Max Kommerell an der Frankfurter Universität

Im Jahr 1924 wird Max Kommerell mit seiner Dissertation „Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau“ an der Marburger Universität promoviert. [1] Sofort nach erfolgreicher Promotion beginnt Kommerell mit den Vorbereitungen für seine Habilitation, für deren Anfertigung er sich die Universität Frankfurt ausgesucht hat. „Seit 1929 nimmt das Thema von Kommerells Habilitationsschrift Kontur an.“ [2] Obwohl Kommerell während seiner akademischen Laufbahn hauptsächlich im Bereich der neueren deutschen Literatur tätig war, beschäftigt er sich in seiner Habilitation mit einem Thema aus der älteren deutschen Literatur. Das Thema seiner Habilitation lautet: „Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes“, [3] in ihr behandelt er den althochdeutschen Stabreim. Die Arbeit ist in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil behandelt Kommerell „Das Hildebrandtslied und seine außerdeutschen Verwandten“. Im zweiten Abschnitt befasst sich Kommerell mit dem „Hildebrandtslied und dem Muspilli“. Das Ziel seiner Habilitationsschrift ist es, überholte Positionen in Frage zu stellen, was er folgendermaßen erklärt:

"Zu der Masse des schon Geleisteten will diese Arbeit nur ein ergänzender Beitrag sein. Eine vollständige Verslehre aufzubauen, liegt außerhalb der Absicht und Möglichkeit des Verfassers. Um vorhandene Lehrbücher zu widerlegen, bedürfe es eines eigenen neuen Lehrbuchs – um sie zu bestätigen, nicht einmal dieser Arbeit. Aber für die alten Fragen, wo es angeht, einen neuen Angriffspunkt zu finden, dies versucht sie. Wenn sie hier eine Lücke ausfüllen, dort weitere auszufüllen Anlaß gibt und die Meinung erschüttert, alles Tunliche sei getan, ist es ihr genug. Alle hier beizuziehenden Forschungen zu nennen, ist überflüssig. Was sich auf den deutschen Kreis, besonders das Hildebrandtslied, bezieht, steht in Braunes Lesebuch verzeichnet." [4]

Zu Beginn seiner Habilitationsschrift bezieht sich Kommerell auf die Einhaltung von Regeln in der Kunst.

"[S]o freizügig wie diese ‘Regeln‘ begriffen werden müssen: nicht als bewußte Vorschrift, sondern als das, was der Dichter der höheren Gattung von selbst in den Fingern hat. Nicht auf Regeln, sondern auf die Wertfrage geht diese Arbeit los. Der vorzügliche wie der geringere Stabvers beruht auf der Einhaltung von Regeln. Was aber jenseits dieser Regeln den Vers des Hildebrandslied über den des Muspilli, den Merkvers im Widsid über seine Umgebung stellt, soll hier erfragt werden: Grade des Stils und des Künstlertums." [5]

Im weiteren Verlauf bezieht sich Kommerell auch auf Heinrich von Kleist, womit er weit über die Grenzen der eigentlichen Thematik hinaus geht. [6]

"Kleist’s Prosa ist so sachhaltig daß verhältnismäßig wenig einzelne Worte, verhältnismäßig wenig Wendungen fortzulassen waren und so hervorragend hauptwörtlich, das[s] ein Kernpunkt: die Substantivierung des Ausdrucks durch den Stabvers an ihr nicht gezeigt werden kann. Ebenso bot zur Darstellung der Variation der enge Anschluß an den Text kaum Gelegenheit. Würden wir die Stelle ‘das Antlitz rasch seinem Gegner wieder zuwendend‘ etwa so umschreiben: ‘der Wunde, sich wendend er wieder an‘ so bekämen wir ein Beispiel des zur Staberzielung wieder aufgenommenen Subjekts. Schon in dieser ereignisreichen Darstellung fanden wir zu geistige Ausdrücke, die umzugestalten waren. Noch viel mehr bei dem was sonst ein heutiger Mensch dichterisch auszudrücken hat – es sei denn, er wäre von einem seltenen Tatgeist erfüllt!" [7]

Christian Weber betont in seiner Biographie, dass "[d]ie Untersuchung des wissenschaftlichen Stils von Dissertation und Habilitationsschrift […] ergeben [hat] daß sich Kommerell sehr detailliert mit dem Forschungsstand auseinandersetzten kann, wenn er es für nötig hält. Er setzt seine Forschungskritik ein, um sich gegen ein positivistisches Faktenwissen auszusprechen. Im Gegensatz dazu fordert er die Berücksichtigung der Sprache und des ästhetischen Wertes der Literatur." [8]

Am 8. Mai 1930 reicht Kommerell seine Habilitation ein. [9] Obwohl seine Habilitation zwar vordergründig von den Frankfurter Germanisten Walter F. Otto und Karl Reinhardt begleitet wird, agieren im Hintergrund Hans Naumann und Franz Schulz als Kommerells Gutachter und Betreuer. [10] Für sein im Habilitationsverfahren erforderliches Kolloquium macht Kommerell drei Vorschläge:

"1. Goethisches und Jean Paulisches bei Stifter, 2. Gesellschaftstypen in Grimmelshausens Simplicissimus, 3. Hofmannsthal. Für den Öffentlichen Vortrag käme einer der nicht gewählten Gegenstände in Betracht. Zu lesen denke, ich zweistündig über Jean Paul. Übungen denke ich abzuhalten, über Herder ebenfalls 2 stündig." [11]

Am 7. Juli 1930 berichtet Walter Otto an Kommerell in einem Brief, dass seine Habilitation angenommen wurde.

"Auch heute schreibe ich ziemlich abgehetzt, nach endloser Fakultätssitzung, aus der ich Ihnen aber doch – und heute - berichten muß, daß die Fakultät Ihre Arbeit angenommen hat und Sie bittet, zu den letzten Habilitationsleistungen in der nächsten Woche zu kommen. Sie erhalten noch eine offizielle Mitteilung. Aber ich wollte daß Sie das Entscheidende gleich erführen und daß Sie es persönlich von mir zu hören bekämen." [12]

Durch Kommerells Freundschaft mit Walter Otto, der zu jener Zeit Dekan der Fakultät war, wird Kommerells Habilitationsverfahren enorm begünstigt, sodass er bereits am 14. Juli 1930 die „venia legendi für das Gesamtgebiet der deutschen Sprach- und Schriftengeschichte unter Bevorzugung des neuhochdeutschen Schrifttums“ verliehen bekommt. [13] Die Habilitationsgutachten werden von den Frankfurter Germanisten Franz Schulz und Hans Naumann verfasst, in dem Kommerells Arbeit als „eine sehr beachtenswerte, mit größtem metrischen Feingefühl durchgeführte Leistung“ bezeichnet wird. [14] Nach seiner Habilitation im Juli 1930 hält Kommerell am 1. November 1930 an der Frankfurter Universität seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede“. Dabei geht Kommerell auch auf das ambivalente Verhältnis zwischen Hofmannsthal und George ein. [15] Allerdings bleibt Kommerells Habilitation ungedruckt, was für ihn zunächst ein Hindernis für seine wissenschaftliche Karriere darstellt. [16] So muss Kommerell einige Anstrengungen in Kauf nehmen, um die daraus resultierende mangelnde Reputation wett zu machen. Demzufolge veröffentlicht er im Jahr 1936 einen Aufsatz mit dem Titel „Bemerkungen zum Stabvers“, bei dem er aus seiner Habilitation schöpfen konnte. [17] Darüber hinaus publiziert Kommerell im Jahr 1933 eine Studie über Jean Paul, welche nach Christian Webers Ansicht als Ersatzleistung für seine unveröffentlichte Habilitation zu werten ist. [18] Überall in der wissenschaftlichen Fachwelt wird sein Werk über Jean Paul gelobt. Entsprechend betont der Bonner Germanist Hans Naumann, dass Kommerells „Jean-Paul-Buch […] einst der ganz großen Literatur“ [19] angehören wird.

Bis zu seiner Berufung nach Marburg im Jahr 1941 bleibt Kommerell an der Universität in Frankfurt am Main und hält dort literaturwissenschaftliche Lehrveranstaltungen mit den Schwerpunkten Barock, Klassik und Romantik. Nur einmal, im Sommersemester 1938, kommt er noch einmal zu dem Gegenstand seiner Habilitationsarbeit zurück: mit einem Seminar „Metrische Analyse der althochdeutschen Stabdichtung". [20]

 

Manuel Raab

 

[1] Vgl. Christian Weber, Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie. Berlin, New York 2011, S. 54.

[2] Ebd. S. 57.

[3] Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes. S. 1. Die Arbeit wurde nicht gedruckt. Das einzige Exemplar befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Vgl. dazu jetzt Ulrich Wyss, Habilitation in Frankfurt (1930): Max Kommerell. In: Frank Estelmann u. Bernd Zegowitz (Hgg.), Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main 1914–1945 (Schriften des Frankfurter Universitätsarchivs 7). Göttingen 2017, S. 111–120.

[4] Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes, S. 1. Zitiert nach Weber (Anm. 1), S. 70.

[5] Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes, S. IIf. Zitiert nach Weber (Anm. 1), S. 71.

[6] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 71.

[7] Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes, S. 167. Zitert nach Weber (Anm. 1), S. 71f.

[8] Weber (Anm. 1), S. 72.

[9] Vgl. Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944. Aus dem Nachlass hrsg. v. Inge Jens. Olten 1967, S. 183.

[10] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 339f.

[11] Frankfurt, Universitätsarchiv, Personalakte Kommerell, Bl. 68.

[12] Walter F. Otto an Kommerell vom 07.07.1930. Zitiert nach Weber (Anm. 1), S.

[13] Frankfurt, Universitätsarchiv, Personalakte Kommerell, Bl. 72.

[14] Das gesamte Gutachten zitiert bei Rainer Kolk, Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945. Tübingen 1968, S. 613-615.

[15] Vgl. Weber (Anm. 1), S. 135.

[16] Vgl. ebd. S. 70.

[17] Vgl. ebd.

[18] Ebd., S. 70.

[19] Zit. nach Kolk (Anm. 14), S. 644.

[20] Universität Frankfurt, Vorlesungsverzeichnis des Sommersemesters 1938.