Das Germanische in der deutschen Dichtung des Mittelalters

Neben Untersuchungen zum Heliand sowie Aufsätzen zur „Neueren Literatur zum altgermanisch-nordischen Kreis“ veröffentlicht Wolff in den 1940er Jahren zwei Aufsätze, in denen versucht wird, den Minnesang bzw. Texte von Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue auf einen germanischen Volksgeist hin zu untersuchen, der an ihnen erkennbar sei und sie geprägt haben soll.

Eine Beschreibung des germanischen Volksgeistes und seiner Wirkung findet sich bereits in dem 1928 erschienen Text „Die Helden der Völkerwanderungszeit“, den die Philosophische Fakultät der Universität Marburg 1936 dem Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gegenüber als „eine im besten Sinne populäre“ [1] Darstellung beschreibt. In der Einleitung des Textes geht Ludwig Wolff von einer gemeinsamen „geistigen Eigenart“ der Germanen aus. Diese sei eine unsichtbare Größe im Inneren, „der doch alle Glieder in geheimnisvoller Weise die besten Kräfte ihres Lebens danken.“ [2]

Diese geistige Wesensart zeige sich nicht im Alltäglichen, sondern in Taten, die dem „Geist der Nation“ entspringen und zu denen sich die Gesamtheit bekennt. [3] Die großen Taten von Germanen und Fremdstämmigen haben ihre unvergängliche Bedeutung Wolff zufolge aber erst aufgrund der Deutung und Gestaltung von germanischen Dichtern erhalten. Trotz der starken Neu- und Umformung der Heldenlieder sei in ihnen das „Wesen des Germanentums“ erkennbar. [4] In der Zeit der Völkerwanderung seien darüber hinaus Vorbilder und Führer entstanden, die „noch späten Zeiten den Mut zu freier, stolzer Haltung stärken sollten.“ [5]

1941 erscheint Ludwig Wolffs Aufsatz „Minnesang und Spruchdichtung“, in dem teilweise von ihm betreuten Sammelband „Von Deutscher Art in Sprache und Dichtung“. Die Einleitung des Sammelbands betont den Nutzen der Literatur- und Geisteswissenschaften, die am Krieg teilnehmen, indem sie „geistig durchdringen, was das Schwert erobert hat.“ [6] Dafür sei es essentiell, dass die germanistische Wissenschaft aufzeigt, was deutsche Art ist, denn „der totale Krieg, wie wir ihn erleben, ist nicht nur eine militärische, sondern zugleich auch eine geistig-kulturelle Auseinandersetzung größten Maßes.“ [7]

In seinem Aufsatz versucht Wolff den Minnesang nicht auf die Qualität der französischen Vorbilder zu beziehen, sondern stattdessen einen geistigen Kern auszumachen, der von den Germanen stammt. Denn durch „ihren Blick auf die sittliche Größe der Persönlichkeit und das Vorstoßen zum geistigen Kern [waren die Germanen] vielleicht vor allen Völkern zu echter Lyrik bestimmt.“ [8] In den Liedern des Kürenbergers beispielsweise gehe es um eine Geistigkeit, die aus der „vollen Tiefe des Lebens“ [9] aufsteigt und das Äußere zum durchscheinenden Zeichen werden lässt. [10] So seien – wie in der germanischen Dichtung – nicht die äußeren Anzeichen an sich von Interesse, sondern deren „Spiegelung im Seelischen“. [11] Die Darstellung des Adels bei Wolfram als „strahlende Klarheit“ [12] sieht Wolff wiederum als eine Fortsetzung des Leuchtens der Schönheit in den Edda-Liedern oder im Heliand. [13]

Auch an Stellen, an denen Wolff auf die romanischen Vorbilder verweist, gibt er dennoch an, dass diese Einflüsse erst aus den „deutschen Eigenzügen“ ihre volle Kraft erhalten haben. [14] Im Gegensatz zu den französischen Dichtern, die hauptsächlich die äußere Erscheinung in all ihren Facetten schildern, gebe bei Morungen „das Geistige, wie es die Seele erfüllt, den alleinberechtigten Inhalt seines Dichtens.“ [15] Die Geliebte werde nicht nur äußerlich beschrieben, sondern die Erscheinung immer in ihrer Bedeutung für das Erleben des Betrachters geschildert. [16] Dies scheint für Wolff die Überlegenheit der deutschen Dichtung auszumachen.

Auch in dem Aufsatz „Rittertum und Germanentum“ (1942) wird immer wieder eine Verbindung zwischen Deutschtum – wie es in Texten Hartmanns und Wolframs geschildert werde – und Germanentum hergestellt. Tugenden wie Tapferkeit, Selbstbeherrschung und Unbeugsamkeit werden als Eigenschaften geschildert, die vom germanischen Helden stammen. [17] „Diese Selbstbeherrschung [...] ist etwas, wodurch der Germane sich charakteristisch von südlichem Menschentum abhebt.“ [18] Die ritterliche Sittenlehre sei zwar stark von Cicero und anderen antiken Schriftstellern beeinflusst, aber „auch die Griechen und Römer sind ja einst aus der Welt des Nordens gekommen.“ [19] Trotz der Einflüsse aus anderen Kulturen, die der Deutsche sich zu eigen gemacht habe, seien immer noch die germanischen Wurzeln erkennbar. Diese „lebendige[n] Kräfte“ seien wichtiger als die literarischen Einflüsse, denn „die entscheidenden Kräfte kommen aus dem Innersten germanischer Lebensformung.“ [20]

Daran schließen sich mehrere Beispiele von Tugenden Parzivals oder des Ritters im Allgemeinen an, die dann auf germanische Heldenlieder oder Sagen bezogen werden. Milte und Gastfreundschaft beispielsweise seien beides Tugenden, die so auch schon in nordischen Sagen zu finden seien, und die treue Liebe, die Parzival zu seiner Frau empfindet, sei ganz anders als die wilde Leidenschaft der romanischen Vorlage. [21]

Wie in seinem 1941 erschienenen Aufsatz „Minnesang und Spruchdichtung“ betont Wolff auch hier die vermeintlich größere Bedeutung des Inneren bzw. Seelischen in der deutschen Dichtung. Bezeichnend für die deutsche Auseinandersetzung mit den romanischen Quellen scheint Wolff zufolge, dass die Äußerlichkeiten in den Hintergrund treten und die Texte stärker ins Ethisch-Seelische streben. [22] Wolfram schildere nicht nur „die Kette von Abenteuern, die er vorgefunden hat“ [23], sondern entwerfe eine „innere Geschichte Parzivals.“ [24] Die Wendung zum Innersten und zur „Vergeistigung“ bis hin zur ethischen Grundfrage des Textes betrachtet Wolff als charakteristisch für das Germanisch-Deutsche im Parzival.

Im Gegensatz zur romanischen Dichtung, die häufig einen Aspekt vollständig ausgestalte, wende sich die deutsche Dichtung dem Ganzen als Einheit zu. [25] Wenngleich Wolfram einer Idealwelt zustrebe, so vereine er doch diese Welt mit menschlicher Unvollkommenheit. Seine Figuren können unvollkommen oder unreif sein und trotzdem das Höchste erreichen. Sein „Glaube an die Welt trotz aller Not“ sei bezeichnend für Wolframs germanischen Geist. [26]

 

Kerstin Kümmerlin

 

 


[1] Marburg, Universitätsarchiv [UAMar], Best. 305a Nr. 4449: Philosophische Fakultät der Uni Marburg an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 13. Juni 1936.

[2] Ludwig Wolff, Die Helden der Völkerwanderungszeit. Jena 1928, S. 1.

[3] Vgl. ebd., S. 1

[4] Vgl. ebd., S. 2.

[5] Ebd.

[6] Franz Koch, Vorwort. In: Gerhard Fricke (Hg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Band 1. Stuttgart und Berlin 1941, S. V.

[7] Vgl. ebd.

[8] Ludwig Wolff, Minnesang und Spruchdichtung. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Band 2. Stuttgart und Berlin 1941, S. 248.

[9] Ebd., S. 251.

[10] Ebd.

[11] Vgl. ebd., S. 252.

[12] Ebd.

[13] Vgl. ebd.

[14] Vgl. ebd., S. 255.

[15] Ebd., S. 264f.

[16] Vgl. ebd., S. 265.

[17] Vgl. Ludwig Wolff, Rittertum und Germanentum. In: Friedrich Müller (Hg.): Mannestum und Heldenideal. Fünf Vorträge. Marburg 1942, S. 64.

[18] Ebd., S. 66.

[19] Ebd., S. 60.

[20] Ebd., S. 60.

[21] Vgl. ebd., 72f.

[22] Vgl. ebd., S. 70.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Vgl. ebd., S. 77f.

[26] Vgl. ebd., S. 78.