.pdf).

[8] Wodtke (Anm. 1), S. 238.

[9] Waltraud Strickhausen, „Der Wunsch nach Deutschland zurückzukehren ehrt ihn“. Der Exilgermanist Werner Milch und die Marburger „Neuere Deutsche Literatur“ nach 1945. In: Kai Köhler, Burghhard Dedner u. Waltraud Strickhausen (Hgg.), Germanistik und Kunstwissenschaften im „Dritten Reich“. Marburger Entwicklungen 1920–1950. München 2005, S. 435–468, hier S. 452.

[10] Herbert Lederer, Mein kulturelles Erbe ist Wien. In: Lebenswege und Lektüren. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Hrsg. v. Beatrix Müller-Kampel. Tübingen 2000, S. 119–143, hier S. 130f.